Warten auf Godot - Schauspiel Köln
Eine Herberge für das Chaos
von Gerhard Preußer
Köln, 4. September 2020. Soviel Anfang mit soviel Nichts war schon lange nicht. Warten musste man ja: in der Schlange vorm Supermarkt, auf die nächste Klopapierlieferung, auf die Testergebnisse. Nun sind sogar die Theater wieder da, sie spielen wieder. Und wie! Mit Godot, dem großen Niemand, fängt das Schauspiel Köln an und beendet das Warten aufs Theater.
100 Zuschauer, vier Schauspieler, alles umgekehrt
Jan Bosses Inszenierung trägt die Spuren der Wartezeit: Abstand überall, Abstand zwischen den Zuschauern, Abstand zwischen den Schauspielern, Abstand zum Stück, Abstand zur Inszenierungstradition. Kein Bäumchen darbt im Hintergrund der Bühne, keine Bowler-Hüte für Wladimir und Estragon, kein Seil für Lucky. Alles ist verkehrt. Die Zuschauer sitzen auf der Bühne, die Schauspieler turnen durch die Sitzreihen (keine ganz neue Inversionstechnik).
Verkehrte Welt: Peter Knaak, Bruno Cathodes, Justus Maier, Jörg Rathjen im vormaligen Zuschaer*innenraum
© Birgit Hupfeld
Nur an die hundert Zuschauer verfolgen vier Schauspieler, wie sie die weißen Hussen abziehen, die noch wie zu Lockdown-Zeiten säuberlich nummeriert über die unbenutzten Reihen gehängt sind. "Hier fehlt es ja nicht an leerem Raum", sagt Estragon in der riesigen Halle des Depot 1 vor dem Häuflein Zuschauern. "Leerer Raum" – das ist Existenzialanalyse, Theatertheorie und Pandemie-Folge in einem. Aber die Inszenierung hält sich zurück mit solchen Deutungen. Es wird gespielt, so komisch wie möglich.
Erst Tanzen, dann Denken!
Wladimir (Peter Knaack) und Estragon (Jörg Ratjen) stecken zunächst in unförmigen bunten Kapuzenmänteln, aus denen sie sich langsam herausschälen. Sie treiben ihre Späße zum Zeitvertreib. Und wenn einem eine gute Nummer einfällt, steigt er auf den kleinen Tisch, den man zwischen die Stuhlreihen gestellt hat, und zieht eine große Show ab.
Das wird besonders lebhaft, als Pozzo erscheint. Wenn jemand aus einem Nichts einen großen Auftritt machen kann, dann ist es Bruno Cathomas. Er dröhnt mit seinen Stimmübungen von der Beleuchterbrücke im Hintergrund, röhrt eine Arie und verheddert sich dann in banalen Wiederholungen. Dieser Pozzo ist weniger ein Tyrann als ein Entertainer, der sich zu seiner Selbstfeier mit rotem Glitzerkonfetti bewirft. Bei seiner Elegie auf den Abendhimmel wird es dunkel und rot leuchtet das Licht auf ihm. "Hinter dem Schleier süßen Friedens, galoppiert die Nacht und überfällt uns. So geht das Leben." Beifall verbittet er sich.
Dancing Lucky (Justus Maier) © Birgit Hupfeld
Aber auch Lucky (Justus Maier) kommt groß raus. Sein Tanz wird akustisch aufgemöbelt durch das Drum Set (live: Carolina Bigge), das schon die ganze Zeit über alle Dialoge untermalt und in die Sprache der Rhythmen übersetzt hat. Nun peitscht es Lucky auf zu einer veritablen Soloperformance im funkelnden Discolicht. "Auf den Flügeln der Talentlosigkeit gleiten wir in den Abfluss", nennt Estragon diesen Tanz. "Erst Tanzen, dann Denken", das sei die natürliche Abfolge, meint Pozzo. Und auch Luckys zerbrochene Denktirade über den persönlichen Gott und die Fortschritte der Menschheit geht über in einen zuckenden Tanz der Wörter und Glieder. Den Zustand der Welt durch Denken erfassen zu wollen, ergibt nur einen lächerlichen Krampf. Die Aufgabe des Künstlers heute, meinte schon Beckett, sei es, eine Form zu finden, die das Chaos, die Formlosigkeit, beherbergt. Im ehemaligen Kabeldepot des Kölner Schauspiels hat das Chaos eine geräumige Herberge gefunden.
