Nach der Fete kam der Kater

von Christoph Nix

1. Oktober 2020. "Wenn du Rückenschmerzen hast, geh in den 2. Rang, vorbei an der Damentoilette. Hinter der dritten Tür ist eine Physiotherapeutin, die wird dich behandeln", sagte Monika, die Souffleuse des Berliner Ensembles und fügte lächelnd hinzu: "Das Geheimnis verraten wir aber nicht allen Wessis."

Noch regierte die Anarchie im Haus

Ich stieg hinauf, klopfte. Eine wunderschöne Fee öffnete und massierte mich. Sie war Theologin, hatte Probleme mit dem Staat bekommen und war hier untergetaucht. Auf der Bühne wütete Einar Schleef, Peter Palitzsch war im Turmzimmer eingeschlafen, Fritz Marquard stritt in der Kantine bei einem Bier mit Axel Werner über die Figur des Sladek und ich war aufgenommen im Theaterparadies der Übergangsgesellschaft. Wir schrieben das Jahr 1992, die neue Ordnung hatte sich noch nicht gefestigt. Die Arroganz der Gewinner aber, auch in der Person von Peter Zadek, begann sich zu etablieren. Noch regierte die Anarchie im Haus von Bertolt Brecht und Helene Weigel. Ich hatte mich beworben als Assistent und sollte spielen in der Eröffnungsinszenierung von Peter Palitzsch, der Manfred Wekwerth nach Hause geschickt hatte. Auf dem Programm stand das letzte Stück von William Shakespeare: "Pericles".

Zentralbild Weiß Vgt-Noa 10.4.1959 Das "Berliner Ensemble am Schiffbauerdamm am Abend.Das Berliner Ensemble 1959  © wikimedia, Bundesarchiv, Bild 183-63359-0001 / CC-BY-SA 3.0Karl Kneidl machte die Bühne, Hermann Beyer spielte den Pericles, Arno Wyznewski einen Minister, Gabriela Schmeide die Prinzessin, Jürgen Watzke einen König, Volker Spengler und Irm Hermann im Puff, Ecke Schall den Mißbräuchler und Fritz Schenker komponierte die Musik. Unsere Premiere fiel durch, alle Medien, bis auf die TAZ, verrissen die Inszenierung, wir waren besoffen in der Kantine und Palitzsch an dem Abend ein gebrochener Mann. Es gab kein Narrativ für den Zustand, in dem sich das Theater der alten, verflossenen DDR befand. Nur Frank Castorf, wie ein Phönix aus Anklam, machte Furore.

Spielerischer Optimismus

Unter uns Spielern war ein großes Fest, das Palitzsch veranstaltet hatte. Die alten Protagonisten der Berliner DDR-Bühnen trafen auf die Wessis, die alten Fassbinder-Spieler. Dazwischen waren Freaks wie Petra Camin, Anette Daugarth, Edgar Löber, Fritz Roth und ich. "Im streng bewachten Tempel der Diana ist die Wiederbegegnung der Getrennten nur ein Traum von Toten. Kein Segen für den Erduldenden. Nicht einmal Hoffnung. Apathie", schrieb das Neue Deutschland am 12. Januar 1993 über die Premiere.

Niemand hatte so Recht verstanden, was Peter Palitzsch, der die DDR 1961 verlassen hatte, dort wirklich geprobt hatte: den Aufstand der Verzweifelten, die schon wussten, dass alle Utopie eines Dritten Weges gesellschaftlich fast zu Ende war, als die Bundesrepublik das kleine Land verschluckt hatte. Waren nicht schon vorher die Theatermacher des Ostens, die im Westen inszenieren durften, wie Wolfgang Engel, Thomas und Matthias Langhoff, Benno Besson, die Paryla-Brüder und Einar Schleef, diejenigen, die den Bühnen des reichen Westens eine Ästhetik des Widerstandes schenkten? Seit den späten 80er Jahren, dem Ende der sozialen Revolten in Frankfurt, Hamburg, Köln oder Bonn, hatten die Exoten aus dem Osten uns eine post-brechtianische Erzählweise geschenkt. Einen spielerischen Optimismus, ein Licht in der Dunkelheit, kein Weiter-so, aber ein Gerade-jetzt. Und in diesem Klima, jedenfalls im Berlin der frühen 90er Jahre, liefen die Menschen in Taboris "Mein Kampf" im Gorki, wo Götz Schubert mit aller Lust die braune Schuhwichse ins Publikum ejakulierte und Castorfs Volksbühnen-"Lear" von Gerhard Stadelmaier besudelt wurde, der meinte, hier würde Shakespeare geprügelt und geplündert.

