Das Erdbeben in Chili - Residenztheater München
Die Kreisläufe(r) der Katastrophe
von Sabine Leucht
München, 25. September 2020. O weh, das geht ja gut los! So, wie die ersten Worte zerhackt und alle Silben überartikuliert und einzeln mit Pausen umrahmt werden, ahnt man schon, warum Ulrich Rasche für seine Inszenierung von Kleists Novelle "Das Erdbeben in Chili" 150 Minuten braucht. Für dieselben 20 Seiten, die Jan Philipp Gloger in Nürnberg vor einer Woche in einer Stunde bewältigte. Und hektisch war das nicht.
"Wie viel Elend über die Welt kommen musste!"
Ja, der Text hat Konjunktur. Entstanden 1807, als die Truppen Napoleons die Ordnung Europas erschütterten, das verheerende Erdbeben von Lissabon erst ein halbes Jahrhundert zurücklag und die Frage nach gerechten (göttlichen) Strafen virulent wurde, so wie auch wir heute die Katastrophe der Pandemie verschiedentlich im Licht unserer jeweiligen Überzeugungen lesen.
Barbara Horvath, Pia Händler, Linda Blümchen, Antonia Münchow, Mareike Beykirch machieren zu Kleist © Sandra Then
Seinem Text legt Kleist das 100 Jahre ältere und damals noch moralischer gedeutete Beben in Santiago de Chile zugrunde, das bei ihm weite Teile der Stadt zerstört, aber seine Protagonisten rettet: Donna Josephe und ihr Hauslehrer Jeronimo hatten ein Verhältnis, dem nach seiner Entlassung und ihrer Verbannung ins Kloster ein Kind entsprang. So ist er gerade im Gefängnis auf der Suche nach einem Strick und sie auf dem Weg zum Schafott, als das Beben losbricht und beide befreit: "Wie viel Elend über die Welt kommen musste, damit sie glücklich würden!", heißt es bei Kleist.
Es ist einer von anfangs nur wenigen Sätzen, die die neun Schauspieler*innen auf der Bühne des Residenztheaters im Chor sprechen – und wiederholen. Denn in diesem Moment liegen die beiden Gewichte offen sichtbar auf der Waagschale, von deren vermeintlichem Zusammenhang diese gewaltige Prosa erzählt: Das Glück der Einen und das Verderben der Anderen.
Die Utopie der klassenlosen Gesellschaft
Den Moment, in dem das Glück oben zu liegen kommt – Jeronimo und Josephe sind auf weitere Überlebende gestoßen und zwar erkannt, aber wohlwollend aufgenommen worden –, hüllt der sonst so differenziert auf Seelen- und Gesellschaftszustände schauende Autor in Samt und entwirft die Vision einer klassen- und ständeübergreifenden Solidarität, in der der menschliche Geist aufgeht "wie eine schöne Blume". Da springen einen die ungeschriebenen Anführungszeichen schon beim Lesen an und in Nürnberg, wo Gloger den Text als erweiterte szenische Lesung eingerichtet hat, war es hier Zeit für skeptische Schnaufer.
Die Lichtgestaltung fürs "Erdbeben in Chili" liegt bei Gerrit Jurda © Sandra Then
Doch der bislang eher nicht fürs Idyllische bekannte Rasche hält seine Bühnenmaschinerie an, lässt drei Lichtquadrate herunterfahren und packt noch einen in den letzten Monaten viel zitierten pandemie- und zukunftseuphorischen Text von Matthias Horx drauf. Und während Pia Händler ihn feierlich skandiert, machen die an der Brandmauer hinter Glas sitzenden famosen Live-Musiker mit rosaroten Klängen die Spa-Atmosphäre komplett. Und der Eierkuchen scheint gerade verzehrbereit, da rollt das Unheil langsam wieder heran, Silbe für Silbe, Trommelschlag für Trommelschlag und Umdrehung für Umdrehung der flachen, bühnengroßen Scheibe, auf der die Akteure hier gehen.
Fremdtexte aus dem Spätkapitalismus
Es sind, gemessen an der Länge des Abends, wenige Fremdtexte, die Rasche und seine Dramaturgin Constanze Kargl mit Kleist verschneiden. Horx passt gut, weil er die Fallhöhe dramatischer macht. Aber eine Textcollage, die die Corona-Toten und unser kapitalistisches Schneller-Höher-Weiter ins Spiel bringt, wirft der immanenten Logik des Textes eher Steine ins Getriebe. Und der letzte Einschub zur Eigendynamik der Masse erinnert zwar daran, dass schon Elias Canetti gewusst hätte, was unseren Helden gleich bevorsteht, fügt Kleist aber nichts Wesentliches hinzu. Der wütende Mob, der das Gleichgewicht wiederherzustellen glaubt, indem er Kinderköpfe zerschmettert, die Unaufhaltsamkeit des Ganzen: Alles ist schon im Text.
