Im Klammergriff des Für und Wider

von Dirk Pilz

Oktober 2008. Es gibt in Nicolas Stemanns Inszenierung Die Räuber eine prägnante Szene, in der vier verschwitzte Männer an der Stahlblechrampe thronen und im Chor "Freiheit!" skandieren. Die vier Herren leihen ihre Körper hier dem revoltierenden Karl Moor, der unter Freiheit die Lossagung von jeglicher Tyrannei begreift. Die nächste Sequenz dieses im Sommer bei den Salzburger Festspielen herausgekommenen und jetzt ans Hamburger Thalia Theater übernommenen Abends ist dagegen ein wildes Stimmen-Wirrwarr desselben Chorquartetts, das sich um den Satz "Ich will alles um mich her ausrotten" windet. Es ist ein Wutausruf des Karl-Bruders Franz, der Freiheit als Freibrief zur grenzenlosen Selbstdurchsetzung begreift.

Stemanns Regiewitz dieser Gleichschaltung ist deutlich: Im bösen Franz haust auch ein revoltierender Karl, der hehre Idealismus des Karl ist auch von Franzens nacktem Materialismus angekränkelt. Die Chor-Figuren sind damit durchweg von derselben Krankheit befallen. Es ist die Krankheit der Ununterscheidbarkeit: Jeder ist Karl, alle sind Franz.

Das Zugleich von Himmel und Hölle

Über die Sinnfälligkeit dieser Regieentscheidung hinsichtlich Schillers Textvorlage mag man streiten. Aufschlussreicher ist die Denkungsart, die sich darin offenbart. Stemann radikalisiert seinen Schiller auf den einen Zersetzungspunkt hin, den Zentralsatz Franzens: "Ich bin mein Himmel und meine Hölle." Alle Szenen des Abends sind von diesem unentwirrbaren Zugleich aus Himmel und Hölle durchbebt, weil Stemann in jedem Für das Wider sieht, jedem Einerseits sofort das Andererseits hinzufügt – bis sich alles in völliger Unentscheidbarkeit auflöst. Er versetzt seine Figuren damit in eine undurchdringliche Welt, die jede Utopie und alles Hoffen auf Veränderung undenkbar macht. Für Stemann ist dies eine realitätsgesättigte Beschreibung von Gegenwart.

Er befindet sich hiermit ganz auf der Höhe der derzeit tonangebenden Weltbetrachtungsweise im deutschsprachigen Theater. Dieser zufolge ist einzig ein radikaldialektisches Widerspruchsdenken wahr, kann Wirklichkeit abbilden also nur heißen, deren Zerrissenheit und Abgründigkeit offenzulegen. Was aber derart aufgedeckt wird, soll eine unbestreitbare, letzte Wahrheit sein: Weder im ästhetischen noch im lebenspraktischen und politischen Bereich kann es jene Klarheit geben, der es zu einer eindeutigen Haltung bedarf.

Elaboriertes Achselzucken

Darin drückt sich nicht nur eine Sichtweise auf die Verhältnisse der Gegenwart aus, sondern vor allem eine bestimmte Einstellung zur Geschichte, zum Gewordensein, also zu den für das historische Selbstverständnis leitenden Fragen: Woher kommen wir, wohin gehen wir und was ist der Sinn des Ganzen? Stemanns stellvertretende Antwort für die dominierende Regiegeneration ist ein so ironisches wie elaboriertes und auch hilfloses Achselzucken – eine sinnstiftende Erzählung von Zusammenhängen ist so nicht mehr haltbar.

Dieses Theater der Gegenwart fragt daher zwar eifrig in den Wald der Geschichte, hört als Antwort aber allenthalben die eigene Frage widerhallen und also das Echo des Immergleichen: Himmel und Hölle, Vergangenheit und Gegenwart verschmelzen zu einer "Universalgeschichte" im Sinne Heiner Müllers, wonach Hoffnung allein "ein Mangel an Information" ist.

