Glaube? Liebe? Hoffnung?

von Wolfgang Behrens

Berlin, 9. Oktober 2008. "Eine Frau ist am Düsseldorfer Flughafen vor den Augen zahlreicher Fluggäste in den Tod gesprungen. Nach Polizeiangaben ereignete sich das Unglück am Freitagnachmittag auf dem Parkdeck 25. Von dort aus ist die Frau, deren genaue Identität noch nicht bekannt ist, gesprungen." Notizen dieser Art – diese hier ist eine knappe Woche alt – füllen täglich die Vermischten Meldungen der Zeitungen: Man liest sie, man vergisst sie. Dass die lakonische, mitunter fast unbeholfene Kürze der Nachricht die Geschichte eines ganzen Menschenlebens verbirgt, überschreitet dabei kaum je die Aufmerksamkeitsschwelle.

Moderner Horváth

Bei manchen Lesern ist das anders: Ödön von Horváth etwa hat vor 70 Jahren aus einer Zeitungsnotiz über den Selbstmord einer jungen Frau sein Drama "Glaube Liebe Hoffnung" gestaltet. In unerbittlicher Logik treibt darin eine bürokratisch gesinnte und hartherzige Gesellschaft die Protagonistin Elisabeth in den Tod. Und 2002 brachte der schwedische Regisseur Lukas Moodysson einen Film heraus, dem ebenfalls eine kurze Nachricht aus den Meldungsspalten zugrunde lag und der wie ein moderner Horváth wirkte: "Lilja 4-ever".

Auch in "Lilja 4-ever" ist es eine hemmungslos selbstsüchtige Gesellschaft, die einem 16-jährigen Mädchen zuletzt den Selbstmord als einzige Alternative erscheinen lässt. Irgendwo auf dem Gebiet der ehemaligen UdSSR wird diese Lilja von ihrer Mutter allein zurückgelassen, weil sie mit einem Lover ins Glück verheißende Amerika geht und hierbei in der Tochter nur ein Hindernis erblickt. Liljas Umfeld bietet ihr in den puren Existenznöten, in die sie auf diese Weise gerät, keinerlei Rückhalt – weder die Tante, der das Mädchen nur lästig ist, noch das Sozialamt, das mit der Situation genauso überfordert ist wie Lilja selbst. Andrej, der nette junge Mann, den sie schließlich kennenlernt, erweist sich als Schleuser, und das bessere Leben, das er ihr in Schweden verspricht, entpuppt sich als das einer Zwangsprostituierten. Im fremden Land von jedem sozialen Kontakt abgeschnitten, springt Lilja in den Tod.

Gnadenlose Geschichte mit Wärmezonen

Liljas Geschichte haftet etwas Gnadenloses an, und doch erzählt sie auch auf schöne und anrührende Weise von Glaube, Liebe und Hoffnung, und es ist das Verdienst der Inszenierung Felicitas Bruckers, diesen Aspekt in den Vordergrund zu rücken. Brucker lässt die grausamsten Szenen des Films – die Vergewaltigungen durch den Zuhälter, die Nötigungen von den Freiern – nicht naturalistisch nachspielen, sondern vertraut sie der Erzählstimme Julika Jenkins' an, der mit Mutter, Tante und Frau vom Sozialamt auch sonst die Rollen des kalt-feindlichen Prinzips in giftgelbem Pullover zukommen. Liljas Freundschaft zu dem Nachbarsjungen Volodja erhält dagegen breiten Raum; von ihr bezieht die Geschichte ihre Wärme.

Felicitas Brucker zeigt uns beide, Lilja und Volodja, an der Schwelle vom Kind zum Erwachsenen. Den Volodja hat sie dazu doppelt besetzt: mit dem erst 16-jährigen Arthur Romanowski, der eine Melange aus Verspieltheit und pubertierender Verstocktheit darstellerisch erstaunlich reif zu füllen vermag; und mit Max Simonischek, der für die erwachseneren, nicht zuletzt sexuellen Bedürfnisse Volodjas einsteht. Simonischek wird später auch in die Rollen des zynischen Liebhabers und Menschenhändlers Andrej und eines Freiers schlüpfen: über die Identität des Schauspielers vermittelt sich so ein fortschreitender männlicher Verrat – aus dem unschuldigen Erwachen der Sexualität wird das Vorspielen falschen Gefühls und zuletzt das brutalstmögliche Geschäft der Liebe.

Britta Hammelstein!

Lilja begeht keinen vergleichbaren Verrat: Sie bewahrt in sich das zu unvoreingenommener Zuneigung fähige Kind, auch wenn sie durch die Erfahrung sexueller und sonstiger Demütigungen früher erwachsen geworden ist, als es ihr lieb ist. Wie aber die 27-jährige Britta Hammelstein auf dieser "Not a girl, not yet a woman"-Grenze balanciert, das ist es, was von dieser Aufführung in Erinnerung bleiben wird.