Drehscheibe light: Wie gewohnt hat Regisseur Ulrich Rasche das Bühnenbild selbst entworfen.
© Sandra Then
Im Übrigen stellt sich auch der Sog, den Rasches Inszenierungen immer früher oder später entwickeln, bereits beim Lesen ein. Kleists Sprache hat die Schützenhilfe einer wuchtigen szenischen Maschinerie nicht nötig. Und schon gar nicht die mechanistische Zerlegung in ihre Bestandteile wie im knarzenden Beginn.
Man muss Ulrich Rasche allerdings zugutehalten, dass er sich dieser Sprache mehr und mehr anvertraut: Ihren wechselnden Rhythmen sowieso, aber auch ihren Texturen und Aromen. Der Umgang mit ihr ist zudem auch individuell gefärbt, was man bei ihm ja gerne mal übersieht. So ist bei Johannes Nussbaum von Beginn an ein großes Weh in den Sätzen, wenn er sich aus der Gruppe herausschiebt, bei Nicola Mastroberardino, dem am Ende bei der Schilderung des Unsagbaren die Worte im Hals steckenbleiben, ein wundes Staunen, während Thomas Lettow die pure Entschlossenheit in sie hineinlegt. Um nur die drei mit der größten Rasche-Erfahrung zu nennen.
Waffenlos gegen das Schicksal
Dass die nur wenige Zentimeter über der Drehbühne schwebende Scheibe, über die sie sich dabei unaufhörlich schieben, die Light-Version einer Rasche-Bühne ist, hat mit Corona zu tun, aber wohl auch mit dem Text. Man kann die Menschen auf ihr genauer betrachten, als wenn sie immer wieder auf komplizierten Stahlkonstruktionen in den Bühnenhimmel fahren – und sie uns. Was sie beim seltsam verqueren Seitwärtsgehen auch meistens tun, wobei die Männer die neben dem Körper erstarrten Hände zu leeren Schaufeln formen, als wollten sie zeigen, dass sie waffenlos gegen das Schicksal antreten, und die in sich beweglicheren Frauenkörper besorgniserregende Wellen und Knicke bilden, die bei Einzelnen wie ein Hüftschaden aussehen.
Immer wieder, und das ist anders als bei Rasches Räubern, seinem Woyzeck oder der Elektra, dreht der Abend das Überdruckventil auf und lässt Luft ab, erlaubt sich und uns Stille und Stillstand und justiert seine Maschinerie neu. Auch die Musik ist ungewöhnlich vielseitig und immer wieder mal stimmungsmalerisch unterwegs. Man möchte fast sagen: differenziert.
Das Erdbeben in Chili
nach der gleichnamigen Novelle von Heinrich von Kleist
Regie und Bühne: Ulrich Rasche, Komposition und Musikalische Leitung: Nico van Wersch, Kostüme: Romy Springsguth, Video: Florian Seufert, Chorleitung: Jürgen Lehmann, Licht: Gerrit Jurda, Dramaturgie: Constanze Kargl, Mitarbeit Regie: Dennis Krauß.
Mit: Mareike Beykirch, Linda Blümchen, Pia Händler, Barbara Horvath, Thomas Lettow, Nicola Mastroberardino, Antonia Münchow, Johannes Nussbaum, Noah Saavedra, Heiko Jung (E-Bass) und Lilijan Waworka (E-Piano und E-Orgel), Fabian Löbhard und Fabian Strauss (Percussion).
Premiere am 25. September 2020
Dauer: 2 Stunden 30 Minuten, keine Pause
www.residenztheater.de
Ulrich Rasche inszenierte Kleists Erdbeben in Chili bereits 2015 am Konzert Theater Bern.
Kritikenrundschau
"Das grundsätzliche Problem seiner durch ihre entschiedene Ernsthaftigkeit jedes Mal von Neuem beeindruckenden Arbeiten, ist die Überkonnotation der Worte, das Gefühl, hier würde ausnahmslos jeder Satz doppelt und dreifach unterstrichen, als wäre alles gleich schwer und gleich gefährlich", schreibt Simon Strauß von der FAZ (28.9.2020). Durch die Retardierungen werde der Abend nicht nur eine Stunde zu lang, er verliere zwischenzeitlich auch jede Haltung. Und weiter: "Kleists Novelle endet, wie sie begann: mit Zerstörung, Zusammenbruch und der ewigen Frage: Wozu? Rasches Inszenierung hingegen versucht eine Antwort: Der Mensch muss scheitern, weil er gegen die unsichtbaren Gesetze seiner Epoche anrennt. Und weil er ohnehin stürzen muss, reißt er auch andere mit sich in den Abgrund. Dass Menschen im Angesicht der höchsten Gefahr auch „Römergröße“ zeigen könnten, wie es bei Kleist heißt, also zu Helden werden, daran glaubt dieser Regisseur nicht mehr. Darin liegt sein stolzer Ernst, aber eben auch seine größte Schwäche."
