Die große (An)klage

von Andrea Heinz

Wien, 12. September 2020. Man hatte fast ein kleines Déja-vu bei der österreichischen Erstaufführung von Thomas Köcks antigone. ein requiem im Akademietheater: Eine finstere Bühne, der Chor, die Flüchtlinge. Man denkt sofort an Elfriede Jelineks "Die Schutzbefohlenen", die 2015, wenn auch im Burg-, nicht Akademietheater, aufgeführt wurden. Damals war die sogenannte Flüchtlingskrise auf ihrem sogenannten Höhepunkt. Heißt: Sehr viele Menschen waren an Leib und Leben bedroht, versanken in Elend, hatten kein Zuhause mehr – und sehr viele andere Menschen schauten zu oder weg, während sie gleichzeitig von Humanität redeten. Wahrscheinlich hatten sie sogar recht, wahrscheinlich ist nichts menschlicher als das. Nichts ungeheurer als der Mensch.

Nichts ist ungeheurer als die Toten

Recht viel geändert hat sich nicht seit 2015, die Kriege sind immer noch da, die Menschen flüchten immer noch und die europäischen Politiker*innen sind immer noch europäische Politiker*innen. Als gestern das Premierenpublikum vor dem Burgtheater wartete, gab es direkt davor auf der Ringstraße eine Kundgebung gegen die europäische Flüchtlingspolitik. Einen Tag später hatte nun, zufällig, weil von dem Brand in Moria ja niemand wissen konnte, Köcks Sophokles-"Rekomposition" "antigone. ein requiem" Premiere.

AntigoneRequiem2 560 MatthiasHorn uDas Recht der Menschen höher schätzen? Bewohner von Thebanisch-Europa.  © Matthias Horn

In diesem "thebanischeuropäischen" Staat ist nichts ungeheurer als die Toten, die das Meer zuhauf anspült. Weil sie den Menschen ihre Schuld vor Augen halten, ihr Versagen, ihre eigene Zukunft. Also wird per Gesetz verboten, diese Toten in die Stadt zu holen und zu begraben. Aus den Augen, aus dem Sinn, europäische Flüchtlingspolitik halt. Bei Sophokles lehnt Antigone sich auf, weil sie das Recht der Götter höher schätzt als das der Menschen – bei Köck ist es das Menschenrecht, das ihr wichtiger ist als das der, nun ja, Menschen. Und Köck wäre natürlich nicht Köck, würde er das alles nicht mit einer gewaltigen Anklage gegen unsere Zeit verbinden: Des Spätkapitalismus, des Neoliberalismus, der technokratischen, seelenlosen Politiker in ihren Slim-Fit-Anzügen und mit Worthülsen vor dem Gesicht, auf dass man sie nicht erkennen möge. Außerdem steigen die Meere, die Tiere sterben aus, Bienen gibt es auch bald keine mehr, the end is nigh, nur diesmal wirklich.

Suggestive Musik

Natürlich gibt es auch einen Chor, und den stellt Regisseur Lars-Ole Walburg im Akademietheater auf eine schwarze Rampe. Sonst passiert dann auch nicht viel, Dialog-Szenen wechseln mit chorischen Passagen, der Abend bleibt in seinen kompakten eineinhalb Stunden recht statisch. Ab und zu werden Videos einer Wasseroberfläche an die Rückwand projiziert, dazu gibt es suggestive Musik, manchmal werden die Sprecher*innen mit Echos verstärkt. Wobei verstärken das falsche Wort ist, weil eigentlich ist es umgekehrt: Das ganze nimmt eher Intensität, als dass es sie verleiht. Überhaupt fehlt dem Chor ein wenig die Energie. Man erinnert sich an den Chor aus Jugendlichen in Köcks die zukunft reicht uns nicht (klagt, kinder, klagt!) am Wiener Schauspielhaus, ihre brutale, fast gewalttätige Eindringlichkeit – das fehlt diesem Chor, und das liegt auch an dieser ganzen Dekoration drum herum.

AntigoneRequiem1 560 MatthiasHorn uBildmächtig in Szene gesetzt: der Chor © Matthias Horn

Stark ist der Abend, und zwar in einigen Momenten richtig stark!, vor allem in den Disputen von Sarah Viktoria Frick als Antigone und Markus Scheumann als Kreon. Bei Frick kriegt Köcks Sprache manchmal fast schon etwas lyrisches, und wäre sie eine Demagogin, man würde ihr sofort folgen. Scheumann ist sowieso irre gut als schmierig-glatter, süffisant ins Publikum feixender und mansplainender Herrscher. Bezaubernd auch der kleine Auftritt von Branko Samarovski, der sich als Teiresias beklagt, jetzt wieder in einem Männerkörper gefangen zu sein, weil: ist der nicht "ein tristes verlies ein abgrund emotionaler kälte traurigkeit und kümmernis gemessen an dem einer frau"? "wahrscheinlich deshalb jahrelang der neid die missgunst". Jaja.

