Kotzen im Unrechtsstaat

von Jan-Paul Koopmann

Bremerhaven, 18. September 2020. Das Elend beim Entrümpeln ist ja: Hat man den Krempel erst aus der Wohnung, geht meist auch die Gemütlichkeit flöten. Dann vermisst man ihn doch, den Plunder, und wird ihn trotzdem – um Himmels Willen – nicht wieder zurückschleppen. Ganz ähnlich verhält es sich mit Juli Zehs "Corpus Delicti" und der inszenatorischen Entschlackungskur, die Magz Barrawasser dem Stück in Bremerhaven verpasst hat. Auch da nagen leider bald Zweifel, ob nicht vielleicht doch etwas dran war an dem geschwätzigen Ballast des Textes.

Weg sind die denunziatorische Nachbarschaft und das Justizpersonal

Darum geht's: 50 Jahre in der Zukunft steht die Menschheit unter der technokratischen Knute von "Die Methode", eines gänzlich auf die Volksgesundheit ausgerichteten Überwachungsstaates, der sich auf Wissenschaft beruft und Unfehlbarkeit behauptet. Nach dem Suizid eines trotzdem fälschlich Verurteilten, gerät dessen Schwester ins Visier der Gesundheits- und Staatsschützer. Weil sie mit ungesundem Stress auf die Situation reagiert, ihr Hometrainer plötzlich zu wenig Leistung ans Gesundheitsamt funkt und sie nicht mal mehr ihre obligatorischen Urinproben einreicht. Nur vom ständigen Erbrechen wissen sie nichts: Weil Mia ihre Kotzschüssel heimlich im Gully entleert, damit die ganze Magensäure nicht die Scanner im Hausabwasser alarmiert.

Corpus Delicti 3 560 HeikoSandelmann uGesellschaftsumspannende Gesundheitsdystopie als Drei-Personen-Stück: Max Roenneberg, Richard Lingscheidt, Juliane Schwabe © Heiko Sandelmann

Während Juli Zehs Text von hier aus einen Justizthriller erzählt und die endlosen Ideologen-Vorträge in die von Natur aus zielgerichtete Form eines Strafprozesses stopft, spart Magz Barrawasser am Personal. Nur drei Figuren dürfen bleiben: der tote Moritz, die mit der Welt hadernde Mia – und Herr Kramer, seines Zeichens Chefideologe des Systems, der hinter den Ermittlungen die Strippen zieht. Weg sind die denunziatorische Nachbarschaft sowie allerlei Strafverteidiger, Staatsanwälte und Richter*innen.

Körpergepanzert gegen die potenziell infektiöse Draußenwelt

So aufgeräumt wie der Text ist auch die Bühne: Ein paar Stoffbahnen baumeln symmetrisch im kargen Raum – ganz in Weiß, wie auch die drei Gestalten, die dazwischen herumschleichen. Ein schöner Einfall übrigens, sie in diese gesteppten Westen zu stecken: gleichzeitig uniformiert, körpergepanzert gegen die potenziell infektiöse Draußenwelt, auch farblich an Sterilität der Klinik erinnernd, vor allem bereits das vor sich hertragend, worum den ganzen Abend geht: das Duell der Weltanschauungen bis aufs Blut. Es sind nämlich Fechtklamotten, die sie da anhaben.

Man merkt: Es ist nicht so, als hätte sich hier keiner Gedanken gemacht. Im Gegenteil liegt das erste Problem des Abend wohl gerade in dieser Dichte. Bei Magz Barrawasser greift alles mechanisch wie geschmiert ineinander und lässt dazwischen Platz für … leider nur noch wenig. Zum Ansetzen fehlen die ganzen kleinen Widersprüche und Blödheiten der gestrichenen Zukunftsmenschen dann doch, die zwar den Plot nicht weiterbringen, aber diese Welt doch erst plastisch werden lassen.

Kaum Raum für die Entwicklung der Rollen(überbleibsel)

Es ist jedenfalls kein Wunder, dass die Bremerhavener ménage à trois das nicht gestemmt bekommt. Sie reden zwar über dies und das, ein Machtwechsel deutet sich an, wird auch exekutiert und bleibt doch in der Luft hängen. Bedauerlich ist auch, dass Max Roenneberg als Bösewicht zwar durchaus fies aus dem Waffenrock guckt, sich dann aber doch schlicht überfordert mit den Überbleibseln der gestrichenen Rollen zeigt, die ihm noch am Hacken kleben. Dann hebt er mal ein bisschen die Stimme, wenn er einen Satz der Richterin nachspricht und wird da auch schon mal ganz kurz sauer – was er als Herr Kramer aber eigentlich erst gegen Ende tut und tun darf.

