Volles Risiko

von Gabi Hift

Perchtoldsdorf, 5. August 2020. Shakespeare vor der Kulisse einer malerischen Burgruine, das ist in diesem Jahr nicht "business as usual", sondern ein Abenteuer für alle Beteiligten. Die Perchtoldsdorfer Sommerspiele haben im Juni, als es noch sehr schlecht aussah, nicht das Handtuch geworfen wie die meisten anderen Festivals, sondern abgewartet. Und das hat sich gelohnt.

Übergabe der Regie

Allerdings ist der Intendant von Perchtolsdorf, Michael Sturminger, auch der amtierende Regisseur der aktuellen "Jedermann"-Inszenierung in Salzburg, die ebenfalls auf August verschoben wurde. Deshalb hat er seine bereits besetzte Inszenierung von "Romeo und Julia" an Veronika Glatzner übergeben. Sie musste mit einem fertigen Konzept samt Bühnenbild und Kostümen zurechtkommen.

Auch das Publikum ist mehr als sonst von den Umständen abhängig. Gespielt wird nur im Freien, es gibt diesmal kein Ausweichquartier im Saal, und aus hygienischen Gründen auch keinen Deckenverleih. Wenn es regnet, könnte es mitten drunter vorbei sein, könnten Romeo und Julia am Leben bleiben, man könnte frieren und nass werden (und gefroren wurde bei der Premiere auch ganz ordentlich) – aber Risiken einzugehen erhöht bekanntlich die Wahrscheinlichkeit sich zu verlieben.

Das Abenteuer der Leidenschaften

In diesem Jahr werden zwei Dramen gleichzeitig gegeben, das von Romeo und Julia, und das der Künstler*innen: Wieviel Risiko werden sie eingehen? In Österreich gibt es zwar strenge Regeln für das Publikum, aber was auf der Bühne passiert, liegt im Ermessen der Beteiligten. Werden sie uns glauben machen, dass sie um ihr Leben spielen – und gleichzeitig auf Nummer Sicher gehen? Wie es ja eigentlich immer das Geschäft der Illusionskünstler ist? Und wie werden wir das erleben?

In den alten Konventionen sind wir ja geübt, wir wissen, dass im Giftfläschchen nur Wasser ist, so sicher, dass wir's beruhigt wieder vergessen und uns erschrecken können, wenn die Liebenden daraus trinken. Aber das Virus ist neu und ganz real vorhanden, es könnte die Schauspieler*innen vergiften, wenn sie sich zu leidenschaftlich annähern, es könnte auf dem Rücken ihrer Schreie von der Bühne herunter durch die vierte Wand segeln und sich auch auf uns stürzen.

Romeo und Julia 1 560 Sophia Wiegele xRiskanter als üblich: die Nähe zwischen Romeo (Valentin Postlmayr) und Julia (Lena Kalisch) in der Todesszene © Sophia Wiegele

Der Anfang macht sich gleich einen schönen Spaß mit der Allgegenwärtigkeit des Todes. Noch ist es hell, vor dem dreistöckigen, nackten Gerüst an der Vorderfront der Burgruine, hängt ein haushoher Vorhang aus weißen Stoffbahnen, sie blähen sich im Wind, es reißt sie hinauf in den Himmel, dann wickeln sie sich unversehens um Menschen und Pfeiler. Dazwischen kommen die elf Schauspieler*innen nach vorne, schnallen sich im Gehen noch rasch einen falschen Bauch um, setzen Perücken auf, und sterben dann der Reihe nach an der Rampe ihren je eigenen Slapstick Tod.

Und dann, schon bei der ersten Prügelei zwischen den jugendlichen Gangs der Capulets und der Montagues, wird klar, wie sie's mit der Nähe und den Körpern halten: Sie balgen sich am Boden und in der homoerotisch aufgeladenen Atmosphäre folgt beiläufig die erste Umarmung, der erste Kuss auf den Mund. Sie gehen, denkt man bewundernd, auf volles Risiko.

Eine schlichte Jugendliebe

Doch dann kommt Romeo und der hat in Gestalt von Valentin Postlmayr mit Leidenschaften erstaunlich wenig am Hut. Er scheint ein gutmütiger, eher simpel gestrickter Kerl zu sein. Dass eine gewisse Rosalinde ihn nicht erhören will, bringt ihn eher zu mattem Quengeln als zur existentiellen Verzweiflung. Mit den Wortwitzduellen, die in seiner Clique gang und gäbe sind, kann er nicht mithalten, er scheint immer alles 1:1 zu nehmen. In Julia sieht er ein nettes Mädchen, mit dem es sich angenehm unangestrengt herumbalgen lässt. Durch das rhetorisch brillante Metaphern-Gewitter, als wäre ihm das alles nicht selbst eingefallen, sondern als hätte ein Cyrano ihm seine Texte geschrieben und nun müsse er sie ganz aufrichtig klingen lassen.