Für Müller, den offenkundig nach wie vor einflussreichen Theaterdenker, stellt sich die Geschichte als "Krebsgang" dar, "in dem das Ende sich mit dem Anfang verschlingt". Insofern sei zumindest in Westeuropa "keine Geschichte vorhanden". Während Müller aber dennoch nach der "Lücke im Ablauf" fahndete und also das befreiend utopische Moment aufzuspüren hoffte, kündet das Gegenwartstheater auf breiter Linie von radikalem Geschichtspessimismus. Alles Vergangene ist diesem Beleg für die Unmöglichkeit einer widerspruchsfreien Haltung zum Geschichts- und Gegenwartsgeschehen überhaupt.

Spätestens seit 9/11 und den Reaktionen des Westens darauf, scheint dieses Konstatieren von Unübersichtlichkeit auf den Bühnen zum kaum hinterfragten Allgemeingut geworden zu sein – auf welcher Seite die Verursacher und die Verbrecher sitzen, könne und solle auch nicht länger ausgemacht werden, weil sich durch das Knäuel aus Ursachen und Motiven keine zweifelsfreie Linie mehr ziehen lasse.

Unter dieser Annahme verschwindet aber nicht nur die Möglichkeit von Utopie, sondern auch das verantwortliche Subjekt und der Begriff der Verantwortung überhaupt: Keiner ist schuld, alle sind Opfer und Täter gleichermaßen. Ist es so, bleiben dem Theater tatsächlich nur jene kunstreichen Formen eines höheren Abschreibens einer widersprüchlichen Wirklichkeit. Deren angebliche Unveränderbarkeit wird so zementiert.

In der Sackgasse

Wer jedoch so von Geschichte spricht, wird leicht zum Ideologen der Beliebigkeit. Auf diese Weise hat sich das Gegenwartstheater in eine zwar nicht ästhetische, sehr wohl aber inhaltliche Sackgassen-Situation bugsiert. Möglich wurde sie nur auf der Grundlage jener Hoffnung, die notwendig unerfüllt bleiben musste. Das deutschsprachige Theater wollte, vor allem in den 60er und 70er Jahren, der Motor für Gesellschaftsveränderung, Ort des Utopischen sein. Diese Hoffnung aber wurde nachhaltig enttäuscht, sowohl in Ostdeutschland wie im Westen, und diese Enttäuschung prägt zutiefst den heutigen Blick auf die Geschichte.

So kommt es, dass das Gegenwartstheater jetzt eine List der Unvernunft postuliert, die jede Hoffnung auf Veränderung von vornherein für naiv erklärt. Die Verhältnisse warten zwar nach wie vor auf Besserung, aber es ist alles vergebens – das ist der Tenor. Insofern lässt sich der allseitige Umgang mit der Geschichte auch als Trauerarbeit angesichts der Dauerniederlagen der Vernunft (und der Demokratie) lesen. Das Theater stimmt fortwährend Klagegesänge einer Dialektik der Aufklärung an, die – mit Nietzsche gesprochen – das "Zersplittern und Zerfasern aller Fundamente" bestätigen. Den eindringlichsten hat wohl Michael Thalheimer mit seiner Berliner Inszenierung der Orestie bereits vor zwei Jahren angestimmt.

Das Kennzeichen dieser Klagegesänge ist ein Menschen- und Geschichtsbild, das eine endgültige, desillusionierende Aussage über den Menschen und die Geschichte trifft; und gerade in dieser behaupteten Endgültigkeit ist das Theater ideologieanfällig. Bei Stemann ist mit der Geschichte auch der Mensch grundlegend unergründlich, bei Michael Thalheimer wird er als grundböse, bei Frank Castorf als anarchistisch und also unberechenbar, bei Dimiter Gotscheff oder Stephan Kimmig als Verzweiflungsvirtuose gezeichnet.

Neuanfang durch Auslöschung

Es gibt freilich auch die Versuche, zu trauern ohne Letztaussagen über den Ist-Zustand des Menschen zu treffen. Am nachhaltigsten findet er sich vielleicht in Dea Lohers im Mai mit dem Mülheimer Dramatikerpreis 2008 ausgezeichneten Stück Das letzte Feuer. Den Tod eines achtjährigen Kindes nimmt Loher darin zum Anlass, in 33 Szenen die Schuld-Frage zu klären. Ihr kriminologisches Seelenerkundungsstück findet darauf freilich keine Antwort, es führt vielmehr mitten in eine Gemeinschaft von "Versehrten".

