Gewaltig umwölkte Werkbank

von Tomo Mirko Pavlovic

Stuttgart, 17. Mai 2007. Er bohrt. Er hämmert. Er schleift, schmirgelt, tackert. Doch was er da in der Fabrik in die Regale stapelt, ist kaum mehr als ein Haufen Seelenschrott. Sein fremdbestimmtes Leben hängt im Spind wie ein speckiger Kittel.

Der Genosse Fastnacht kann gar nicht anders ­als schwitzen – und scheitern. Am Ende baumelt seine junge Genossenleiche in irgendeiner schmierigen Halle der Werktätigen. Auch nur so ein DDR-Schicksal, könnte man nach dem ersten Teil des Premierenabends im Theater im Depot des Stuttgarter Schauspiels meinen. Was nicht stimmt.

Thomas Braschs 1977 erschienener Erzählband "Vor den Vätern sterben die Söhne" handelt von der Ausweglosigkeit, vom inneren Verbrennen am lebendigen Leibe. Die DDR ist eine austauschbare Chiffre. Der arbeitende Mensch wird zum Tier, weil er unfrei ist. Braschs Prosa kennt keine Helden, auch keine scheiternden Helden der Arbeit vom Typ Fastnacht. Alles kreist und wiederholt sich nur, obwohl die Systeme sich stets mit neuen Namen maskieren. Ein Drüben gibt es nicht, gab es nie. Das war und bleibt die bis heute gültige Kunst von Thomas Brasch.

Auf Streberschleimspur ausgerutscht

Doch der Dramaturg Jörg Bochow presst und formt aus dieser Prosa mit Gewalt eine stringente Aufstieg-und-Fall-Story mit einer einzigen stahlschnittartigen Hauptfigur, die Boris Koneczny mit seinem meist burschikosen Spiel nur mit Mühe zum Leben erwecken kann. Fastnacht profiliert sich, indem er mehr als andere leistet und der Werksleitung Verbesserungsvorschläge im Akkord zuliefert. Dafür wird er belohnt, mit dem Karrieresprung in das Büro für Neuererwesen. Von dort aus soll er seine neidischen Ex-Kollegen zu mehr sozialistischem Wettbewerb anstacheln. Fastnacht wird korrupt, hurt herum, wird von der Ehefrau verlassen, macht Schulden, wird öffentlich bloßgestellt und wieder an die alte Drehbank geschickt. Dort rutscht er auf der eigenen Streberschleimspur aus und hängt sich auf.

Thomas Dannemanns Inszenierung degradiert die zehn Schauspieler zu Bühnenarbeitern, was nicht verwundern darf, weil alle flirrenden Gedankenströme, das Danebenhinausgefühlte, die nervösen Introspektionen aus der ursprünglichen Textvorlage wie heiße Späne im Abfall landen. Die laxe Regie assistiert der mächtigen Dramaturgie lediglich, indem sie das episodenhafte Spiel auf eine von gewaltigem Getöse umwölkte Werkbank konzentriert, auf der ohne Unterlass gesoffen, kopuliert, gestampft und Text gespuckt wird. Rund um diesen rohsozialistischen Catwalk gibt es dann tatsächlich noch Schauspielkunst zu entdecken, etwa wenn Christoph Gawenda den Rosenau gefährlich wie eine aufgestellte, fleischgewordene Rasierklinge gibt. Eben nicht bloß als exemplarisches DDR-Schicksal, sondern als einzigartigen Menschen, dem die Wut auf sich und das System das Blut in die Augen schießen lässt.

Im Westen wird's nur schlimmer immer

Nach der Pause folgt der nächste Clou des Textmechanikers Bochow: Rainer Werner Fassbinders und Michael Fenglers Bühnenfassung von "Warum läuft Herr R. Amok?". 1969 wurde diese bürgerliche Farce um den kleinen Angestellten und Technischen Zeichner Raab mit Kurt Raab und einer starken Hanna Schygulla verfilmt. Fassbinders Analyse einer bewusstlos gewordenen Angestelltenkaste gerät nie zur Anklage sondern zum tragikomischen Dokument einer Krankheit zum Wahnsinn.

Doch im Theater im Depot werden Brasch und Fassbinder dramaturgisch derartig zusammengeschweißt und übereinandergenietet, dass unmissverständlich die immer selbe Suada ins Bewusstsein dringt: Alles wird immer nur noch schlimmer! Und oberflächlicher obendrein! Vor allem im Westen!

Das Pendant zu Braschs Fastnacht ist im Kapitalismus ein Ja-Sager ohne Rückgrat. Koneczny mimt ihn als einen gesichtslosen Muttersohn und Hausfrauenunterdrücker, der sich im Job nach oben buckelt und bei einer alkoholgeschwängerten Betriebsfeier den Fauxpas begeht, mit dem Chef auf Brüderschaft anstoßen zu wollen. Von hier bis zu den tödlichen Schüssen fehlt nicht mehr viel.

