Komm, wir spielen Pandemie

von Valeria Heintges

Zürich, 16. August 2020. Achille Mbembe, der Historiker und Politikwissenschaftler aus Kamerun, bringt es auf den Punkt: "Wenn Covid-19 wirklich der spektakuläre Ausdruck der planetären Sackgasse ist, in der sich die Menschheit heute befindet, dann geht es um nicht weniger als um die Wiederherstellung einer bewohnbaren Erde, die allen ein erträgliches Leben mit genügend Luft zum Atmen bietet", schreibt er in einem Essay im Programmheft für das 51. Theater Spektakel. Damit ist der Ton gesetzt.

Denn trotz der "krankheitserregenden Zeiten" wollten die Macher nicht auf ihren ureigensten Anspruch verzichten, internationale Truppen nach Zürich zu bringen. Sie sollen hier gemeinsam mit Schweizer Künstlern "das Zusammenleben und Überleben auf unserem postkolonialen Planeten" verhandeln, wie die Macher um den Künstlerischen Leiter Matthias von Hartz das Thema umreissen.

Theaterspektakel lagartijas 560 KiraBarlach uDas Plätschern des Zürichsee wird mit Umweltsünden aus Mexko überschrieben: Audiowalk von Lagartijas Tiradas al Sol und Isabelle Stoffel ©  Kira Barlach

Coronabedingt fallen Volksfest und Gastronomieschlacht aus, die Landiwiese ist leergefegt, bis auf die Projektionswand für William Kentridges Videoinstallation More sweetly play the Dance und die Lichtinstallation der Inderin Shilpa Gupta, die dreisprachig I live under your sky too in den Himmel schreibt. Die Kunst findet aber statt, noch bis 30. August: am Telefon, auf dem Schiff, im Radio, in Webinaren und Online-Dialogen, in einem Fernsehstudio, am Strand. Und auf einem Wagen, der einfach weiterfährt, wenn sich zu viele Menschen vor William Forsythes City of Abstract 2020 versammeln. Es gibt ein Radioballett von 13 internationalen Choreografen. Sendungen von Künstlern aus Kenia, Namibia, Norwegen, den USA oder dem Libanon, die über Radio an Liegende auf Picknickdecken ausgestrahlt werden.

Flüsse vergiften

Die Projekte zeigen, wie sehr alles mit allem zusammenhängt, in einer globalen Pandemie, in einer globalen Wirtschaft. Dorine Mokha und Elia Rediger untersuchen in einer Musiktheater-Videoinstallation das Minengeschäft des schweizerischen Rohstoffkonzerns Glencore im Kongo. Lagartijas Tiradas al Sol aus Mexiko haben mit Isabelle Stoffel aus Zürich einen Audiowalk erstellt, den man sich auf einer Schifffahrt über den Zürisee anhört. Das Plätschern des Wassers unterm Kiel in Zürich wird mit Umweltsünden in Mexiko überschrieben, in deren Folge indigene Pflanzen aussterben, Flüsse vergiftet werden und längst auch das Trinkwasser knapp wird. Globale Konzerne wie der schweizerische Nahrungsmittelgigant Nestlé mischen dabei an vorderster Front mit.

Theaterspektakel Kesara 560 ZTS Kira Barlach UVerdrängtes Erinnern: "Schwarzenbachkomplex "von Ké Sarà © Kira Barlach

Die "Tradition" der Fremdenfeindlichkeit in der Schweiz folgt die schweizerische Truppe Ké Sarà im Langzeitprojekt Schwarzenbach-Komplex, das verdrängte Erinnerungen ans Licht bringen will. Zum Auftakt berichteten italienischstämmige Gewerkschafter im Ristorante Cooperativo von ihren Erfahrungen, von Diskriminierungen, Beschimpfungen. Und von Schmerz, der bis heute anhält. Die lebhaften Reaktionen des Publikums zeigen deutlich, wie gross der Gesprächsbedarf ist. Und dass trotz der heute so gefeierten und schicken "Italianità" noch vor wenigen Jahren eine ganz andere Stimmung gegenüber den "Tschinggen" herrschte.