In der Übergangsgesellschaft

Was alle vergessen haben, was alle heute verschweigen, in den endlosen Debatten über die angeblich so mächtigen Intendanten: dass es Intendanten waren wie Fritz Marquardt und Peter Palitzsch am Berliner Ensemble und Gerhard Meyer in Chemnitz, aber auch Günter Rühle in Frankfurt, die das Theater organisatorisch, menschlich demokratisieren wollten und ohne die Einar Schleef und Frank Castorf niemals hätten sich entwickeln können.

Während die Volksbühne ihre anarchische Kontinuität entfaltete, kamen an die Provinzbühnen der alten DDR die Westler. Stephan Märki in Potsdam, Günther Beelitz in Weimar, Dietrich Traube in Erfurt, später Holk Freytag in Dresden. Der Deutsche Bühnenverein hatte begonnen, seine Machtstrukturen im Osten zu etablieren und seine Leute unterzubringen. Aber es gab auch Ausnahmen, wie Ulrich Burkhardt in Meiningen und Wolf Bunge in Magdeburg. Auch außerhalb der Theaterdynastien gab es kleine Wunder, wie Klaus Stephan in Zittau oder meine erste Intendanz in Nordhausen. Ohne diese Übergangsgesellschaft wäre einer wie ich weder im Machtkartell der DDR noch dem des Deutschen Bühnenvereins im Westen je Theaterleiter geworden und erst recht Armin Petras kein Schauspieldirektor in Thüringen.

Ein offenes Bühnenfest

Das Theaterwunder aber der Wiedervereinigung bestand doch darin, dass politisches Theater und Dekonstruktion, neue Formen wie die Epik der Oper, das Puppenspiel als formales Korrektiv, die Lust am Anarchischen in den Stoffen von Bronnen, Brecht oder Ibsen als ein offenes Bühnenfest daherkam. Nur so konnte man feiern, ohne Patriot zu werden, nur so konnten wir zelebrieren, ohne Chauvinist zu sein, dass Einheit zu zweit, aber nie als Uniform daherkam. Wie in allen anderen Dingen auch: Der Westen hatte gewonnen, an ästhetischem Reichtum, an neu zu vergebenden Posten in den Theaterhierarchien. Und der Osten? Na, an Freiheit zweifellos, die aber eben keine Garantie dafür war, dass es neben der des Kapitals auch die der Kunst hätte sein können.

Moritz Rinke schrieb 1994 im Berliner Tagesspiegel, in Nordhausen irgendwo im Harz sei es dunkel und düster, aber im Theater brenne immer ein Licht. Das klang wie Weihnachten. Und als dort Sebastian Hartmann noch als Schauspieler in der Inszenierung von Armin Petras' "Danton" den Robespierre spielte, da wusste man schon, was das für ein Intendant werden würde in Leipzig, wenn er erst die Macht hätte. Aber immerhin reiste eines Abends Frank Castorf mit Matthias Lilienthal in die deutsche Provinz zur Vorstellung, fast wie der Nikolaus mit Knecht Ruprecht und lebte etwas, dass es heute schon lange nicht mehr gibt: ein Theaterdirektor der Metropole besucht eine Inszenierung in der tiefen Provinz und wirbt Schauspieler und Regisseure ab. Das war das Wunder von Nordhausen und hatte viel damit zu tun, dass es Ost und West gab, also unterschiedliche Formen von Macht und Herrschaft, in denen das Theater die Widerborstigkeit verkörperte.

 

Nix Christoph Theater Konstanz uProf. Dr. Dr. Christoph Nix ist Theaterregisseur, Autor und Intendant der Volksschauspiele Tirol. Der promovierte Jurist wurde 1991 Regieassistent bei Peter Palitzsch am Berliner Ensemble, 1994 Intendant am Theater in Nordhausen, wo er auch den "Thüringer Herbst" organisierte. Von 1999 bis 2004 leitete Nix als Intendant das Staatstheater Kassel. Während dieser Zeit war er Mitglied des Vorstands des Deutschen Bühnenvereins und der Hessischen Theaterakademie. 2006 bis 2020 war er Intendant am Theater Konstanz.

 

Mehr dazu: Zum Auftakt der Artikelserie zur deutschen Einheit auch im Theater schreibt Georg Kasch über die Westler und die Nackten. Thomas Irmer denkt in "Der Ost-West-Riss" Gedanken über das Klima gegenseitiger Entfremdung nach.