Das Publikum verliert sich

von Falk Schreiber

Hamburg, 12. August 2020. Der Lohmühlenpark im Hamburger Stadtteil St. Georg ist eigentlich gar kein echter Park, sondern eine sanft gewellte Grünfläche zwischen zwei Häuserschluchten, langgezogen, ohne echtes Zentrum. Nichtsdestotrotz ist der Lohmühlenpark sympathisch – gerade an einem Sommernachmittag ist er belebt von der sehr diversen Nachbarschaft, Migrant*innen, queere Szene, schicke Jungfamilien, die die Gentrifizierung ins Quartier gespült hat. Außerdem von der Hamburger Gruppe Ligna, deren jüngster Audiowalk "Ulysses 2.0" zum Auftakt des Internationalen Sommerfestivals auf Kampnagel hier seinen Ausgang nimmt.

Verzettelnd immersives Ambient-Literatur-Theater

Wobei: Ausgang, das klingt so, als ob es von hier aus, vom Spielhaus im Park, irgendwo hingehen würde. Geht es aber nicht. Das Projekt ist weniger ein geleiteter Spaziergang als ein Verzetteln, ein zielloses Verlieren. "Schließe die Augen", rät einem die Stimme Josefine Israels an einer Stelle. "Drehe dich zweimal im Kreis. Gehe drei Schritte rückwärts. Drehe dich um, gehe weiter in die Richtung, in die du gerade gegangen bist." Und hat jetzt irgendwer verstanden, in welche Richtung es geht? "Suche mit den Augen den fernsten erreichbaren Ort", "suche eine spiegelnde Fläche", man erkennt: Hier wird man nicht geleitet, hier sucht man, und am Ende steht man irgendwo, wo es sich die Ligna-Macher nicht hätten träumen lassen.

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Tanz den Abstand: "Ulysses 2.0" von Ligna © Anja Beutler

"Ulysses 2.0" verbindet Homers "Odyssee" (beziehungsweise deren Lektüre durch Adorno und Horkheimer) mit James Joyces "Ulysses“ und schlägt von dort eine Brücke zur "Gaia-Hypothese" durch Lynn Margulis und James Lovelock: dass nämlich die Biosphäre wie ein einziger, großer Organismus interpretiert werden kann. Was weniger verkopft ist als es zunächst den Eindruck macht – der urbane Raum etwa als in ständiger Bewegung befindliches System miteinander kommunizierender Elemente kann als Teilbereich dieses Organismus interpretiert werden. (Wobei fraglich ist, ob der hier bespielte Park tatsächlich einen urbanen Raum im eigentlichen Sinne darstellt.) Formal haben Ligna mit "Ulysses 2.0" ihre ganz eigene Form des immersiven Ambient-Literatur-Theaters immer weiter verfeinert, bis in eine kluge, manchmal ein wenig bildungshubernde, aber alles in allem stimmige Kunst, die freilich so stimmig ist, dass sie über kurz oder lang in einer Sackgasse feststecken dürfte. Praktisch ist die einstündige Arbeit aber vor allem das perfekte Theater zur Eröffnung eines Festivals unter Pandemiebedingungen: Zuschauer*innen, die jeweils einzeln mit Kopfhörern im Freien herumstolpern! Sicherer vor Ansteckung mit Corona kann man nicht sein!

Vorschlag für Theater unter Pandemie-Bedingungen

Die Ansteckungsgefahr ist das Damoklesschwert, das über dem Internationalen Sommerfestival 2020 hängt. Die übrigen Veranstaltungen am Eröffnungsabend auf dem Kampnagel-Gelände jedenfalls wirken deutlich belasteter als Lignas Verästelungsspaziergang: Der in den Vorjahren als offener Raum inszenierte "Avant-Garten" hinter den Kampnagel-Hallen darf nur noch mit Ticket betreten werden, wer sich auf einen Stuhl setzt, muss sich mittels App anmelden. Und dass die Installation "Klingelstreich beim Kapitalismus" des Peng! Collective in einer Telefonzelle eingerichtet ist, beunruhigt auch, angesichts der vermuteten Aerosolsättigung in dem engen Kasten.