Wiederauferstehung in 3D

Manches, was heute so schön aussieht, ist es lange nicht gewesen oder längst nicht mehr. Mit diesem Gedanken spielt auch die Opernperformance Sun and Sea, die in der Werft gezeigt wird. Die Zuschauer stehen dabei – hübsch mit Abstand und mit Masken – auf einer Galerie. Unter ihnen liegen Strandbesucher auf ihren Tüchern im Sand. Kinder spielen Ball, Hunde tollen herum. Erwachsene jeden Alters sonnen sich, cremen sich ein, hören Musik. Und immer mal wieder hebt einer oder alle an zu singen. Unaufgeregte elektronische Musik mit sehr minimalistischen Melodien hat Lina Lapelyte geschrieben.

Theaterspektakel Sun SeaMarina 560 AndrejVasilenko CourtesyByThe Artists uKleine Geschichten, große Katastrophen, die Opernperformance "Sun and Sea" © AndrejVasilenko | Courtesy by the Artists

Die Arbeit des litauischen Trios Rugile Barzdziukaite, Vaiva Grainyte und Lapelyte, die 2019 im litauischen Pavillon der Biennale in Venedig uraufgeführt und dort mit dem Goldenen Löwen für den besten nationalen Beitrag ausgezeichnet wurde, gewinnt, je länger je mehr, eine hypnotische Wirkung. Denn da ist noch dieser gesungene Text. Er erzählt kleine Geschichten, mittlere Dramen und große Naturkatastrophen. Das Ehepaar etwa: Sie erzählt stolz, dass ihr Kind schon die ganze Welt gesehen habe, auch die wunderschön ausgebleichten Korallen am Great Barrier Reef. Ihr Mann hingegen ist dem Burn-out nahe und klagt über unmenschlichen Druck im Büro. Das schwule Pärchen sitzt wegen eines Vulkanausbruchs am Flughafen fest. Die Philosophin warnt, dass Bananen eine zu weite Reise machten, nur um europäischen Hunger zu stillen und ein bisschen Glückseligkeit zu bringen. Am Ende ist allen klar, wo die Lösung liegt: Im 3-D-Druck. Damit könnten auch Korallen, Bienen und alle Sorten Tiere, sogar Menschen einfach wieder auferstehen. Selbst nach ihrem Aussterben. Es sieht alles so schön aus – und ist doch zum Gruseln.

Nur minimal angepasst ging die Premiere von Virus des schweizerisch-niederländischen Theatermachers Yan Duyvendak über die Bühne (und wird direkt im Anschluss von 19. bis 22.8. auf Kampnagel zu sehen sein und später auch in Hellerau, Dresden). Duyvendak war im November 2019 mitten in den Proben, als er hörte, dass in Wuhan ein Virus ausgebrochen sei. "Es war schwindelerregend", sagt er in einem Interview mit "Ma culture.fr", "alles was wir in Theorie in den Händen hatte, spielte sich auf der anderen Seite des Planeten real ab." In den Händen hatte Duyvendak Material des französischen Arztes Philippe Cano, der zuvor von der EU beauftragt worden war, den Ausbruch einer Pandemie zu simulieren. Cano und Duyvendak griffen dabei auf Material der Weltgesundheitsorganisation WHO zurück, die ein Training für westafrikanische Fachleute im Zusammenhang mit Ebola erstellt hatte.

Finstere Mächte bezwingen

In dem partizipativen Projekt "Virus" muss sich jeder Gast entscheiden: Will er eine grüne Weste überziehen und als Wirtschaftsvertreter mitmischen? Oder eine orange für die Forschung, eine rote für die Lebensmittelindustrie? Will er Behörden- oder Pressevertreter sein oder die Bevölkerung repräsentieren? Man kennt das Prozedere aus Rollenspielen: Je nachdem wie Entscheidungen getroffen werden, ändert sich der Spielverlauf, stehen verschiedene Szenarien zur Auswahl.

