Kein Abstand, nirgends

von Esther Boldt

Frankfurt am Main, 5. August 2020. Ich strecke meinen Zeigefinger in die Luft. Betrachte ihn ganz aus der Nähe. Balle die Hand zur Faust und öffne sie wieder. Ich presse mir Kissen auf die Ohren und lausche dem Geräusch des Nichts. Dem Rauschen in meinem Kopf. Dem Klang meines Atems.

Das eigene Wohnzimmer als Bühne

Mit zahlreichen Video- und Online-Projekten sind die Theaterschaffenden in den letzten Wochen und Monaten in die heimischen Wohnzimmer gezogen. Jetzt wird der Privatraum gänzlich zur Bühne – und die Zuschauerin zur Performerin und Rezipientin in einer Person.

In der Reihe "Perform at Home" hatte vor kurzem das Festival Theaterformen schon das Publikum zu Performer*innen erklärt. Nun folgt das Projekt "1000 Scores. Pieces for Here, Now & Later" von Helgard Haug (Mitgründerin des Regiekollektivs Rimini Protokoll), David Helbich und Cornelius Puschke. Scores, das sind knappe Skripte oder Handlungsanweisungen, die in Form von Texten, Skizzen oder Bildern von einer Künstlerin oder einem Künstler für eine*n Performer*in geschrieben werden.

1000 scores huelcker uErfahrungsräume aus Text-Partituren: Neo Hülckers "Mute" im Rahmen von "1000 Scores" © Neo Hülcker

Das Prinzip, vor über hundert Jahren von den Avantgardist:innen der Fluxusbewegung, aber auch Marcel Duchamp und später John Cage aus der Musik entlehnt (Score = engl. Notenblatt, Partitur), findet sich heute in der künstlerischen Praxis beispielsweise der Performerin und Choreografin Antonia Baehr wieder, die ihre Freund*innen regelmäßig bittet, Scores für sie zu schreiben, die sie dann auf der Bühne performt – wie beispielsweise in "Lachen" oder Abecedarium Bestiarium.

Für Haug, Helbich und Puschke ist der neue "Online Performance Space" eine Möglichkeit, die seit den Maßnahmen zur Einschränkung des Corona-Virus vorhandene Distanz zum Publikum zu überbrücken: Die Scores dienen als "disziplinenübergreifende künstlerische Praxis, um Menschen aus ihrer Isolation heraus mit ihrer Umgebung zu verbinden", heißt es auf der Website. Hierfür geben die Macher*innen Performance-Partituren bei anderen Künstler*innen in Auftrag, die sukzessive publiziert werden. Bislang sind es zehn.

Die Umgebung wird stumm

So bietet "MUTE" des Komponisten und Performers Neo Hülcker verschiedene Anleitungen, Umgebungsgeräusche auszublenden und in die eigenen Gehörgänge abzutauchen. Hülcker weist mich an, durch eine leere Klopapierrolle auf ein Stück Himmel zu schauen und mir vorzustellen, es gäbe keine Geräusche auf der Welt. Oder er fordert mich auf, Kissen auf meine Ohren zu pressen und zu prüfen, was ich dann höre. Oder mich auf den Fußboden zu legen, mir vorzustellen, dass flüssiger Kleber allmählich meine Gehörgänge füllt und dem Geräusch zu lauschen, das dabei entsteht. Ziemlich spannend, diese Reisen in Ohrmuscheln und Gehörgänge, die das gelegentliche Gurren einer Taube, die Schritte nebenan und das Rauschen des Verkehrs umso stärker hervortreten lassen, die Räume, die irgendwie immer schon eintreten in unsere Körper, in unsere Körperöffnungen.

1000 scores 560 2 huelcker uBildausschnitt der Startseite des Projekts "1000 Scores" von Haug / Helbich / Puschke © Screenshot

Das eigene Rezeptionsverhalten lässt sich beim Durchstreifen der Scores natürlich auch wunderbar studieren: Was funkt sofort, welche Scores verlocken, welche absolviere ich eher lustlos – oder lasse sie gleich ganz links liegen? Mit dem Autor und Performer Tim Etchells (von Forced Entertainment) sammele ich "Ten Phrases“ aus herumliegenden Büchern, Zeitungen und digitalen Dokumenten, und zerlege sie sprechend, atmend, rufend oder flüsternd in Laute, Silben, Sinn- und Atemzüge.

Ein Foto aus Kindheitstagen

Bisweilen macht sich ein Gefühl von Lächerlichkeit breit, aber zum Glück ist das Publikum ebenso abwesend wie die Künstler*innen. Weil ich keine Lust habe, ein Fotoalbum aus Kindheitstagen für Helgard Haugs "WHO TOOK IT?“ aus den Untiefen eines Schrankes zu graben, stelle ich mir ein Foto vor, das sich mit einer Erinnerung deckt, das aber niemand hätte aufnehmen können, weil jede*r Betrachter*in die Szene zerstört hätte. Und David Helbichs "Some Things Cannot Be Undone. Others Can." ist allein optisch eine Freude und existiert ganz wunderbar in meiner Vorstellung. Andere Scores fransen aus, verlieren ihren eigenen Faden – oder bin nur ich es, die keinen Zusammenhang sieht zwischen dem, was ich da tun soll?

Wenn Performerin und Kritikerin in eins fallen, bleibt die kritische Distanz ein Stückweit auf der Strecke. Doch diese "DIY-Performances" schaffen tatsächlich Ausstiege aus gewohnten Kontexten, nach Monaten sehr reduzierter Kunstrezeption dringlich ersehnt, Perspektivverschiebungen, Irritationen. Sie entbergen künstlerische Potenziale, Übersprünge, das Ausloten künstlerischer Möglichkeiten unter pandemischen Bedingungen (das im Übrigen weit konsequenter erscheint als Behauptungen von theatraler Normalität unter Abstands- und Hygieneregeln). Und das ist bereits viel.

 

1000 Scores. Pieces for Here, Now & Later
von Helgard Haug, David Helbich & Cornelius Puschke
Haug/Helbich/Puschke präsentieren kontinuierlich neue Scores unterschiedlicher Künstler*innen auf der Webseite 1000scores.com

Eine Produktion von Rimini Apparat, koproduziert von PACT Zollverein, Goethe Institut/Auswärtiges Amt, KANAL – Centre Pompidou und Tanz im August.

Partner: PACT Zollverein (Essen, Koproduzent), KANAL – Centre Pompidou (Brüssel, Koproduzent), Goethe Institut/Auswärtiges Amt (Koproduzent), Tanz im August (Berlin, Koproduzent), SPOR festival (Aarhus), Internationales Musikinstitut Darmstadt, Literaturforum im Brecht-Haus (Berlin), Impresario Company | Feodor Elutine (Moskau), Burg Hülshoff – Center for Literature (Havixbeck), Kaaitheater (Brüssel), IKOB - Museum of Contemporary Art (Eupen)

1000scores.com

 

Aufgrund missverständlicher Kommunikation seitens der Produktionsfirma Rimini Apparat wurde diese Arbeit von Helgard Haug, David Helbich und Cornelius Puschke in einer ersten Fassung des Textes als Projekt des Künstler*innen-Labels Rimini Protokoll ausgewiesen. Wir haben die Bezeichnung an den betreffenden Stellen des Textes geändert.

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