Dokument des Verlusts
Und wenn die Zuschauer dann doch dahindämmern, geht auf der (Zuschauer-)Bühne das Licht an und man spricht uns an, als seien wir die Hirtenknaben, die Botschaft bringen von Godot: "Nein, heute kommt er nicht, aber morgen." Dann geht es weiter mit dem Warten und den Späßen. Es wird alles schlimmer – auf Abstand. Die Prügelei: Mit Distanz wird Lucky von Estragon mit abmontierten Sitzteilen vermöbelt. Nicht mal umarmen können sie sich hinterher, geschweige denn zu viert sich auf dem Boden wälzen wie bei Beckett vorgesehen. Wladimir wärmt sich an einem Feuerchen, zu dem er die Bestuhlung als Brennholz verwendet. Der nun stumme Lucky zieht den nun blinden Pozzo hinter sich her. Der Knecht ist nun der Herr. Wladimir malt noch sein berühmtes, düsteres Bild der menschlichen Existenz aus: "Rittlings über dem Grabe und eine schwere Geburt. Aus der Tiefe der Grube legt der Totengräber träumerisch die Zangen an." Dann ist das Stück vorbei und das Warten nicht.
Jan Bosses Inszenierung enthält sich glücklicherweise fast aller aktueller Pandemie-Anspielungen und aller existenzphilosophischer Deutungshuberei. Aber sie ist auch ein Dokument des Verlusts, des Verlusts an sinnlicher Fülle und atmosphärischer Dichte des Theaters unter den Bedingungen der durch die Pandemie verursachten Hygieneverordnungen. Sie ist ein Anfang. Warten wir weiter.
Warten auf Godot
von Samuel Beckett, Deutsch von Elmar Tophoven
Regie: Jan Bosse, Bühne: Moritz Müller, Kostüme: Kathrin Plath, Musik: Arno Kraehahn, Carolina Bigge; Licht: Michael Gööck, Dramaturgie: Gabriella Bußacker.
Mit: Bruno Cathomas, Peter Knaack, Justus Maier, Jörg Ratjen; Live-Musik: Carolina Bigge.
Dauer: 2 Stunden 20 Minuten, keine Pause
www.schauspiel.koeln
Die Bizarrerien von "Warten auf Godot" seien bei Bosse "in guten Händen", konstatiert Patrick Bahners in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung (7.9.2020). Seine "klugen Schauspieler" verstünden sich darauf, "sich halb dämlich zu stellen, wenn sie sich vom wuchernden Sprachmaterial umschlingen lassen, ohne dass Lebensgefahr aufkommt".
"Regisseur Jan Bosse verzichtet in seiner ersten Arbeit fürs Schauspiel Köln seit elf Jahren auf allzu direkte Anspielungen", berichtet Christian Bos im Kölner Stadtanzeiger (7.9.2020). "Die ergeben sich hier von selbst." Es habe schon komischere Didi-und-Gogo-Paarungen gegeben als Peter Knaack und Jörg Ratjen, "aber das liegt vor allem daran, dass es gerade schwerer fällt, die Komik im Absurden zu erkennen, als den Schrecken". Auf die ausgehungerten Zuschauer wirke Bosses Bestandsaufnahme geradezu befreiend: "Von hier aus kann es weitergehen."
Ein "fats idelaes Pandemie-Symbol" entdeckt auch Hartmut Wilmes in der Kölnischen Rundschau (7.9.2020) in Becketts "Warten auf Godot". Bosse packe die Frustrierten immerhin in eine bunte Endlosschleife, lasse die Figuren mit zunehmender Dauer aber immer tiefer in diese schwarzen Löcher fallen. Am Ende verebbten die Gags, erscheine jener finstre Hintergrund, "gegen den hier so tapfer und insgesamt ansehnlich angespielt wurde".
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