Aber es ist natürlich ein Unterschied, ob man im Rollenspiel mit Freunden oder am Computer finstere Mächte bezwingen oder eine Pandemie in Schach halten soll, die gerade grosse Teile des eigenen Lebens bestimmt. Alle stehen da ganz realiter mit Mundnasenschutz, weil der Mindestabstand nicht eingehalten werden kann. Wir alle wissen genau, welche Folgen es hat, wenn sich das Krisentreffen für ein Schliessen der Grenzen ausspricht. Und wir wissen, unter welchem Druck die Forscher stehen, die das Virus identifizieren und einen Impfstoff finden müssen – und zwar dalli!

Theaterspektakel Virus1 560 ZTS KiraBarlach uWelche Rolle übernimmst Du in dem Spiel? "Virus " von Yan Duyvendak © Kira Barlach

Noch während man als Forscher bei der Wirtschaft um Geld bettelt, die Bevölkerung bittet, sich als Testperson zur Verfügung zu stellen, schwenken die Demonstranten schon ihre Transparenten und fordern "Kein Impfstoff für die Reichen" oder "Gratis-Tests für alle". Auch im Spiel gönnt einem das Virus und die steigende Zahl von Kranken, von Toten keine Ruhe und verzeiht keine falsche Entscheidung.

Ungutes Gefühl in der Magengrube

Doch zeigt sich die Tücke der Sache in Details, die für das Spiel (und auch die Realität) so entscheidend sind: Die Texte auf den Karten sind schlecht übersetzt, unklar und zum Teil sogar widersprüchlich. Und warum, bitte, sollten die Forscher für das Verteilen des Impfstoffs zuständig sein? Solche Unstimmigkeiten und Abweichungen von der Realität verwirren und sorgen für unnötige Missstimmung. Dass am Ende das Zukunftsszenario eine nationale Sterberate von 45, global gar von 50 Prozent in vier Jahren prognostiziert, überzeugt keinen. Noch schwerer aber wiegt das ungute Gefühl in der Magengrube: In den unzähligen Meetings kommen sich die Spieler viel näher als sie sollten. Da schützen die obligatorischen Masken zu wenig. Und das Rollenspiel landet hart in der Realität von Covid-19.

 

Ein Tod, von dem niemand spricht
Konzept und Realisation: Lagartijas Tiradas al Sol und Isabelle Stoffel
Text: Luisa Pardo und Lázaro Gabino Rodríguez (Lagartijas Tiradas al Sol)
Übersetzung ins Deutsche: Lea Loeb
Stimme: Mariana Villegas (Spanisch), Isabelle Stoffel (Deutsch)

Schwarzenbach-Komplex
von Ké*Sarà
Konzept: Rohit Jain und Tim Zulauf
in Zusammenarbeit mit Paola De Martin, Catia Porri, Guido Henseler und Norm, Zürich
Beiträge von Rosanna Ambrosi, Salvatore Di Concilio, Kijan Espahangizi, Pino Esposito, Francesca Falk, Letizia Fiorenza und David Sautter, Marina Frigerio, Fatima Moumouni, Melinda Nadj Abonji, Catia Porri, Lisetta Rodoni, Samir, Maria Satta, Raffy Spilimbergo, Maria-Angeles Tinari-Cueto, Victor Tinari , Henri-Michel Yéré u.a.