Romeo und Julia 2 560 Sophia Wiegele xDie Bühne in der Burgruine Perchtoldsdorf wurde von Paul Sturminger entworfen, die Kostüme von Marie Sturminger © Sophia Wiegele

Das könnte eine interessante Sichtweise auf Romeo sein, aber sie macht viele Situationen im Stück unglaubwürdig. Weder nimmt man ihm ab, dass er in testosterongesättigter Wut Tybalt ersticht, noch entwickelt sich zwischen ihm und Julia mehr als eine kindliche Freundschaft. Dabei spielt Lena Kalisch die Julia als kluge junge Frau, wach und wild. Nur die Leidenschaft zwischen Romeo und ihr ist einfach nicht da. So wird die größte Liebesgeschichte der Weltliteratur zu einem seltsam unaufgeregten Geplänkel zweier sympathischer Jugendlicher, das durch schreckliche Zufälle in einer Serie von Todesfällen mündet.

Familienhölle nach Ibsen-Art

An den Rändern funktioniert der dezente, ruhige Ton der Inszenierung allerdings stellenweise hervorragend. Die Dynamik im Hause Capulet wird genau seziert. Marion Reisers Lady Capulet erträgt ihren widerlich diktatorischen Ehemann (Roman Blumenschein) mit amüsanter, säuerlicher Contenance – und lässt die Tochter über die Klinge springen, um sich selbst aus der Schusslinie zu bringen. Lena Kalischs Julia ist vor ihren Eltern ein aufmüpfiger Teenager, der nur nach außen großmäulig auftritt und innerlich vor Angst zittert. Eine gelungene Skizze einer Ibsenartigen Hölle.

Karl Walter Sprungala spielt einen stillen, hochintelligenten und selbstverliebten Pater Lorenzo, der dem naiven Liebespaar die Idee einer heimlichen Hochzeit einimpft, um einen politischen Coup zu landen und die verfeindeten Familien zu versöhnen, und der so das ganze Unheil überhaupt erst in Gang bringt. Das ganze spießbürgerliche Verona, in dem alle für die jungen Leute angeblich nur das Beste wollen und sie dabei instrumentalisieren, um die eigene Agenda zu verfolgen, ist sehr interessant dargestellt. Nur das Überbordende, die Leidenschaft und die Gewalt kommen zu kurz und dadurch fehlt der Aufführung das Zentrum.

Am Ende kommt noch eine Corona-Pointe, eine Szene, die immer schon im Text von "Romeo und Julia" zu finden war und die man bisher nie beachtet hat. Pater Lorenzo sendet einen Boten an den nach Mantua verbannten Romeo, um ihm zu erklären, dass Julia durch ein Kraut scheintot gemacht ist. Aber der Bote kommt nie an – und zwar weil er in einem Haus übernachtet, in dem sich ein Pestinfizierter befand, und er deshalb gemäß den Quarantäneregeln an der Grenze zurückgeschickt wird. Romeo denkt, Julia sei tot und bringt sich um. Wer hat sich bisher je daran erinnert, dass Romeo und Julia Kollateralschäden der Seucheneindämmung waren? Eine faszinierende Brücke über die Jahrhunderte.

 

Romeo und Julia
von William Shakespeare
Übersetzung: Angelika Messner
Regie: Veronika Glatzner, Bühne: Paul Sturminger, Kostüme: Marie Sturminger, Musik: Michael Pogo Kreiner, Daniel Helmer.
Mit: Valentin Postlmayr, Lena Kalisch, Emanuel Fellmer, Marie-Christine Friedrich, Roman Blumenschein, Marion Reiser, Raphael Nicholas, Karl Walter Sprungala, Lukas Gander, Nikita Dendl, Michael Pogo Kreiner.
Premiere am 5. August 2020
Dauer: 3 Stunden, eine Pause

www.sommerspiele-perchtolsdorf.at

 

Kritikenrundschau

Glatzners Inszenierung fühle sich "ganz heutig an", schreibt Stephan Hilpold im Standard (7.8.2020). "Die Grundlage dafür ist Angelika Messners Neuübersetzung von Shakespeares Stück, die genau so luftig wie stimmungsvoll daherkommt wie der gesamte dreistündige Abend."

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