Sie leiden alle an der "Grübelstechmarter", weil sie nicht "vergessen (können), was zu vergessen ist": eine Geschichte, die keinen Sinn ergibt. "Ich kann nicht herausfinden, wie das alles zusammenhängt, was Ursache und was Wirkung ist", sagt der Vater des toten Kindes. Er sagt es stellvertretend für alle acht Figuren, die beinahe jede Möglichkeit durchbuchstabieren, sich einen Zusammenhang zu erklären: vom "Schicksal" über den "Zufall" bis zur "Willkür des alten Gottes".

Lohers sprachlich ausgefeilter Text mündet in eine negative, wiederum deutlich von Heiner Müller inspirierte Utopie, in der ein "letztes Feuer" den Neuanfang durch Auslöschung imaginiert. Dass auch solch unerbittlicher (Selbst)Anklage noch viel Bühnenpoesie abzugewinnen ist, hat Andreas Kriegenburgs Uraufführung am Hamburger Thalia Theater vorgemacht – das allgemeine Leiden hat er in eine Drehbühne der Schmerzensarten verlegt. Die Gegenwartsdramatik ist hier mit dem Gegenwartsregietheater ganz auf Du und Du – sie wissen sich als Trauerarbeiter vereint. Als solche inszenieren sie aber keine Geschichtsdramen, sondern Zustandsgeschichten der Geschichte als Drama der Unvernunft.

Das Einzelne und das Ganze

Demgegenüber sehen jene Regieweisen vor allem der älteren Generation auf den ersten Blick altmodisch aus. Sie setzen ausdrücklich auf den historischen Stoff und nicht auf Mentalitätsgeschichte. Die drei großen "Wallenstein"-Inszenierungen in jüngster Vergangenheit stammen bezeichnenderweise von drei Regisseure im Rentenalter, von Peter Stein (in Berlin), Thomas Langhoff (in Wien) und Wolfgang Engel (in Leipzig). Diese Abende eint der Wille, einen historischen Prozess und also auch einen Sinnzusammenhang transparent zu machen. Denn Peter Stein zeigt in seinem "Wallenstein" etwa die Entwicklung einer Figur, er klärt über die Natur des Menschen auf, aber so, dass sich die Feinheiten der Seele zu einem sinnhaften Gesamtganzen fügen.

Stemann dagegen löst seine Figuren in lauter gleichberechtigte Einzelteile auf, die sich zu keinem Sinn und keinem Ganzen mehr fügen lassen. Steins Wallenstein ist einer, der als geschlossenes Subjekt noch prinzipiell lern- und utopiefähig ist; Stemanns Moor-Brüder sind Aufgelöste, Zersplitterte, die ihre Lektion längst gelernt haben, die Lektion, dass diese unsere Welt keinen Ausweg aus den Widersprüchen mehr offen hält. So gesehen haben sich die Vorzeichen verkehrt – Stein erscheint als der "Linke", Stemann als der "Konservative", auch wenn die jeweilige ästhetische Form das Gegenteil glauben machen will.

Widerspruch und Wirklichkeit

Allerdings lässt sich ohnehin nie von der ästhetischen Erscheinungsweise auf die Denkart der Inszenierung schließen. Wie widerspruchsgeladen etwa eine eher der geschlossenen Dramaturgie zugeneigte Regieweise sein kann, demonstrierte zuletzt Andrea Breth mit ihrer Romanadaption von Dostojewskijs Verbrechen und Strafe bei den Salzburger Festspielen. Sie zeigte den Mörder wider Willen Raskolnikow, der gerade deshalb in Verzweiflung stürzt, weil er den schrecklichen Sinn seines Gewordenseins begreift. Sinn hat es für ihn, weil er seinen Weg zur Tat als Entwicklung anerkennen muss, schrecklich ist diese, weil sie zum Mord führt.