Vor ähnlichen Schwierigkeiten steht Juliane Schwabez, die als Mia zwischen lauter Rückblenden, Traumsequenzen und Selbstbeschau gar keinen Raum findet, die stringente Entwicklung ihrer Rolle nachzuvollziehen. Dabei wäre sie schon spannend gewesen, die Frage: Was macht's mit einer, die merkt, dass ihre Weltsicht so absurd ist, dass sie eben das schon viel früher hätte merken müssen?

Corpus Delicti 1 560 HeikoSandelmann uPeinsam statt paradiesisch: Äpfel sind für Juliane Schwabe und Richard Lingscheidt verboten © Heiko Sandelmann

Die Dystopie ist unterhalb der staatstheoretischen Reden tatsächlich einigermaßen bescheuert. Da dürfen die Leute keine Äpfel essen, weil unbehandeltes Obst als Naturprodukt per se verdächtig scheint. Das Entfremdungsmotiv ist zwar klar und zaubert auch eine biblisch-paradiesische Sündenmetapher auf die Bühne, ist im Wissenschaftsstaat aber doch eher unglaubwürdig. Und die Banalität, dass nach ein paar Jahren Dauergesundheit keine*r mehr über ein funktionierendes Immunsystem verfügt, soll gegen Ende gar einen kleinen Aha-Moment stiften.

Ergeben hundert autoritäre Einzelteile in Summe (k)eine Verschwörung?

Vollstes Verständnis jedenfalls dafür, den geschwätzigen Zeh-Text einzudampfen. Es ging auch wirklich nicht nur darum, das große Stück Corona-konform auf eine kleine Bühne zu bekommen. In Frankfurt hatte Marie Schwesinger "Corpus Delicti" bereits im vergangenen Jahr so spielen lassen. Und da war die Welt ja schließlich noch in Ordnung. Damals war allerdings auch ein Gedankenspiel über die Gesundheitsdiktatur und den durchideologisierten Journalismus (Sie wissen schon: die Lügenpresse) noch nicht so heikel.

Es lassen sich bestimmt Fragen an den Text stellen, nicht nur weil von Rauchverbot bis zur Überwachungstechnologie einiges ja längst passiert. Und nun eben auch der verordnete Seuchenschutz. Aber anstatt mit Herrn Kramer hier nun einen fiesen Ein-Mann-Staat auf die Bühne zu stellen, wäre doch gerade angesichts Corona zu fragen gewesen, ob hundert autoritäre Einzelteile in Summe vielleicht trotzdem keine Verschwörung ergeben. Vielleicht passiert es nicht, weil man's in Bremerhaven anders sieht – vielleicht aber auch, weil die Inszenierung selbst mit der Axt in der Hand ihren Stoff noch zu ernst nimmt und ihre Figuren zu wenig.

Es bleibt jedenfalls beim öden Duell zweier Verlierer: Der eine scheitert an der viel zu offensichtlichen Beknacktheit seiner Ideologie, die andere an der Belanglosigkeit ihrer Erkenntnisse. Und über allem wabert finster die Erkenntnis, dass der Vernunft gegenwärtig nicht viel Platz bleibt zwischen Autoritarismus und Verschwörungsdenken. Es wäre nur schön gewesen, wenn im Theater so etwas herausgearbeitet würde, anstatt es dumpf vorzuführen.

 

Corpus Delicti

von Juli Zeh / in einer Bearbeitung von Marie Schwesinger
Regie: Magz Barrawasser, Bühne und Kostüme: Rabea Stadthaus, Dramaturgie: Peter Hilton Fliegel.

Mit: Juliane Schwabe, Max Roenneberg, Richard Lingscheidt.

