Klebrige Süße der Verlorenheit

von Stefan Forth

Hamburg, 5. September 2020. Erregung sieht nur live wirklich gut aus. Allein deshalb ist es ein Ereignis, dass Frank Castorf wieder Bühnen bespielen und besudeln lassen kann. Sein Überforderungstheater ist ein verdammt anpassungsfähiger Apparat, der im Zweifel auch in pandemiefreundlichen knapp zwei Stunden und auf Abstand funktioniert. Das hat der Altmeister der brachialen Bühnendekonstruktion jetzt in der Staatsoper Hamburg unter Beweis gestellt. Seinen dortigen Parforceritt durch die musikalischen Genres und Epochen nennt Castorf "molto agitato".

Verzweiflung an der Welt

Eigentlich sollte es zur Saisoneröffnung an der Staatsoper "Boris Godunow" geben. Castorf hätte mit seinem Debüt an dem traditionsreichen Haus einmal mehr die russische Seele ausloten können. Nun sind die Zeiten aber andere, große Operninszenierungen gerade schwer stemmbare Gratwanderungen. So widmet sich der frühere Intendant der Berliner Volksbühne einem anderen seiner Leib- und Magen-Themen: der Kritik am Kapitalismus US-amerikanischer Prägung.

MoltoAgitato2 560 MonikaRittershaus uSplitter des amerikanischen Albtraums: Valery Tscheplanowa © Monika Rittershaus

Vordergründig hat der Abend erstmal vieles von dem, was einen typischen Castorf in den vergangenen Jahren ausgemacht hat: perfektionierte Livevideos auf großen Leinwänden, Ausgeliehenes aus Hollywood und der restlichen Popkultur, Frauen, die ebenso sexy sind wie durchsetzungswillig, Cowboys, die ebenso gewaltbereit sind wie verloren. Und obendrauf: eine Prise abgeschmackten Glitzerglamours, hinter dem die allgemeine Verzweiflung an der Welt durchscheint. Irgendwie alles beim Alten also und doch erfindet Castorf mit "molto agitato" gleichzeitig sich selbst und das Musiktheater ein Stück weit neu.

Offene Räume in Zeiten geschlossener Gesellschaften

Das fängt schon bei der Auswahl der Stoffe an, die dieser Produktion zugrundeliegen. Natürlich lassen sich Verbindungslinien ziehen (Liebe und Gewalt gehen ja sowieso irgendwie fast immer). Aber streng genommen passt da erstmal hinten und vorne nichts zusammen: der barocke, in der griechischen Mythologie badende Händel ("Aci, Galatea e Polifemo"), das romantische Genie des Johannes Brahms ("Vier Gesänge op. 43"), das lautmalerische Kauderwelsch eines György Ligeti von 1965 ("Nouvelles Aventures") und – als Finale – "Die sieben Todsünden", jenes "Ballett mit Gesang", das Kurt Weill im Pariser Exil geschrieben hat: eine letzte Zusammenarbeit mit Bertolt Brecht. Dazu kommen Sequenzen aus Quentin Tarrantinos Gangsterfilm Reservoir Dogs. Von Opulenz über Schmacht bis hin zum Vaudeville, zu Trash, Pop und zu musikalischer Ironie ist alles dabei.

Zwischen Irritation und Assoziation lässt Castorf so anstelle irgendwelcher größerer Handlungslinien oder gar Figurenzeichnungen vor allem eins entstehen: Gedankenfreiheit, offene Räume in Zeiten geschlossener Gesellschaften. Schon Aleksandar Denics Bühne überrascht durch demonstrative Leere, eine ausgestellte Nacktheit bis zu den hinterletzten Mauern und obersten Beleuchterbrücken. Irgendwo hinten blenden dann und wann dutzende Glühbirnen an einer großen fahrbaren US-Flagge auf. An den Seiten werfen Scheinwerfer mit kaltem, weißen Licht Schatten und verwandeln die Weite der Bühnenmitte in einen glanzlosen Laufsteg für vereinzelte Spielerinnen oder Sänger, die aus einem filmisch übertragenen plüschigen Wohnzimmer im Off ihren Weg an die Rampe finden.

