Raus aus der Gegenwart

von Katrin Ullmann

Hamburg, 30. August 2020. Dichter oder sogar "Apostel der Freiheit" wird er gern genannt, seine Werke sind durchzogen vom Freiheitsgedanken, von der Idee der Humanität und der Erfahrung des Künstlerischen: Friedrich Schiller. Und auch wenn jede ernst zu nehmende Freiheitstheorie anerkennt, dass das eigene Recht auf Freiheit dort endet, wo die Freiheit des anderen beginnt, ist Freiheit zurzeit ein wieder viel diskutierter Begriff. Immer häufiger wird gegen die Beschränkungen aufgrund des Corona-Virus demonstriert. Diese würden die Freiheits- und Grundrechte beschneiden. An der jüngsten Demonstration vergangenen Samstag in Berlin hatten etwa 38.000 Menschen teilgenommen, von der Polizei wurde die Veranstaltung am Nachmittag aufgelöst, weil die Demonstrant*innen sich weigerten Masken zu tragen und Abstand zu halten.

Exklusive Schauspielkunst

"Ode an die Freiheit" betitelt Antú Romero Nunes also seine Inszenierung, seine letzte Arbeit als Hausregisseur am Thalia Theater, seit dieser Spielzeit ist er Teil des Leitungsteams der Schauspielsparte am Theater Basel. Die Inszenierung sollte im März Premiere haben, Nunes machte im Frühsommer Filme aus den drei Teilen (hier die Nachtkritik zu Teil 1) und jetzt noch eine Bühnenfassung mit den Stücken "Kabale und Liebe", "Maria Stuart" und "Wilhelm Tell" zusammen, beziehungsweise zentralen Szenen daraus.

Mit "Ode an die Freiheit", natürlich einer Anspielung auf Schillers "Ode an die Freude", titelt Nunes hoch. Zumindest im Kontext dieser Zeiten. Denn was ist Theater, was ist Kunst im allerbesten Falle anderes als ein Bezug-Nehmen, ein scharfer Atem, ein genauer Blick auf die Zeiten, in denen wir leben? In seinem Triptychon jedoch blendet Nunes genau diese Gegenwart aus. Stattdessen zeigt er kurzweiliges, unterhaltsames, hochkarätig besetztes Schauspieltheater. Allzu lang absente Schauspielkunst vor ironisch überzogener naturalistisch-realistischer Kulisse (Bühne: Matthias Koch) für exklusive 300 Zuschauer. Serviert in drei wohl dosierten Portionen, von denen jede nach etwa 40 Minuten verdaut ist. Absolut legitim.

Theatergeschichtsbeladene Figuren spielen sich frei

Nunes zeigt genau gearbeitete Szenen, die mit kleinen Besetzungen drei Klassiker (neu) erzählen. Er zeigt, wie Wilhelm Tell (komödiantisch gespielt von einem expressionistischen Paul Schröder mit Schweizerdeutschem Anflug) als Eidgenosse die Freiheit zwar will, sich aber in Sturheit vergräbt. Da wird die Apfel-Kopf-Schuss-Szene zu einem Missverständnis zwischen dem Reichsvogt (Thomas Niehaus) und dem Armbrusthelden und endet tödlich, wird der Freiheitskämpfer bald zum bornierten Nationalisten.

OdeKabale 560 Armin Smailovic uMillers beim Frühstück (Cathérine Seifert, Jörg Pohl, Lisa Hagmeister) © Armin Smailovic

Bei "Kabale und Liebe" dann spielt sich die Kernfamilie Miller voller Verve und Drama durch ein Rollenspiel im Konjunktiv. Wortreich wirft sie sich Möglichkeiten und Unmöglichkeiten der Liebe zu, verteilt dabei geräuschvoll Butter und Marmelade auf Toasts und kämpft sich launisch durch die portalbreite Skala der Gefühle. Wieder sieht man den Schauspielern (Jörg Pohl, Cathérine Seifert und Lisa Hagmeister) allzu gern beim Streiten, Vergiften und auch beim Buttertoast-Schmieren zu, begibt sich mit ihnen in die Wirren der Liebe und die Grenzen der Gesellschaft und begrüßt ein alternatives Ende (Luise vergiftet ihre Eltern) des Trauerspiels.