Premiere am 18. September 2020

Dauer: 1 Stunde 15 Minuten, keine Pause

www.stadttheaterbremerhaven.de

Kommentare  
Corpus Delicti, Bremerhaven: sehr gelungen
Die Beschreibung des Kritikers kann ich nicht nachvollziehen. Ich fand die Inszenierung sehr gelungen. Intensiv! Das Ensemble zeigt gekonnt Figuren die alle in einem System gefangen sind. Berührend! Die Bearbeitung des Textes tun dem langatmigen Original gut. Nicht verkürzt, sondern verdichtet! Meiner Begleitung und mir wurde in der Premiere eindrücklich vorgeführt wie nah wir der Idee von "Corpus Delicti" zur Zeit sind. Zum Glück ist "Die Methode" eine Erfindung und wir dürfen das Leben unterschiedlich bewerten. Genau wie ein Theaterstück!
Corpus Delicti, Bremerhaven: großer Theaterabend
Großes Kompliment für Inszenierung, Ausstattung und Präsentation dieser brisanten Geschichte. Bedrückend aktuell, intensiv, und in all der Kargheit schön anzuschauen. Keine Geste, kein Detail und kein Requisit zuviel, konzentriert und dicht, führt dieser Abend den Zuschauer in eine zukünftige Welt, die gerade begonnen hat, Realität zu werden. Der Rezensent beklagt fehlendes Personal auf der Bühne des Kleinen Hauses im Stadttheater Bremerhaven. Ist ihm womöglich entgangen, dass - fatalerweise passend zum Stück - gerade strenge Abstandsregeln gelten?
Braucht es darüberhinaus tatsächlich eine Riege von Nebendarstellern, wenn doch der wunderbar wandelbare Max Roenneberg all diese Personen in Szene zu setzen weiß?
Allein durch Schauspielkunst, die sich der Stimme und Körpersprache bedient, was vom Rezensenten süffisant entwertet wird.
Es zeugt schon von seltener Ignoranz, wenn von „nur“ drei Darstellern über lediglich zwei berichtet wird. Für den dritten, Richard Lingscheidt, fehlen scheinbar die Worte. Weil es nichts zu mäkeln gab? Die Frage sei erlaubt, denn sie drängt sich hier hinsichtlich des groben Verrisses dieses Abends auf.
Die Figur des lebenshungrigen Moritz wird unaufdringlich und grade deshalb so eindringlich von ihm verkörpert, dass man ihm folgen möchte hinter die weißen Gazeschleier, ins Jenseits, wo er postmortem lebendiger ist, als die erstarrte Gesellschaft, aus der sich zu befreien sein Selbstmord als Antwort steht gegen eine totalitäre Macht, die vorgibt, Leben und Gesundheit schützen zu wollen. Um den Preis alles Lebendigem - und trotzdem fehlbar. Die als Höchststrafe für Abweichler und Terroristen „Einfrieren auf unbestimmte Zeit“ verhängt. Also Selbstmord nicht als Flucht sondern als Verweigerung dieser „Strafe“. Das Recht auf den Tod, der doch zum Leben gehört. Als Erinnerung daran. Die Variation des Kostüms erzählt ohne Worte sehr viel über diese Figur und vertieft federleicht und ganz und gar nicht mit der Axt, wie vom Rezensenten
kritisiert, die Geschichte. Julia Schwabe findet als Mia (hier widerspreche ich schon wieder) sehr wohl Raum, ihre wechselnden Gefühle und Erkenntnisse zu entfalten. Man ist gebannt von ihrer sparsamen Mimik, die geboten ist in diesem System, dem Zweifel, der Trauer, dem Trotz und Zerbrechen. Ein großer Theaterabend. Weniger ist mehr. Hier trifft es vollumfänglich zu.
Corpus Delicti, Bremerhaven: fesselnd
Es gilt nicht zu diskutieren, ob man J.Zehs Roman als 3-Personen-Stück spielen kann - das hat Marie Schwesinger in Frankfurt bereits bewiesen. Es gilt zu fragen, wie diese spezielle Fassung in Bremerhaven umgesetzt wurde.
Im Gegensatz zum Rezensenten der Nachtkritik habe ich an diesem Abend eine Fülle von Bilder, Symbolen, Zeichen und Gesten wahrgenommen, die diesem abstrusen und gleichzeitig so aktuellen Text viele feine, kleine Facetten gaben, die seine Problematik deutlich aufscheinen und seine Tiefe erkennen ließen.
So entstand für mich ein fesselndes Spiel, das auch über den aktuellen Bezug hinaus vielfältige Impulse anbot, über die es noch länger nachzudenken lohnt. Mein Fazit: "Minimal art" von hoher Qualität.
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