Du sollst von Gandhi lernen!

von Steffen Becker

Karlsruhe, 3. Oktober 2020. In einer Welt im Wandel ist es irgendwie beruhigend zu wissen, dass ein*e Gött*in uns im Wesentlichen noch immer für die gleichen Dinge zur Hölle schicken wird wie unsere Vorfahren. "Die neuen Todsünden", die am Staatstheater Karlsruhe vor- und aufgeführt werden, führen mit ihrem Titel daher etwas in die Irre. Sie basieren auf den Thesen Mahatma Gandhis von 1925, mit denen er die bekannten individuellen Sünden auf Gesellschaften übertrug.

Das Staatstheater Karlsruhe beauftragte sieben Autorinnen aus ganz Europa diese Sünden – von "Wissenschaft ohne Menschlichkeit" bis "Geschäft ohne Moral" – auf die Gegenwart anzuwenden. Aber die religiöse Wurzel der Sünden macht die Inszenierung schon im Setting deutlich. Abtrennungen im Saal schaffen die Illusion eines Kirchenschiffs. Zwei Statuen am Bühnenrand interpretiert man daher sogleich als Maria mit dem Kinde – obwohl sie bei näherem Hinsehen eine Art Burka trägt. 

todsuenden 3 600 thorstenwulff uSakrale Anmutung: Die Bühne von Stefan Strumbel und Julia Katharina Berndt © Thorsten Wulff

Regisseurin Anna Bergmann will irritieren. Das wird von Beginn an klar. Die erste Szene über "Politik ohne Prinzipien" spielt vor einem Altar. Aus einem schwarzen Stoffkreuz windet sich eine tanzende Latex-Schönheit. Aber nur um Platz zu machen für eine Konfrontation zwischen einer jungen Frau, traumatisiert von einer politischen Kampagne gegen angebliche HIV-Prostituierte und einer Ministerin, die genau dafür verantwortlich war. Und sogar die Begegnung mit einem Opfer noch für sich zu instrumentalisieren weiß.

Empörungsgerecht verpackt

Die Autorin Angeliki Darlasi hatte sich dafür von einem Skandal in ihrer griechischen Heimat inspirieren lassen. Und kleidet die Wehrlosigkeit der Schwachen und die Verachtung der Mächtigen in klare Bilder – einfach und empörungsgerecht verpackt. Deutlich schwieriger macht es einem die Autorin Sivan Ben Yishai zur Sünde "Religion ohne Opfer". Eine Dichterin (Sarah Sandeh) durchlebt den Feiertag Jom Kippur, der die Menschen geläutert in ein neues Jahr entlässt. Sie fantasiert darüber, dass dieser Tag nie endet, über eine nicht untergehende Sonne, die alles verbrennt, und abgelehnte Asylbewerber, die man per Flugzeug in den Feuerball schickt.

Als Zuschauer möchte man permanent das Handyverbot missachten und Google nach den Bildern auf der Bühne befragen: Könnte der Typ mit dem blutüberströmten Oberkörper und dem Tierschädel überm Kopf ein alttestamentarisches Opfer darstellen? Oder man müsste den aktuellen Stand der Verstrickungen von Religion und Politik in Israel recherchieren. Ohne Hintergrund bleibt man ratlos und – wie auch bei manch anderen der sieben Kurzstücke – mit der Frage zurück: Was hat das mit mir zu tun? Die Werke handeln davon, warum Politiker prinzipienlos handeln und wie Religion benutzt wird, aber sie gehen nicht darauf ein, warum wir (das Publikum) diese Politik wählen oder unsere Religion benutzen lassen.

Vom Fisch zum Fischstäbchen

Diese Verbindung schafft lediglich das Highlight des Abends über "Genuss ohne Gewissen" von Elise Schmit. Anna Bergmanns Regie verknüpft in der Geschichte um den letzten Fisch seiner Art zudem die Sparten des Karlsruher Hauses. Eine Balletttänzerin zeigt den Fisch als begehrenswertes Kunstwerk. Dazu läuft auf Leinwänden ein Video vom weit weniger ansehnlichen Prozess vom Fischfang bis zum Fischstäbchen. Zwei Sängerinnen (Lucia Lucas und Frida Österberg) rühmen den Mythos der untergegangenen Natur – um sich im nächsten Moment in Form einer Slow-Motion-Prügelei zu streiten, wem der Genuss des Filets nun eher zusteht.