Heilige Betroffenheit

Teiresias spricht, weil ja Seher, die Wahrheit – und wird dafür von Kreon als "alter weißer mann" beschimpft. Aber waren die alten, weißen Männer nicht die Bösen? Es ist diese Ambivalenz, diese Uneindeutigkeit, die die Texte von Köck so stark macht. In dieser Inszenierung ist davon nur leider wenig zu sehen oder zu spüren. Vor allem bei Frick und Scheumann gibt es diese Funken, dieses Aufblitzen von ein wenig Ironie, ein wenig: Wirklich? Ansonsten krankt der Abend ein bisschen an seiner Bierernstigkeit, an seiner heiligen Betroffenheit. Das tut dem Text nicht unbedingt gut, und das wüsste eigentlich auch der Text selber: "fällt euch nichts anderes ein als der geschichte klagend flehend nur zuzuschauen bis eure schuldenlast die ihr verursacht wiederkehrt". Sie kehren dann ja auch wieder, die Toten.

 

antigone. ein requiem
von Thomas Köck
nach Sophokles
Regie: Lars-Ole Walburg, Bühne: Peta Schickart, Kostüm: Hanna Peter, Licht: Marcus Loran, Dramaturgie: Tobias Herzberg, Video: Bert Zander, Musik: Lars Wittershagen.
Mit: Sarah Viktoria Frick, Deleila Piasko, Markus Scheumann, Mavie Hörbiger, Mehmet Ateşçi, Dorothee Hartinger, Branko Samarovski.
Premiere am 12. September 2020
Dauer: 1 Stunde 30 Minuten, keine Pause

www.burgtheater.at

 

Kritikenrundschau

"Thomas Köck (34) ist die aktualitätsdramatische Allzweckwaffe dieser noch so jungen und dabei pandemisch schon so stark eingeschränkten Theatersaison. Seine Jamben klappern wohllautend und strotzen doch vor lauter Leitartikelwörtern", schreibt Ronald Pohl im Wiener Standard (13.9.2020) und spricht von einer "mauen Erstaufführung". Das Burg-Ensemble beachtet seinem Eindruck zufolge "brav jede Verszäsur. Nach Art der Beweiswürdigung muss der maskierte Zuseher die Argumente anhören, wägen – und dann doch Antigone das Recht auf Eigensinn zuerkennen." Kaum betroffen verläßt er schließlich "die Wallstätte dieser gesinnungsethisch einwandfreien Unternehmung. Die Toten, heißt es, werden uns auch in Zukunft aufsuchen. Der Migrant ist, sehr frei nach Carl Schmitt, eben nicht unser 'Feind' (im Gegenteil), aber vielleicht 'unsere eigne Frage als Gestalt'. Bis dahin hätte das Theater sehr viel lebendiger zu werden."

"antigone. ein requiem" möchte durch Stille Konzentration erzeugen, mit szenischer Kühle drängenden Themen begegnen - und endet als ein Hochamt der Weltanklage", schreibt Petra Paterno in der Wiener Zeitung (14.9.2020). Zwar baue der Regisseur "ganz auf den Inhalt des Stücks - und widersteht szenischen Spielereien. Das kann leider nicht über die Einförmigkeit des Theaterabends hinwegtäuschen."

"Nicht mehr um ihren aufständischen Bruder Polyneikes geht es bei Köck, sondern um all jene, die auf der Flucht nach Europa den Tod fanden. Im Meer. Am Strand. Oder an den Klippen. Lars-Ole Walburg inszeniert das Stück beklemmend schön und tieftraurig", schreibt Martin Lhotzky von der FAZ (16.9.2020).

Das Stück habe ein paar gute Pointen und halte sich streng ans jambische Versmaß. "Aber verglichen mit den Sprachmassiven, die sich etwa bei Elfriede Jelinek über die Bühne ergießen, ist Köcks Drama nur eine Laubsägearbeit", schreibt Wolfgang Kralicek in der Süddeutschen Zeitung (online am 15.9.2020). "Und leider ist Regisseur Lars-Ole Walburg nichts anderes dazu eingefallen, als das siebenköpfige Ensemble als Chor auf die leere Bühne zu stellen und den Text aufsagen zu lassen."

 

 

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