Phönix aus dem Beton

von Max Florian Kühlem

Dortmund, 25. September 2020. Bevor es in die Konfrontation geht mit der Stadt da draußen, mit ihrer Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft, sitzt das Publikum von Julia Wisserts Eröffnungsinszenierung am Schauspiel Dortmund erstmal in einem kargen Warteraum und starrt auf einen einzelnen Fernseher. Er zeigt ein flimmerndes Instruktions-Video in VHS-Optik.

Man könnte das als Ansage verstehen, nach dem Digital-Theater des Vorgängers Kay Voges (dessen Geist als Gründungsdirektor der Akademie für Theater und Digitalität als neue Sparte des Hauses ja weiter durch die Flure schwebt) erstmal keine Technik-Exzesse mehr zu feiern. Überhaupt ist die Uraufführung mit dem grammatikalisch herausfordernden Titel "2170 – Was wird die Stadt gewesen sein, in der wir leben werden?" ein guter Anlass, über die nähere Zukunft des Dortmunder Schauspiels zu spekulieren.

Am Puls der Stadt

Eine zentrale Figur, die die Klammer bildet zwischen den fünf Stationen, an denen Texte von fünf Autor*innen lebendig werden, ist der von Luna Ali erdachte und von Christoph Heisler gespielte Phönix. Er sagt: "Ich lebe in der Gleichzeitigkeit aller Zeiten." Er ist Herrscher über die Portale, durch die das Publikum durch die Stadt im Wandel (der Zeiten) reist. Er könnte also feststellen: Julia Wisserts Theater wird eines der echten Begegnung mit der Stadt gewesen sein. Sie wird neue Repräsentationsformen entwickelt haben. Aber vielleicht auch: Sie wird eine Zeit des Experimentierens benötigt haben, um Diskurse zu verlebendigen.

2170 Stadt 2 560 BirgitHupfeld uDas Dortmunder Ensemble spielt "2170" an verschiedenen Orten im Dortmunder Stadtraum © Birgit Hupfeld

In ihrem ersten Aufschlag, für dessen Text sie vier junge Autorinnen und einen Autor beauftragt hat, die in Syrien, Israel, Kroatien, Kurdistan und Deutschland geboren wurden, hat man jedenfalls nicht das Gefühl, lebendigen Figuren zu begegnen, sondern eher Sprachrohren oder Stellvertreter*innen für Thesen zu Geschichte und Soziologie. Das macht allerdings nichts, weil die gespielten Szenen an den verschiedenen Stationen im Stadtraum meistens nicht wie die Hauptsache erscheinen. Hauptsache sind die Stadt und ihre Bewohner*innen, die die Orte durchpulsen. "Wie Blut werden sie hinausgepumpt, sollen in die Adern der Stadt", sagt der Phönix, als er die Ausgänge des Hauptbahnhofs beschreibt.

"Ja, aber wenn der doch so eine Scheiße labert?!"

Vor dem Hauptbahnhof rufen die Figuren in Akın E. Şipals Miniatur "Die neue Republik" selbige aus: Eine Republik ohne Ziele oder Ideale, ohne Geschichte der Sieger, aber mit den vielfältigen Geschichten ihrer Mitglieder, die gleichberechtigt nebeneinander stehen. Zwischen den Zuschauer*innen auf der Katharinentreppe sitzt eine nervöse Frau im Plastikponcho. In der Hand hält sie einen blauen Plastiksack, irgendwo auf Kinnhöhe hängt eine Alltagsmaske. Ein Security-Mitarbeiter versucht sie zur Ruhe anzuhalten, aber auf den Schauspieler Adi Hrustemović deutend herrscht sie ihn an: "Ja, aber wenn der doch so eine Scheiße labert?!"

2170 Stadt 1 560 BirgitHupfeld uWegen der Corona-Pandemie hat das neue Dortmunder Schauspielteam um Julia Wissert seine Eröffnung vorgezogen © Birgit Hupfeld

Der Mensch, für dessen Repräsentation sich das Stück stark macht, erkennt seinen Text also bloß als Mist. Für die Szene ist im Programm keine Statistin angeführt – die Stadt inszeniert sich mit all ihrer Ambivalenz mit hinein, hat Lust auf die Begegnung mit dem Theater. Das gleiche Spiel am Hinterausgang des Hauptbahnhofs: Der ist sowieso ein spannender Ort. Die Fassade ist gerade aufgerissen bis auf ihren Beton-Grund, die Stadt operiert am offenen Herzen, das weiter Menschen in ihre Adern pumpt: Die gut gekleidete Bettlerin, die die Theater-Zeitreisenden nach "ein oder zwei Euro" fragt. Den Mann im Rollstuhl, der sich in Zeitlupe am Rand der Wahrnehmung vorbeischiebt. Die Hauptpost, das Multiplex-Kino, die Agentur für Arbeit, das NSU-Mahnmal… Die hier versammelten Menschen und Orte sprechen so viel lauter als Ivana Sajkos verlorene Geschwister auf der Suche nach einem besseren Ort zum Leben. Und vielleicht sollen sie das ja auch.