todsuenden 1 600 thorstenwulff uWarum wählen wir diese Politik? Warum diese Religion? © Thorsten Wulff

Das Gekeife in die Form einer Oper zu gießen unterstreicht dabei die Absurdität des Stücks. In einer Hochform der Kultur zeigt uns der Kampf an der Theke, wie unsere niederen Konsumbedürfnisse wider besseres Wissen zerstörerisch wirken. Diese Spiegelung des surrealen Witzes eines Stücks in der Regie, der Bühne und der Ausstattung bleibt leider die Ausnahme. Es regiert der Slapstick etwa in Form einer Talkshow, die Superreiche von ihrem Ballast befreien soll und in einen "Heal the world"-Chor mündet.

"Irgendwie spür ich da nichts."

In den grob geschnitzten Szenen der neuen Todsünden haben denn auch die Schauspieler wenig Raum für Feinheiten. Figuren heißen Dr. Blinky Blank und Dr. Blumi Blami und geben damit auch die Regieanweisungen an ihre Darsteller vor. Lediglich Auftakt und Schlussakt des Abends (die als Klammer beide in einer Kirche spielen) verlassen die schrillen Töne. Marie-Joelle Blazejewski spielt die junge Frau, die die Skrupellosigkeit der Politikerin anklagt, voll Traurigkeit, aber ohne jede Übertreibung. Tom Gramenz spielt zum Schluss einen Mann, der vorm Traualtar von seiner Missbrauchsgeschichte als Kind eingeholt wird – die wiederum ein Puppenspieler in einer Art Splitscreen auf der Bühne nachspielt. Sein Changieren zwischen Witzen als Übersprungsventil und niederdrückender Erinnerung geht unter die Haut. Da bleibt etwas hängen, wo vieles an diesem Abend am Publikum vorbeirauscht.

Am enorm hohen Aufwand liegt es nicht. Als einen der Bühnenbildner hat das Theater den Künstler Stefan Strumbel engagiert. Der verwebt eine der Geschichten – über ein Nobelrestaurant, das die deutsche Küche rehabilitieren will und dabei mit einem Rassismus-Skandal kämpft – mit seiner Heimat Offenburg. Die Passage ist als Videoeinspielung mit Szenen eines Hotels vor Ort gestaltet und gegengeschnitten mit historischem Filmmaterial von Aufmärschen in der NS-Zeit an genau diesem Ort. Man spürt, dass in solchen Kompositionen enorm viel Arbeit steckt. Aber nach dem sehr plakativen Abspulen der Geschichte mit eifriger Journalistin, schmierigem Pressesprecher und geknechtetem Flüchtling, bleibt als Resümee die Aussage einer Nebenfigur: "Irgendwie spür ich da nichts. Außerdem weiß man das doch schon alles."

 

Die neuen Todsünden
Uraufführung
Kurzdramen von Marina Davydova, Maryam Zaree, Sivan Ben Yishai, Elise Schmit, Larisa Faber, Angeliki Darlasi, Liv Strömquist
Regie: Anna Bergmann, Bühne: Stefan Strumbel, Julia Katharina Berndt, Kostüme: Lane Schäfer, Wicke Naujoks, Video: Sebastian Pircher, Live-Musik / Komposition: Clemens Rynkowski, Choreografie: Emiel Vandenberghe, Dramaturgie: Nele Lindemann, Florian Hirsch, Anna Haas.
Mit: Désirée Ballantyne, Marie-Joelle Blazejewski, Rita Duclos, Lucie Emons, Steffi König, Lucia Lucas, Jaqueline Macaulay, Frida Österberg, Sarah Sandeh, Heisam Abbas, Vazgen Gazaryan, Tom Gramenz, Hadeer Hando, Jens Koch, Clemens Rynkowski, Thomas Schumacher, Timo Tank.
Premiere am 3. Oktober 2020
Dauer: 3 Stunden 30 Minuten, eine Pause
Eine Koproduktion mit dem Stadsteater Uppsala und dem Théâtre National du Luxembourg

www.staatstheater.karlsruhe.de
uppsalastadsteater.se
www.tnl.lu

 