Da gehen die nestelnden Gesten der Unsicherheit, denen bei Britta Hammelstein nichts Aufgesetztes oder Angelerntes eignet, nahtlos in solche der wilden Entschlossenheit über. Da weicht das kindlich-verlegene Lächeln auf ihrem Gesicht in jähem Umsturz dem leeren Blick in die Verlorenheit, um kurz darauf in aller Unschuld zurückzukehren, wenn sie Volodja mit dem Geld ihrer ersten verkauften Liebesnacht einen Basketball schenkt. Da wechseln Augenblicke größter Verletzlichkeit schlagartig mit halsbrecherischen Kraftausbrüchen – wann hat man je ein Mädchen mit solcher Wut gegen eine Wand anrennen sehen? Und weil Britta Hammelstein ihrer Lilja soviel Empathie und Glaubwürdigkeit verleiht, trifft einen ihr Ende umso härter. Ein Ende, das im traurigen Normalfall zu nichts als einer kurzen Zeitungsmeldung taugt.

 

Lilja 4-ever
nach dem gleichnamigen Film von Lukas Moodysson, Deutsch von Hansjörg Betschart. Für die Bühne eingerichtet von Felicitas Brucker und Andrea Koschwitz. Regie: Felicitas Brucker, Bühne: Ulrike Siegrist, Kostüme: Sara Schwartz. Mit: Britta Hammelstein, Max Simonischek, Arthur Romanowski, Julika Jenkins, Ulrich Anschütz.

www.gorki.de


Im April 2008 gab es an den Münchner Kammerspielen bereits eine Bühnenadaption von Lukas Moodysoons Film, inszeniert hat damals Roger Vontobel.

 

Kritikenrundschau

Die Hauptdarstellerin in Felicitas Bruckers "Lilja 4-ever"-Inszenierung am Gorki-Theater, Britta Hammelstein, habe ein "vielversprechendes Berlin-Debüt" gegeben, meint Anne Peter in der Berlin-Ausgabe der tageszeitung (11.10.2008): "Ein schlenkerbeiniges Energiebündel in zu großen Tennissocken. Eine zierliche Blitzaugenwüterin unterm dunklen Fransenpony." Selbst wenn sie sich weißen Puder aufs Gesicht kippe, einen Lidschattenstreifen über die Augen schmiere und achtlos das Rot auf die Lippen male, sei "diese Lilja vor allem eins: ein verkleidetes Kind". Dass die Regisseurin Felicitas Brucker in die Filmvorlage einige Dostojewski-Passagen einsprengselt, gehe hingegen nicht auf. Auch sonst spreche dieser Abend "überflüssigerweise einiges aus, was im Film bloß angedeutet wird, und bekommt zum Ende hin dann durch die distanzierenden Beschreibungspassagen doch einige Längen".


In der Berliner Zeitung (11.10.2008) findet Dirk Pilz in der "Lilja"-Aufführung einige "Regie-Setzungen, die mit dem sozialkritischen Finger wedeln und mitunter scharf an der Banalität vorbeischrammen, zumal der Abend seinen Ehrgeiz gerade nicht auf Gesellschaftsanklage setzt. Denn Brucker, die junge Regisseurin mit Hang zur Überdeutlichkeit, nimmt das Lilja-Leiden vor allem als Parabel über das Erwachsenwerden in den kalten Zeiten eines entfesselten Selbstverwirklichungskapitalismus." Lilja werde von Britta Hammelstein gespielt, "als gelte es eine Welt zu retten, von der sie weiß, dass sie der Rettung nicht würdig ist". Überhaupt sei Britta Hammelstein ein Name, den "man sich jetzt merken" müsse. Sie "vermag eine einzige Silbe mit so viel Energie aufzuladen, als hätte sie Jahre alles dafür aufgespart", und sie sei "eine Meisterin des Unvermuteten – Winzigkeiten genügen ihr, um eine Gefühlslage ins Gegenteil kippen zu lassen."

Britta Hammelstein kann auch Christine Wahl im Tagesspiegel (12.10.2008) beeindrucken, indem sie die "von jeder Menge potenzieller Pathos-Näpfe gesäumte Titelrolle völlig unsentimental und mit einer immensen Kraft" spiele. Zwar weiche auch Brucker nicht grundsätzlich von jener Regel ab, nach der sich die Film-Zweitverwertung im Theater oft in einem "Nacherzählungsaufguss mit beschränkteren Mitteln" erschöpft, allerdings seien in ihrer Inszenierung "durchaus bemerkenswerte Details" zu entdecken. Die Regisseurin ersetze "den filmischen Sozialrealismus durch die Modellhaftigkeit einer grauen Kastenbühne" und spitze z.B. durch die Mehrfachbesetzungen "einige Aussagen deutlich zu". Bisweilen schnurre hier in einem Bild "ein ganzer Gegenwartsdiskurs zusammen", etwa wenn Lilja "in einer unglaublich gekonnten kindlichen Linkischkeit (...) die Pop-Inszenierung vom jungfräulichen Luder" Britney Spears aufrufe und mit dieser "Lolita- Nummer" ziemlich viel und Komplexes "über den gesellschaftlich-sexuellen Status quo" erzähle.

 

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