Beim Horror-Hochhaus in der Nordstadt

Vor dem großen Finale fährt ein Bus die Theater-Expedition noch in die verrufene Dortmunder Nordstadt. Auch hier überragen das als Horror-Haus bekannte Hochhaus an der Kielstraße und seine Geschichte Karosh Tahas Text: Seit 18 Jahren steht es bereits leer. Für viel Geld musste die Stadt die Wohnungen darin aufkaufen, um es bald endlich abreißen zu können. Die in dieser Szene eingeführte Pathologin (Nika Mišković ) beherrscht auch den ersten Teil des Finales auf dem Synagogenplatz vor dem Theater. Sivan Ben Yishai lässt sie dort in den gebrochenen Knochen und zerborstenen Mauern lesen wie in einer Blindenschrift: Am 3. Oktober 1938 begannen die Nazis mit dem Abbau der Synagoge.

Am selben, heute symbolträchtigen Datum wollte Julia Wissert 82 Jahren später eigentlich ihre Intendanz starten lassen. Auch wegen der anhaltenden Corona-Maßnahmen ist sie früher gestartet mit ihrer mutigen Dortmund-Tuchfühlung, die am Ende doch in eine klassische Situation mündet: Das Publikum sitzt im Saal und beklatscht das neue, junge und diverse Ensemble auf der Bühne, das es in Zukunft auch in klassischeren Theatersituationen kennen lernen wird.

 

2170 – Was wird die Stadt gewesen sein, in der wir leben werden?
Ein Weg durch die Stadt in fünf Texten und vielen Schritten von Luna Ali, Sivan Ben Yishai, Ivana Sajko, Akın E. Şipal, Karosh Taha
Fassung: Christopher-Fares Köhler, Sabine Reich, Julia Wissert, Konzept und Idee: Sabine Reich, Julia Wissert, Regie: Julia Wissert, Bühne/Lichtdesign: Joseph Wegmann, Kostüme: För Künkel, Dramaturgie: Christopher-Fares Köhler, Sabine Reich, Komposition/Sound: Justyna Stasiowska, Choreographie: Dominika Knapik, Video: Tobias Hoeft, Daniela Sülwold, Choreinstudierung: Florian Hein.
Mit: Christoph Heisler, Bettina Engelhardt, Alexander Darkow, Adi Hrustemović, Anton Andreew, Valentina Schüler, Sarah Yawa Quarshie, Nika Mišković, Statist*innen.
Premiere am 25. September 2020
Dauer: 3 Stunden

www.theaterdo.de

 

Kritikenrundschau

Ihre erste Inszenierung ist ein Streifzug durch Dortmund, "es ist eine eindringliche Begegnung mit der Wirklichkeit des Reviers, wenn auch nicht immer so, wie es geplant war", schreibt Ralf Stiftel im Westfälischen Anzeiger (28.9.2020). Die Tour führe an Orte, an denen die Nerven der Stadt blank liegen. "Allerdings krankt die Produktion an ihrem essayistischen Charakter: Die Texte transportieren Informationen und Emotionen." Was die Schauspieler dabei tun, sei Bebilderung. "Es bauen sich keine dramatischen Spannungsbögen auf, es gibt keine Interaktionen." Fazit: "Die ambitionierte Produktion wird mit der Stadt nicht so recht fertig, in gewisser Weise scheitert sie. Aber es gibt immer wieder eindringliche Bilder, einen suchenden Ansatz, der neugierig macht."

"(…) '2170', so der gewaltige dramaturgische Überbau, möchte aus der Zukunft zurück in die Gegenwart schauen und dabei mancherlei Gedanken über unsere Welt und das Leben in Dortmund im Speziellen finden. Dass die qualitativ leider nur mageren Texte diesen Anspruch selten einlösen, ist indes ein ziemliches Problem“, schreibt Sven Westernströer von der Westdeutschen Allgemeinen Zeitung (28.9.2020). "Spannend wird der Abend besonders dann, wenn sich die Welten mischen und der Zuschauer plötzlich nicht mehr weiß, was genau zum Spiel dazu gehört und was nicht." Und weiter: "Zu einiger Form laufen die Autoren immer dann auf, wenn sie sich an konkreten Orten und Geschichten abarbeiten können, statt nur schwer verständliche philosophische Weisheiten zu verbreiten, die meist ohnehin vom Verkehrslärm geschluckt werden."

"In den besten Momenten von Julia Wisserts Inszenierung überlagern sich die Wahrnehmungsebenen, Text und Bild, Fantasie und Realität reiben sich aneinander." Die Arbeit sei ein poetisches Projekt, dessen politische Dimension vage bleibe und sich nur manchmal erschließe. "Julia Wissert benutzt zwar andere ästhetische Mittel als ihr Vorgänger Kay Voges. Doch in ihrem selbstbewussten Willen, das Theater neu zu denken und die Stadtgesellschaft zu spiegeln und herauszufordern, scheint sie Voges ́ Erbe weiterzuführen", so Stefan Keim auf Deutschlandfunk Kultur (26.9.2020).

 

 

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