Kaserniertes Chaos

von Falk Schreiber

Hamburg, 26. August 2020. Auf der Bühne wird Sport getrieben. Man hört das Aufprallen eines Balles, man hört hektische Schritte, man hört Schnaufen, unterdrückte Schreie. Aber als sich der Vorhang hebt, sieht man nur im Bühnenhintergrund ein Volleyballspiel, schemenhaft, zumeist verdeckt von einem tribünenartigen Aufbau (Ausstattung: Yannick Fouassier). Und an der Rampe steht derweil ein Bewaffneter (Joãozinho da Costa), ein Soldat wohl, und macht: nichts. Er steht da einfach und sorgt dafür, dass das Spiel weit hinten bleibt.

Begrenztes Spiel

Es ist ein ganz konkretes Bild, mit dem Marlene Monteiro Freitas ihre Arbeit "Mal – Embriaguez Divina" beim Internationalen Sommerfestival im Kulturzentrum Kampnagel eröffnet: ein Sportplatz, der vielleicht hinter einer Kaserne liegt. Aber in diesem Bild versteckt sich schon das gesamte Stück, in diesem Bild ist ein Aufbrechen der Theaterregeln im Spiel angelegt, und gleichzeitig ist hier auch die Einhegung dieses Aufbrechens zu sehen, der Zaun, der den Sportplatz begrenzt, der Soldat, der nicht wirklich bedrohlich wirkt, aber mit seiner Waffe schon dafür sorgt, dass das Ungeordnete, das Chaotische und Unvorhersehbare des Spiels nicht über seine Begrenzung hinauswächst.

Mal Logo x"Mal – Embriaguez Divina" von Marlene Monteiro Freitas © Peter Hönnemann

Dass "Mal" seine Welturaufführung in Hamburg erlebt, verdankt das Internationale Sommerfestival der Corona-Pandemie: Eigentlich war der Abend zum Ende der Matthias-Lilienthal-Intendanz an den Münchner Kammerspielen geplant, in die Hansestadt wäre er erst im Zuge einer Runde durch Festivals und Produktionshäuser gekommen. Weil aber die Kammerspiele wegen der Pandemie (wie alle übrigen Bühnen im deutschsprachigen Raum) schließen mussten, findet die Premiere jetzt auf Kampnagel statt – Sommerfestival-Leiter András Siebold ist so gesehen ein Krisengewinner, der sein Festival mit einer hochkarätigen Uraufführung schmücken kann. Aber man will nicht unfair sein: Nach einer Probenphase in München kam das gesamte Team zu einer siebenwöchigen Residenz nach Hamburg, wo die Arbeit ihren letzten Schliff erhielt, "Mal" geht guten Gewissens als Kampnagel-Produktion durch.

Anpassung statt Entgrenzung

Zumal Siebold Freitas schon präsentierte, als die auf den Kap Verden geborene und heute in Lissabon arbeitende Choreografin noch kein Star war. Ihr Durchbruchsstück "Bacantes – Prelude to a Purge" war 2017 beim Internationalen Sommerfestival zu sehen, eine wilde Entgrenzungsorgie, die "Mal – Embriaguez Divina" eigentlich auch hätte sein können, als Feier des "Bösen" im Zuge einer "göttlichen Trunkenheit".

Nur dass dem Abend diese Trunkenheit irgendwie verloren gegangen ist: Immer wieder scheint die Entgrenzung zwar durch, im Spiel, im Wahnsinn, in der Kunst etwa. Aber: "Mal" lässt sich nur unzureichend mit "Böse" übersetzen, auch Begriffe wie "Unbill" oder "Qual" spielen hier hinein, ebenso ein Gegensatz zum "Guten", das mit Ordnung und Anpassung identifiziert wird – und diese Anpassung tritt an diesem Abend unerbittlich in den Vordergrund. Wie der Soldat, der durch seine Präsenz dafür sorgt, dass das Ballspiel nicht die gesamte Bühne einnimmt: Es gibt eine Sehnsucht nach Entgrenzung, aber die darf nicht ausgelebt werden.

Kampnagel 3000 Anja Beutler uDer Spielort: Kampnagel Hamburg © Anja Beutler

Obwohl Freitas von Haus aus Choreografin ist, ist "Mal" kaum noch Tanz. Stattdessen entwickeln sich kurze Szenen, in denen das Chaos sich aufbäumt, um dann wieder gebändigt zu werden: eine Passage im Gericht, eine im Leichenschauhaus, eine auf dem Exerzierplatz, am Ende auch eine hübsch ironische im Theatersaal. Performative Miniaturen sind das, detailverliebt aufgebaut, mit hintergründigem Humor (der selbst allerdings auch wieder ein chaotisches Element beinhaltet, das sich gegen eine strenge Ordnung sperrt), mehr Daniil Charms als Tanz. Spannung entsteht über Gegensatzpaare, die sich aus diesen Szenen herausschälen, Bewegung hier, Starre da, Verzweiflung hier, Aggression da, Spiel hier, Strenge da – aber auch Choreografie hier, Objekttheater da, "Jesus Christ Superstar" hier, "Schwanensee" da.