Kritikenschau

Die einzelnen Stücke reihten sich aneinander, ohne dass eine Verknüpfung zu einem Ganzen ersichtlich würde, so Marie-Dominique Wetzel von DLF Kultur (3.10.2020). Die Themenkomplexe erschlössen sich nicht in jedem Falle, es seien sehr verschiedene Formen dabei. Positiv äußert sich die Kritikerin über die Stücke von Elise Schmit und Sivan Ben Yishai. Schmits Part an diesem Abend sei durchaus witzig, sarkastisch und brisant. Sivan Ben Yishais Text sei sehr metaphernreich, klug, tiefgründig und dabei selbstironisch und poetisch.

Als eindrucksvoll und brandaktuell bezeichnet Michael Hübl von den Badischen Neuesten Nachrichten (5.10.2020) den Abend. Anna Bergmann spiele mit ihrer klugen Regiearbeit souverän auf der Klaviatur theatraler Möglichkeiten. Sie stütze sich dabei auf ein großartiges Ensemble, wie auch auf das Sounddesign von Heiko Schnurpel, die Videos von Sebastian Pircher oder auch die gelungenen Kostüme von Lane Schäfer und Wicke Naujoks. "Da fügt sich eins ins andere mit der Folge, dass Intellekt und sinnliches Vergnügen gleichermaßen zu ihrem Recht kommen."

"Die spartenübergreifende Inszenierung unter der Regie von Schauspieldirektorin Anna Bergmann ist eine abwechslungsreiche Darstellung aus Kammerspiel, Tanz, Oper und Video", schreibt Fiona Herdrich vom Badischen Tagblatt (5.10.2020). "Die Aufführungen beeindrucken als intensiver Querschnitt durch die Probleme der globaisierten Welt und hinterlassen ein mal mehr, mal weniger ausgeprägtes Schuldgefühl, das auf die Vergehen der Gesellschaft, aber auch das Handeln des Einzelnen blicken lässt."

Eine "beachtliche Gesamtleistung" seien diese "vielgestaltigen, häufig ansprechenden, qualitativ jedoch nicht immer ganz ausgewogenen 'Todsünden'", befindet Rüdiger Krohn in Die Rheinpfalz (6.10.2020). Neben einigen "vorzüglichen schauspielerischen Leistungen" würdigt der Rezensent vor allem die Szene: "Im einheitlichen Bühnenbild von Stefan Strumbel und Julia Katharina Berndt, das einfache Versatzstücke mit großen Projektionsflächen rahmt, vermittelt die Einstudierung immer wieder neue Anreize und visuelle Eindrücke, die auch über inhaltliche Längen und papierne Passagen hinweghelfen."

"Der Wille zur Opulenz ist klar erkennbar", mit einer fast vierstündigen Aufführung, an der sieben internationale Autorinnen und alle drei Sparten des Hauses beteiligt sind, werde das pandemiebedingte Bilder- und Live-Erlebnis-Fasten gebrochen, schreibt Sabine Leucht in der taz (6.10.2020). Ob die Texte die Form eines psychologischen Kammerspiels oder einer Groteske haben: Bergmann stellt sich ganz in den Dienst des jeweiligen Stücks. "Wenn der Abend nicht zu etwas Ganzem zusammenwächst, hat das Methode." Eine anregende Irritation schaffe Sivan Ben Yishai, wenn sie eine Mauerschau vom jüdischen Jom Kippur-Fest zur Anrufung eines blutigen Gottesgerichts ausweite. Und die für Leucht gelungenste Inszenierung komme in einem szenischen Triptychon, das einen Mann am Scheideweg zeige, "in diesem ersten Bühnenstück der 1986 in Rumänien geborenen Schauspielerin Larisa Faber stiebt zum ersten Mal ein Hoffnungsfünkchen auf". Fazit: "Trotz der Abstandsregeln Funken zwischen ihnen zu entfachen gelingt der Regisseurin fast ebenso selten wie den Autorinnen die anregende Irritation."

Von starken, raffiniert hergestellten Bildern schreibt Adrienne Braun in der Süddeutschen Zeitung (6.10.2020), auch wenn sie manchen Text des Abend gern noch einmal in die Werkstatt zurückschicken würde.

 

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