Heiter, grausam, konventionell

Im dritten Teil schließlich duellieren sich Barbara Nüsse und Karin Neuhäuser als Königin Elisabeth und Maria Stuart in Fotheringhay. Im Kerker dieses Schlosses ist Maria Stuart inhaftiert – wegen Hochverrats zum Tode verurteilt. Die Königin von England jedoch zögert die Unterzeichnung des Urteils hinaus. Zwei Heldinnen, wie sie unterschiedlicher nicht sein könnten: auf der einen Seite Maria Stuart, die über ihren Stolz zu innerer Freiheit findet, auf der anderen Elisabeth, die ihre politische Macht mit Abhängigkeiten bezahlt. Nüsse und Neuhäuser spielen die beiden in prunkvollen elisabethanischen Kostümen (Victoria Behr) und mit kunstvollen Turmfrisuren: mal frauensolidarisch, mal hasserfüllt, mal leichtherzig, mal schwermütig, später dann lässig und barfüßig. Von Rollentausch über Dosenbier bis zum Entenfüttern im Park ist alles dabei. In ihren Spielarten sind die beiden Protagonistinnen wunderbar heiter und grausam zugleich – tatsächlich aber recht konventionell in Szene gesetzt.

OdeMaria 560 Armin Smailovic uPicknick der Königinnen: Karin Neuhäuser und Barbara Nüsse © Armin Smailovic

Und so lässt der Abend eine merkwürdige Leere zurück, eine Enttäuschung über das Fehlen von feinsinnigen Bezügen in die Gegenwart, von einem ernsthaften Nachdenken über den Freiheitsbegriff. Beim Blättern durchs Programmheft, das außerdem einen Theater umrundenden "Schiller Walk" mit 30 Filmchen ankündigt, fällt der Blick auf den dort zitierten Schiller-Satz: "Der Mensch (...) ist nur da ganz Mensch, wo er spielt." Und erneut erkennt man: Antú Romero Nunes will nicht politisch sein, nicht gegenwartskritisch, nicht anstrengend oder doppelbödig: Nunes will einfach nur spielen. Frei und freiherzig.

Ode an die Freiheit
Kabale und Liebe / Maria Stuart / Wilhelm Tell
nach Friedrich Schiller
Regie: Antú Romero Nunes, Bühne: Matthias Koch, Kostüme: Victoria Behr, Dramaturgie: Matthias Günther, Musik: Anna Bauer, Johannes Hofmann.
Mit: Lisa Hagmeister, Karin Neuhäuser, Thomas Niehaus, Barbara Nüsse, Jörg Pohl, Paul Schröder, Cathérine Seifert.
Premiere: 30. August 2020
Dauer: 2 Stunden 20 Minuten, keine Pause

www.thalia-theater.de



Kritikenrundschau

Eine "Art Schiller-Labor" sah Peter Helling für NDR Kultur (31.8.2020) am Thalia Theater. "Aber der Abend verbindet sich nicht zu einem Ganzen: Dieses Theater kann sich zwischen Versuchsanordnung und überdrehter Gag-Lawine nicht entscheiden. Ein Theaterabend ohne Geheimnis. Dieses Freiheits-Potpourri, es erzählt leider nichts Neues." Der stärkste Teil sei das Finale mit "Maria Stuart", der "zwei weibliche Clowns, die das Rollenspiel der Macht überhöhen und ausreizen bis zur Selbstaufgabe", präsentiere.

"Die größte aller Pathos-Formeln bei Schillers an Pathos-Formeln reicher Literatur kann ein Regisseur, der auf Moral stets mit Ironie reagiert hat, natürlich nicht als ernsten Schulstoff aufführen", so Till Briegleb in der Süddeutschen Zeitung (31.8.2020). Also hätten Nunes und Dramaturg Matthias Günther "an diesen Abend, der drei Schiller-Stoffe zu drei Einaktern kürzt, Sinn und Wortlaut der Vorlagen recht frei umgestaltet". So sei etwa "Wilhelm Tell, der bewaffnete Nationalist mit den kernigen Sprüchen, in Nunes' Ode zu einer Art Reichsbürger." Das Thalia Theater, von dem Nunes sich in dieser Saison verabschiedet, erscheint dem Rezensenten dann zum Schlussapplaus gar selbst "ein bisschen wie ein gealterter Nationalstaat", in dem "eine Freiheit ohne Demokratie herrscht, und Kunst eine Sache von Treueeiden ist. Oder?"

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