Lallen und Lachen

Nicht immer funktioniert das reibungslos. Manchmal übertreibt Freitas ihren humoristischen Ansatz, dann lallen die Darsteller, und das Stück bekommt einen ableistischen Unterton. Dass der nicht beabsichtigt ist, zeigt die Darstellerin Mariana Tembe, die ihre Behinderung so beiläufig wie selbstbewusst performt. Tembe also twerkt gekonnt über die Tribüne, was im Spiel mit Obszönität und selbstbewusster Lust dann tatsächlich eine kurze Entgrenzung darstellt, andererseits durch die Tatsache, dass die Künstlerin keine Beine hat, aber auch eine beeindruckende physische Leistung. Das ist spannend, doch wenn man sich an das seltsame Gelalle vor wenigen Minuten erinnert, dann passt hier etwas nicht zusammen.

Wobei vielleicht dieses Knirschen im Gebälk das ist, was "Mal – Embriaguez Divina" am Ende ausmacht. Dass Freitas hier nämlich kein leicht konsumierbares Abbild der Entgrenzung abgeliefert hat, kein "Bacantes, Teil 2", sondern ein Stück, das sich sperrt. Ein Stück, das weiß: Der Soldat vor dem Volleyballfeld ist eine Witzfigur. Er mag eine Maschinenpistole tragen, aber am Ende werden wir trotzdem über ihn lachen.

 

Mal – Embriaguez Divina
von Marlene Monteiro Freitas
Choreografie: Marlene Monteiro Freitas, Unterstützung der Produktion: Lander Patrick, Licht und Bühne: Yannick Fouassier, Mitarbeit Bühne: Miguel Figueira, Stage Manager: André Calado, Sound: Rui Dâmaso, Research: Marlene Monteiro Freitas, João Francisco Figueira, Dramaturgie: Martin Valdés-Stauber.
Mit: Andreas Merk, Betty Tchomanga, Francisco Rôlo, Henri "Cookie" Lesguillier, Hsin-Yi Hsiang, Joãozinho da Costa, Majd Feddah, Mariana Tembe, Miguel Filipe.
Premiere am 26. August 2020
Dauer: 1 Stunde 35 Minuten, keine Pause

www.kampnagel.de

 

Kritikenrundschau

Dorion Weigmann vergleicht Freitas in der Süddeutschen Zeitung (29.8.2020) mit Robert Wilson. Allerdings falle ihr artistisches Temperament "angriffslustiger aus, ist sie weniger schöngeistig" – aber dafür herrlich ungezogen. Widerspenstigkeit färbe nun auch ihre von Georges Bataille befeuerte Auseinandersetzung mit sämtlichen Übeln der Welt, die drei Frauen und sechs Männer in "Mal – Embriaguez Divina" unternähmen. Freitas verkünde "uns viral geplagten Sünderlein" in ihrer Theaterhölle "ein herrlich dämonisches Evangelium".

Kommentare  
Mal, Berlin: Highlights und Längen
Der starke Tanz im August-Festival-Jahrgang endet mit der Clownerie von Marlene Monteiro Freitas. Der Abend ist eine lose Nummernrevue. Szenenapplaus gab es für die Parodie des klassischen Ballett-Publikums mit einem verzückten "Schwanensee"-Applaus. Ein weiteres Highlight waren die kurzen Momente, in denen die kapverdische Choreographin und ihr Ensemble an ihren „Bacchae – Prelude to a purge“-Hit von 2017 anknüpft. So mitreißend und dionysisch-überschäumend wird der neue Abend leider nur selten. Mariana Tembe wirbelt auf dem höchsten Punkt der Tribüne über die Spielfläche und lässt ihr Handicap fehlender Beine vergessen.

Doch in den knapp zwei Stunden gibt es auch einige Längen, wenn sich das Ensemble mal wieder mit Papierkronen, Phantasiesprachen-Gebrabbel und Grimassen verzettelt wie schon beim Monteira Freitas-Solo idiota, das bei „Performing Exiles“ im Juni gastierte.

Komplette Kritik: https://daskulturblog.com/2023/08/12/tanz-im-august-2023-festival-kritik/
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