Risikobehaftete Speichelfetzen

In solchen Momenten geht's meistens zur Sache: Das Ensemble ist klein, handverlesen und überragend. Fast schon egal, wer hier Sängerin ist oder Sänger (vier sind es an der Zahl, fein nuanciert in der Stimme wie im Spiel, alle mit spürbar großer Lust bei der Sache) und wer die Schauspielerin (Castorf hat die Ausnahmekünstlerin Valery Tscheplanowa mitgebracht, die einmal mehr auftrumpfen kann). Eins sind sie sowieso alle: molto agitato, also hochgradig erregt und ziemlich in Wallung.

MoltoAgitato1 560 MonikaRittershaus uBrillante Live-Kameraführung: Matthias Klink, Georg Nigl, Katharina Konradi, Jana Kurucová, Valery Tscheplanowa und Videoteam © Monika Rittershaus

Wer will, kann das natürlich als Kommentar zur derzeitigen Weltlage verstehen. Die lässt sich ja sowieso schwer völlig verdrängen. So ist es wohl kein Zufall, dass die souveräne bis brillante Livekameraführung von Severin Renke und Andreas Deiner immer wieder die Gesichter und Münder der Sängerinnen und Sänger fokussiert – bis irgendwann die risikobehafteten Speichelfetzen fliegen. "Ich habe das verdammte Gefühl, ich habe die Seuche," bemerkt irgendwann der mit großem tragikomischem Talent ausgestattete Bariton Georg Nigel. Und der darstellerisch beeindruckend wandelbare Tenor Matthias Klink muss sich sagen lassen: "Mach Dir keine Sorgen, Matthias. Das wird alles noch schlimmer."

Trotz solcher Verweise ins Hier und Jetzt ist "molto agitato" weit mehr als Castorfs Coronakommentar. Der Abend zielt darüber hinaus in die Ausweglosigkeit der menschlichen Existenz, der Kapitalismus und Coca-Cola zwar etwas entgegenzusetzen versprechen, aber dann doch nur moralinsaure klebrige Süße über Verlorenheit und Verzweiflung kleistern.

Brüchige Glamourbrutalität

Nicht umsonst kulminiert der Abend in der Geschichte der Anna aus Weills "Sieben Todsünden". Valery Tscheplanowa singt und spielt diese holzschnittartige Doppelkarikatur einer Figur mit brillanter Leichtigkeit und großem Körpereinsatz im engen knallroten Lackanzug, der viel helle Haut durchscheinen lässt. Ihre Familie schickt sie quer durch die USA, um Geld ranzuschaffen, damit's endlich was wird mit dem eigenen Heim. Denn: "Der Herr erleuchte unsere Kinder, dass sie den Weg erkennen, der zum Wohlstand führt." Allzu große Skrupel sind dabei nur hinderlich, aber zum Glück hat sich der Kapitalismus ja seine eigene Moral geschaffen. Wie viele Menschen wohl genau daran verzweifelt sind, die in den vergangenen Jahren ihren Weg übers Mittelmeer nach Europa geschafft haben?

MoltoAgitato3 560 MonikaRittershaus uSieben Todsünden: Valery Tscheplanowa © Monika Rittershaus

Immer wieder kann einem dieses "molto agitato"  in seiner poppigen, brüchigen, dichten Glamourbrutaliät ziemlich nah gehen. Zwar ist nicht alles pures Gold, was hier glitzert. So ist Castorf etwa zu Händels "Aci, Galatea e Polifemo" szenisch nicht viel mehr eingefallen, als die Geschichte des Riesen Polyphem, der den Geliebten seiner Angebeteten mittels Felswurf um die Ecke bringt, neben dem Gesang noch in einen soft-pornösen Trash-Zeichentrickfilm zu klonen. Gerade in solchen schwächeren Bühnenmomenten fällt aber umso mehr auf, wie lässig und dynamisch der Hamburger Generalmusikdirektor Kent Nagano und die Mitglieder der Philharmonischen Staatsorchesters die Inszenierungsschleifen durch die Musikgeschichte begleiten.