Text als Beiwerk

Dannemann übernimmt das komplette Ensemble aus dem ersten Teil, setzt die Schauspieler um die jetzt blütenweiß gedeckte, mit Edelspirituosen und Kaffee schmuck dekorierte Werkbank, damit die tüchtig befeiert und zugerülpst wird. Anzüge statt Overalls. Mehr Tütü als Wumwum. Raabs Welt ist zu einer sektperlenleichten Partygesellschaft verkommen, erschöpft vom Geschnatter um den nächsten Skiurlaub, die erhoffte Beförderung, den lästigen Erziehungskram. Und schon wieder ist der Text lediglich Beiwerk zum tosenden Gelächter, zu Schlager-Gejaul mit peinlichen Tanzbäreinlagen.

Gabriele Hintermeier weiß sich gegen diese unnötige Temposchärfe zu wehren und macht aus ihrer pointiert gesprochenen Mutter-Raab-Passage eine bissig-fiese One-Woman-Show, womit sie wenigstens ein bisschen am eigentlich brisanten Thema der Fassbinderschen Vorlage kratzt: dem der vorgeblich emanzipierten Frau zwischen Anspruch und gesellschaftlicher Realität in unserer heuchlerischen Geschlechterdemokratie. Raabs persönliches Drama hingegen, seine Angst vor der Angst, sein selbstzerstörerisches Sehnen nach Anerkennung, interessiert niemand mehr, so schnell verrauscht Szene um Szene. Schwamm drüber. Fassbinders Anti-Held war an diesem Abend eh nur der ideologische Steigbügelhalter für einen merkwürdig herbeikonstruierten Proletarier namens Fastnacht, der eigentlich schon immer der bessere Mensch ist. Pardon, war.

 

Vor den Vätern sterben die Söhne/ Warum läuft Herr R. Amok?
von Thomas Brasch/ Rainer Werner Fassbinder und Michael Fengler
Regie: Thomas Dannemann, Dramaturgie: Jörg Bochow.
Mit: Boris Koneczny, Anja Brünglinghaus, Gabriele Hintermaier, Silja Bächli, Ursula Renneke, Peter Loth, Thomas Eisen, Christoph Gawenda, Michael Stiller, Anna Windmüller.

www.staatstheater.stuttgart.de

 

Kritikenrundschau

In den Stuttgarter Nachrichten (19.5.2007) schreibt Armin Friedl, Braschs "Vor den Vätern sterben die Söhne", veröffentlicht 1977, sei von der "Rastlosigkeit geprägt, die charakteristisch ist für viele Beispiele von früher DDR-Literatur". Monologe, Dialoge oder Darstellungen quasi direkt an der Werkbank formuliert, das Resultat seien "reichlich grob geschnitzte Szenerien". Entsprechend "laut und rempelig" gehe es in der Inszenierung zu, "eigentlich wird bald nur noch gebrüllt". "Inhaltlich gebiert dieser Kraftakt nur ein Mäuschen, dennoch gefällt hier der robuste Zugriff auf ein Stück Arbeiteralltag". Im zweiten Teil, dem Fassbinder-Teil, fehle allerdings jeder Zugriff.

In der Stuttgarter Zeitung (19.5.2007) schreibt Adrienne Braun, Dannemanns Inszenierung versuche den "aggressiven Impetus dieses "angry young man", der Brasch war," sichtbar zu machen. "Über lange Passagen hinweg wird im Akkord produziert, und die Schauspieler im Blaumann schleppen, schuften und schinden in blöder Monotonie sich - und das Publikum." Alles zu laut, zu brutal, zu grobschlächtig. Der Regisseur finde "selten das richtige Maß". Er wisse nicht, "wohin er mit dem Stück will, weder inhaltlich noch stilistisch bekommt er es in den Griff." Der Schauspieler Koneczny bleibe "während des mehr als dreistündigen Abends quasi regungslos", die Selbstmorde berührten nicht. Dannemann sei "aus dem Blick geraten, was er mit diesen leicht angegrauten Zeitdokumenten eigentlich erzählen wollte."

Martin Halter schreibt in der FAZ (19.5.2007) über den Brasch-Teil des Abends: "Vor der Pause wird geschuftet und gebrüllt, was das Zeug hält. ... Ein authentisches Produktionsdrama, gefühlte acht Stunden lang, aber hier und heute doch wohl eher ein Missverständnis." Was die Arbeiter im ersten Teil zusammengenagelt haben, schreibt Halter, dient im zweiten, dem Fassbinder-Teil als Parkett. "Dannemann donnert den Mief der Sechziger zur Wirtschaftswunder-Party auf: So kommt Schwung und Witz, wenn auch nicht unbedingt Schärfe oder Präzision in die Sache."

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