Breths Raskolnikow begreift, dass auch Morden eine Möglichkeit ist, auf seine – und auf die? – Geschichte zu antworten. Jens Harzers Raskolnikow macht bei Breth daher vor, wie ein Mensch auf diese Einsicht zu reagieren vermag: als ein erdenschweres Zitterwesen im Angesicht ungeheurer Handlungsmöglichkeiten. Widersprüchlich ist die Figur, indem sie Mord und Reue, Hoffen und Verzweifeln als gleichberechtigte Handlungsmöglichkeiten erfährt; nichtfatalistisch ist sie, da Harzer ihr weder den Ausweg Zynismus noch den Fluchtpunkt Resignation gewährt. Was die Erfahrungen der Geschichte lehren, ist hier durchaus offen.

Auf der Suche nach dem Echten

Wesentliche Vertreter einer jüngeren Generation gehen dagegen gleichsam noch einen Schritt zurück und fahnden zunächst nach dem Material, aus dem sich die Geschichte erst konstituiert. Das ist einer der Gründe für die ungezählten Projekte, die sich als Exkursionen ins wahre Leben begreifen, immer auf der Suche nach Kontakt zur Realität. Ob in Essen, Hamburg, München oder Berlin – allerorten machen sich die Theater auf, die Migrations-, Armuts- oder Arbeitshintergründe der Menschen zu erforschen, indem sie ihre Bühnenrecherchen vor Ort, in Stadtrandgebieten, auf Marktplätzen und in Privaträumen ansiedeln.

Oder aber, das Theater holt sich die Repräsentanten der Wirklichkeit auf die Bühne, um diese gleichsam mit dem Echtheitssiegel des real life zu versehen. Bei Rimini Protokoll etwa stehen wirkliche Menschen als "Experten des Alltags" auf der Bühne, die aus ihrem echten Leben auch deshalb erzählen, um das Material zur Wirklichkeitsbeschreibung zusammenzusammeln. Es sind Geschichtsschreiber als Archäologen der Gegenwart. Gerade die seit Jahren erfolgreichen Projekte wie Wallenstein oder "Karl Marx: Das Kapital" (das den Mülheimer Dramatikerpreis 2007 erhielt und damit für viel Aufregung sorgte; mehr dazu hier) sind auch Recherchen im Steinbruch der Wirklichkeit. Sie behandeln ihre auf der Bühne erzählten Alltagserfahrungen wie der Historiker seine Quellen – als Beleg für Tatsächlichkeit.

Am Nullpunkt

Darin drückt sich ein hoher Grad an Verunsicherung aus. Das Theater ist sich seiner Folie und Voraussetzung, der Wirklichkeit, nicht mehr sicher und muss diese erst wieder finden, um so überhaupt Geschichte in den Blick – und in die Szenen – zu bekommen. Das Zersplittern und Zerfasern aller Fundamente reißt alle Horizonte ein, den der Vergangenheit wie den der Zukunft.

Wenn man so will, steht das Theater auf diese Weise am Nullpunkt, beim Gleichstand des Für und Wider. Entsprechend ist es momentan vorwiegend damit beschäftigt, sich seiner eigenen Mittel und Möglichkeiten zu versichern.

Stemanns "Räuber" sind auch hierin paradigmatisch – die Inszenierung probiert im Modus des Für und Wider die verschiedensten und einander widersprechenden Spielweisen aus.

(zuerst erschienen in Neue Zürcher Zeitung vom 13./14. September 2008)


Nicolas Stemanns Auseinandersetzung mit der Dialektik von Erinnern und Verdrängen hat auch Simone Kaempf beschäftigt. Weitere Kritiken zu Inszenierungen von Stemann lesen Sie hier: zu Iphigenie am Hamburger Thalia Theater, zu Don Karlos und Elfriede Jelineks Über Tiere am Deutschen Theater Berlin und zu seiner Jelinek-Inszenierung Ulrike Maria Stuart wiederum Thalia Theater Hamburg.

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