Vielleicht habe eine zunehmende Sorge, missverstanden zu werden, Rasche auf die Idee gebracht, aktuelle Texte von Papst Franziskus, Zukunftsforscher Matthias Horx oder Slavoj Žižek einzubauen. Wenig subtile Texte seien das, die auch dem Zuschauer in der letzten Reihe einhämmern, dass unsere Krise natürlich die Pandemie sei, "diese wiederum ein Resultat des kapitalistischen Höher-schneller-weiter", schreibt Christiane Lutz von der Süddeutschen Zeitung (28.9.2020). "Dennoch finden in diesem 'Erdbeben' Inhalt und Form gut zusammen. Denn wenn Rasche das Laute sonst immer laut inszeniert, gelingt es ihm diesmal, das Leise leise bleiben zu lassen."
Auch Mathias Hejny von der Abendzeitung (28.9.2020) stört sich an den Fremdtexten. "Die Verlängerungen ins Jetzt hätte es allerdings nicht gebraucht. Kleists hoch verdichtete Erzählung wird von Aktualisierung eher geschwächt. Seine Sprache hat bereits in sich eine ungeheure Wucht, die zudem durch das rhythmische Sprechen des Chors und das perkussive Vorwärtsdrängen des Orchesters weiter mit Energie und auch Pathos aufgeladen wird."
Peter Kümmel schreibt in der Zeit (1.10.2020): Kleists Novele bebe "vor kaltem Zorn über die von ihr selbst entwickelte Grausamkeit". Regisseur Ulrich Rasche rücke Kleist mit "paramilitärischen Mitteln zu Leibe". Er zwinge sein Ensemble "zum langen Marsch durch den Text". "Gemeinsames Niederringen des Stoffs" sei das Ziel, der Abend rieche nach "schwerer Arbeit". Die Band produziere "Galeerenmusik". Vor allem die Frauen setzen den Ton, einen Ton der Klage, er künde von "Daseinsempörung und stolzer Hoffnungslosigkeit". So großartig alle sprächen und auch agieren: die Finsternis der Aufführung fressen sie auf, wie das kleine nackte Kind in Goyas Gemälde Saturn verschlingt eines seiner Kinder. "Was diesen Abend bestimmt, ist bohrender, von ganz oben, also von Rasche verordneter Fatalismus – fantastisch gut gemacht." Wolle man die Wirkung der Aufführung auf ein Verb bringen, könne man mit Kleist sagen: "Sie wetterstrahlt"... Sie ist rauschend totalitär in ihrer Kritik am Totalitären."
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(Werte/r Allesklar, da ich der betreuende Redakteur des Textes bis, erlaube ich mir hier zu antworten. Der Vergleich zur Bewegungsform beim „Hüftschaden“ dient an dieser Stelle der plastischen Schilderung einer Bühnengangart, die durch das Zusammenspiel von Körper und Bühne entsteht. Dass damit eine markante Abweichung benannt wird – im Sinne von different gegenüber anderen Gangarten – liegt in der Natur der Sache, wie man ohne Differenzsetzung auch nicht von einem Phänomen wie „Hüftleiden“ sprechen kann. Den Versuch einer Stigmatisierung entnehme ich dieser Passage nicht. Mit freundlichen Grüßen, Christian Rakow / Redaktion)
(Anm. Redaktion. Nun, wir bemühen uns redaktionell schon, nicht zu Stigmatisierungen und mithin Diskriminierung beizutragen. Insofern war, denke ich, eine Antwort des Redigierenden angezeigt. Mit freundlichen Grüßen, Christian Rakow / Redaktion)
An dieser Passage ist schlicht nichts zu verteidigen. Sie ist offensichtlich beleidigend und dies nicht nur gegenüber den damit beschriebenen Spielerinnen, sondern auch gegenüber einem Theater und seiner Produktionsweise, unterstellt sie doch, Spieler*innen müssten jedwede körperliche Pein mitmachen, würde der Regisseur dies verlangen.
Im Kern ist es aber, wie der erste Kommentar schon beschreibt, ein normativer Blick, der die Bewegung der Spielerinnen direkt als Abweichung (besorgniserregend sogar!) beschreibt und nicht zu erkennen vermag, dass alle Spieler*innen Eigenheiten in ihren Bewegungen zeigen und darin eine der interessantesten Komponenten dieser Form liegen. Für die diffamierende Formulierung des vermeintlichen Hüftschadens - woran auch immer die Kritikerin dies feststellen mag - sollte sich Nachtkritik entschuldigen.
Spricht ja nichts dagegen, ein Stück erneut zu machen, wenn es zur Zeit passt. Schwierig finde ich dann eher das "uuhh"und" "aaah", weil es jetzt in München gemacht wurde, und dass die Kritik nicht darauf hinweist.