Allerdings bietet die Installation abgesehen von einem nur halb originellen Quiz auch keine größere Erkenntnis als der der Präsentation vorangegangene und breit in der Presse rezipierte Telefon-Prank bei verschiedenen Großunternehmen. Man muss sich also eigentlich gar nicht in die Zelle quetschen – eine halbwegs gründliche Medienlektüre tut es auch, zumal das Peng! Collective die Aktion auch auf der eigenen Homepage umfangreich dokumentiert.

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Bei Anruf Alternative: "Klingelstreich beim Kapitalismus", Videostill © Peng! Collective

Wie jedes Jahr gibt es natürlich eine Großproduktion zur Festivaleröffnung in der riesigen, 840 Plätze zählenden Halle K6. 2020 ist diese eigentliche Eröffnungsarbeit Florentina Holzingers viel gelobtes Stück "Tanz" (hier die Premierenkritik von Martin Thomas Pesl), und eigentlich würde solch ein hochkarätiger (und längst durchgesetzter) Abend das Haus gleich mehrfach füllen. Allein: Gerade mal 250 Plätze dürfen in der K6 eingenommen werden, weniger als ein Drittel des möglichen Publikums verliert sich in der Halle.

Und, nein, wenn ein Festival auch ein Fest sein soll, wenn es hier nicht nur um Kunst gehen soll, sondern auch um die Feier, dann ist diese Eröffnung gewöhnungsbedürftig. Aber vielleicht ist die Gewöhnung ja das, worum es eigentlich geht? "Das Festival ist ein Vorschlag, wie Theater unter pandemischen Voraussetzungen stattfinden kann", beschreibt Festivalleiter András Siebold seinen Zugriff, und als Vorschlag kann man diesen traurigen, klugen, rätselhaften Abend tatsächlich annehmen.

 

Ulysses 2.0
von Ligna
Konzept, Text, Regie, Produktion: Ligna (Ole Frahm, Michael Hueners, Torsten Michaelsen), Musik: Günter Reznizek u.a. Stimmen: Josefine Israel (Margulis), Samuel Weiß (Lovelock), Mareike Hein (Mbembe) und Günter Reznicek (Lied der Bakterien)
Premiere am 12. August 2020
Dauer: 1 Stunde, keine Pause

Klingelstreich beim Kapitalismus
von Peng! Collective
Installation, seit 12. August 2020

Tanz
von Florentina Holzinger
Konzept, Performance, Choreografie: Florentina Holzinger, Videodesign, Live-Kamera: Josefin Arnell, Sounddesign, Live-Sound: Stefan Schneider, Lichtdesign: Anne Meeussen, Bühnendesign: Nikola Knezevic, Technik: Koen Vanneste, Dramaturgie: Renée Copraij, Sara Ostertag, Musik-Coach: Almut Lustig, Theorie, Recherche: Anna Leon, Outside Eye: Michele Rizzo, Fernando Belfiore, Unterstützung Stunts: Haeger Stunt & Wireworks
Performance von und mit: Renée Copraij, Beatrice Cordua, Evelyn Frantti, Lucifire, Annina Machaz, Netti Nüganen, Suzn Pasyon, Laura Stokes, Veronica Thompson, Lydia Darling
Premiere am 3. Oktober 2019, Tanzquartier Wien
Dauer: 2 Stunden, keine Pause

www.kampnagel.de

 

Kritikenrundschau

"Das Herrliche beim Programm "Ulysess 2.0", auch wenn es thematisch allzu dicht und inhaltlich eigentlich überfordernd daherkommt, ist das Erlebnis von Theater ohne Theater," schreibt Katrin Ullmann über die Ligna-Performance in der taz (15.8.2020). "Es ist eine Performance, die vor allem in den Köpfen der Teilnehmer entsteht und die – durch das Neu-Erleben und Neu-Konnotieren des öffentlichen Raums – immer wieder unvorhersehbare Situationen, Momentaufnahmen und Symbiosen schafft. (...) Angeleitet durch den Text, durch Handlungsanweisungen, Zitate, Verweise und Gedankengänge wird die eigene Imagination zum essenziellen Bestandteil dieser höchst individuellen Performance."

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