Das Ergebnis ist ein überzeugendes multimediales Gesamtkunstwerk, ein spannendes Spiel mit veränderten Regeln, ein ungemein lebendiges Stück Theater. Die Hamburgische Staatsoper startet mutig in die neue Spielzeit – und macht aus Risiken Chancen, aus Problemen Perspektiven. Beeindruckend!

 

molto agitato
mit Kompositionen von György Ligeti, Johannes Brahms, Georg Friedrich Händel und Kurt Weill
Regie: Frank Castorf, Musikalische Leitung: Kent Nagano, Bühne: Aleksandar Denic, Kostüme: Adriana Braga Peretzki, Video: Andreas Deinert, Kathrin Krottenthaler, Severin Renke, Licht: Lothar Baumgarte, Dramaturgie: Johannes Blum
Mit: Matthias Klink (Tenor), Katharina Konradi (Sopran), Jana Kurucová (Mezzosopran), Georg Nigl (Bariton), Valery Tscheplanowa, Philharmonisches Staatsorchester Hamburg
Premiere am 5. September 2020
Dauer: ca. 1 Stunde 55 Minuten, keine Pause

www.staatsoper-hamburg.de

 

Kritikenrundschau

Die Hamburger Saisonpremiere, "am Ende gefeiert", habe "ein Dringlichkeitsproblem", findet Wolfgang Schreiber in der Süddeutschen Zeitung (7.9.2020). Castorf arrangiere, halb Konzert, halb postdramatisches Spiel, eine Musikmixtur, nicht "Oper" – eine Abfolge musikalischer Nummern, die willkürlich erscheine. "Castorf braucht starken Tobak, und so mischt er Sex und Mord aus Quentin Tarantinos absurden Giftküchen wie ein Gift zwischen die lyrischen Nummern." Erst mit den "Sieben Todsünden" erreiche "die Castorf-Show mit knalligen Effekten ihr Glamourzentrum, auch dank der brillant lasziven Anna (Valery Tscheplanowa)".

Ähnlich urteilt Jörn Florian Fuchs auf Deutschlandfunk Kultur (5.9.2020): In "molto agitato" fänden sich Motive aus vielen Castorf-Inszenierungen. "Das Hauptproblem an diesem Abend ist: Es gibt sehr viel unterschiedliche Musik und keine wirkliche Verbindung. Es gibt große Leerstellen." Die Schwierigkeit sei, dass man auf der großen, weitestgehend leeren Bühne sehr lange brauche, um von der einen zur anderen Seite zu laufen. "Und da passiert tatsächlich oft gar nichts. Es hängt alles ziemlich luftleer im Raum und ist zu statisch. Das hat alles szenisch nicht richtig gezündet.“

"Zum Erlebnis wurde der Abend vor allem wegen der fulminant hochtourigen Sänger und Sprecher", findet Peter Jungblut auf BR Klassik (6.9.2020), darunter "Valery Tscheplanowa, die als Anna in den 'Todsünden' von Brecht und Weill mit furiosem Körpereinsatz loslegte". "Auch alle anderen zeigten sich hoch motiviert und gaben eine lustvoll qualmende und lässig chillende Castorf-Familie mit starkem Hang zum Wahnsinn."

Überraschend geneigt, bespricht der Musik- und Gesang-Spezialist Jürgen Kesting in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung (online 9.9.2020, 14:59 Uhr) den Abend: Die "Collage von Versatzstücken", die einen "symbolisch-verweisenden Charakter haben", entwickle zunehmend einen "seltsamen Reiz". Durch die "phonetisch-musikalische Musik" von Ligeti bekämen die Lieder von Johannes Brahms eine "geradezu desperate Dinglichkeit" (sic!). "Die sieben Todsünden" von Kurt Weill gerieten zum "Höhepunkt des Abends". Nicht weniger eindringlich als Kent Naganos "vielgerühmte Interpretation", zuerst vor 20 Jahren in Lyon, sei die "geradezu explosive Darstellung" durch Valery Tscheplanowa.

 

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