Sun & Sea
von Rugilė Barzdžiukaitė, Vaiva Grainytė und Lina Lapelytė
Regie und Bühnendesign: Rugilė Barzdžiukaitė, Libretto: Vaiva Grainytė, Komposition und Musikalische Leitung: Lina Lapelytė, Kuration: Lucia Pietroiusti.
Sänger*innen: Aliona Alymova, Marco Cisco, Claudia Graziadei, Artūras Miknaitis, Yates Norton, Vytautas Pastarnokas, Eglė Paškevičienė, Lucas Lopes Pereira, Salomėja Petronytė, Kalliopi Petrou, Ieva Skorubskaitė, Svetlana Statkevičienė, Annapaola Trevenzuoli, Elisabetta Trevenzuoli, Nabila Dandara Vieira Santos.
Weitere Darsteller*innen: Vincentas Korba, Jeronimas Petraitis, Juozas Petraitis, Pranas Petraitis, Jonas Statkevičius, Mantas Petraitis, Raminta Barzdžiukienė.

www.theaterspektakel.ch

 

Kritikenrundschau

"Das Zürcher Theaterspektakel geht mit den Corona-Beschränkungen auf eigene, äußerst vorsichtige Art um", schreibt Egbert Tholl in der Süddeutschen Zeitung (19.8.2020). Matthias von Hartz, der künstlerische Leiter des Festivals, wusste früh, dass er die ursprüngliche Planung vergessen konnte. Er wollte das internationale Programm nicht wegen der Reisebeschränkungen auf Gäste aus den Nachbarländern reduzieren. Maximale Sicherheit zähle, "einzelne der eingeladenen Künstler bauten ihre Produktionen um oder erfanden neue. Andere sandten Material, das man dann in Zürich zusammenfügen konnte". Die Maske bleibe auf, "auch bei 'Sun & Sea', der Opernperformance aus dem litauischen Pavillon der letztjährigen Biennale in Venedig. Deren Anwesenheit war gar nicht geplant, aber die Truppe lebt quasi in Quarantäne, durfte also kommen."

 

 

Kommentare  
Zürcher Theater Spektakel: Trotzdem Theater
..."dann geht es um nicht weniger als um die Wiederherstellung einer bewohnbaren Erde, die allen ein erträgliches Leben mit genügend Luft zum Atmen bietet" TROTZDEM wollten die Macher nicht auf ihren ureigensten Anspruch verzichten, internationale Truppen nach Zürich zu bringen.
Zürcher Theaterspektakel: Studio Orka
Liebe Valeria Heintges, nicht nur für diese Kritik (man vgl. die Kritiken von Salzburg) zutreffend, sondern generell schade, aber dennoch gerade für ein Festival wie Zürich in Coronazeiten bedauerlich: Vergessen oder übersehen wurde das Kindertheater, was diesmal sehr bedauerlich ist mit "Das Pentakkordeon" von Studio Orka; eine wunderbare, poetische, verspielte und versponnene und doch so politisch-realistische theatrale Utopie, die ich Ihnen doch noch für einen Besuch empfehle. Begeistert nicht nur Kinder, sondern auch Erwachsene - zumindest mich und meinen siebenjährigen Sohn. Herzlichsten Gruß!
Zürcher Theater Spektakel: Maximal verlogen
Ja, internationale Gruppen sind unverzichtbar, sie eröffnen neue Horizonte und das ist wichtiger denn je. Zudem ist es maximal verlogen, für den Klimawandel die Flüge nicht-europäischer Künstler*innen verantwortlich zu machen - in einer Zeit, in der Deutschland Erntehelfer*innen einfliegen lässt, damit man hierzulande weiterhin zu Dumpingpreisen ach so lokalen (= guten) Spargel oder Gurken kaufen kann.
Zürcher Theater Spektakel: Spargel und Gurken
@1 wie doof ist das denn? Spargel bzw. Gurken statt Kunst? Soll es nun überall nur noch heimische Dorfkunst geben? Wer lebt, hinterlässt nun mal einen ökologischen Fußabdruck. Sollen wir deshalb kollektiv Selbstmord begehen? Oder nur noch Schuhplattler tanzen und Klorollen umhäkeln?
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