Geld, Parzival - Vorarlberger Landestheater Bregenz
Unter den Liberalen
von Andreas Klaeui
Bregenz, 4. Oktober 2020. Am Ende dieser Premiere, nach Applaus und Verdankungen auf der Bühne, wird Stephanie Gräve, die Intendantin des Vorarlberger Landestheaters, nicht versäumen darauf hinzuweisen, dass man das Bühnenbild doch bitte liegenlassen und nicht klauen möge. Tausende von echten Schweizer Fünfrappenmünzen glitzern und glänzen nämlich goldfarben auf dem Bühnenboden, es sind wohl mehrere tausend Franken und jedenfalls einiges an Gewicht. Dass es Schweizer Währung ist, hat nichts damit zu tun, dass Vorarlberg als "27. Kanton" der Schweiz doch noch beigetreten wäre, auch nicht damit, dass die Schweiz ein Hort des Kapitalismus ist, zumindest wohl nicht in erster Linie, aber damit, dass diese Premiere eine Koproduktion mit dem Aargauer Theater Marie ist. Ursprünglich hätte die Uraufführung im Kurtheater Baden stattfinden und erst später hier gezeigt werden sollen. Nicht (nur) Corona, aber Verzögerungen bei Renovierungsarbeiten haben dazu geführt, dass Bregenz nun zum Vortritt kam.
Dildo mit Überwachungs-Kamera
Joël László überträgt "Parzival" aus Wolfram von Eschenbachs mittelalterlichem Ritter-Kosmos in eine neuzeitliche Welt des Kapitalismus. Das ist die These. "Parzival ist ein Versepos von Wolfram von Eschenbach", hält László fest: "Fahrende Ritter erleben darin unzählige Abenteuer. Fahrende Ritter aber hat es nie gegeben. Sie sind ein Hirngespinst. Wenn wir uns unter Fahrenden Rittern etwas historisch Konkretes vorstellen wollen, so müssen wir sie uns als Händler denken. In anderen Worten: als eine Vorform von Kapitalisten. Dieses Stück spielt unter Kapitalist*innen. Im Herrschaftsbereich des Kapitalismus suchen sie nach der Freiheit. Ich glaube, wir gehen nicht fehl, wenn wir sagen, dass es sich dabei um ein großes und abenteuerliches Unterfangen handelt."
Eine These, die historisch natürlich so wenig haltbar wie gleichwohl überaus witzig ist und die einen abenteuerlichen Blick auf die Welt, in der wir leben, erlaubt. Parzival gerät unter die "Liberalen", Artus ist ihr König, mit einer Glitzerkrone ebenfalls aus Fünfräpplern, der Gral wird zum Symbol für den "Überfluss", also die Akkumulation, in einer kapitalistischen Terminologie. Schlüssel zu dieser Welt ist für Parzival sein Membrum virile, von Herzeloyde "Wieselchen" genannt, ein hübscher Dildo, der im Ensemble reihum geht, weil alle mehrere Rollen und auch mal Parzival spielen, und der sich auch als Spy-Kamera und Gurnemanz' Überwachungs-Auge enthüllt.
Am Ende lernt Parzival Empathie in den Slums und in Trevrizents Kehrichtverbrennungsanlage. Das hat alles viel Reiz und ist schlau konzipiert, auch sehr witzig im Zugriff auf Wolfram von Eschenbach. Die Figuren bleiben erhalten, auch namentlich, Gahmuret, Herzeloyde, Gurnemanz, Artus, Cundrie und so weiter, sie behalten ihre Persönlichkeit und die Funktion, die sie für Parzival haben. Einzig ihre Motivationen sind neu gedacht, nämlich eben kapitalistisch (und nicht feudalistisch). Nur Gawan, der edle Ritter, der bei Wolfram von Eschenbach eine wichtige Rolle spielt als Gegenentwurf zu Parzival, fällt weg.
Sie hat keine Fragen
Um Rittertum geht es nicht – dafür wertet László eine andere Figur auf: nämlich Kyot, einen Geschichtenerzähler, auf den Wolfram von Eschenbach sich als fiktive Quelle bezieht. Hier nennt er sich Koyote und ist so was wie ein Spielführer, ein sympathischer Loser in der Business-Welt, "der Typ mit dem Bier, der immer irgendwie rumsteht", und letztlich der einzige richtige Mensch in einer falschen Welt. Bei der Schauspielerin Sandra Utzinger ist Koyote eine Womansplainerin auf Stelzen, die immer schon über allem drüber steht und dies auch breit auskostet. Koyote verköpert das Problem dieser Inszenierung (des Marie-Regisseurs Olivier Keller): Sie hat keine Fragen.
Keine Fragen an Parzival, keine Fragen an den Text, sie begnügt sich damit, ihn in lustigen Kostümen an der Rampe mehr oder weniger vom Blatt lesen zu lassen. Es gibt freiere Momente, spielerische und bildreiche Fantasy-Ausflüge, in der Welt von Anfortas etwa oder bei Cundrie, die aus einer Disco-Kugel spricht. Momente, wo auch endlich mal richtig was läuft auf der Bühne. Aber gerade solche Fantasy-Ausflüge, die der surreal verspielte und anspielungsreiche Text durchaus eröffnen würde und in der Intentions-Anmerkung ja auch behauptet, scheint der Regisseur zu scheuen wie der Weihwassersprenger den Teufel. Dabei ist grade das Bedürfnis nach "aventiure", da hat Joël László schon recht, ein großer Antrieb auch im kleinen Bankangestellten vom Paradeplatz.
Geld, Parzival
von Joël László
Uraufführung
Regie: Olivier Keller, Bühne: Dominik Steinmann, Musik: Daniel Steiner, Kostüm: Tatjana Kautsch, Video: David Röthlisberger, Dramaturgie: Patric Bachmann.
Mit: Jessica Cuna, Grégoire Gros, Lina Hoppe, Ingo Ospelt, Suly Röthlisberger, Andri Schenardi, Sandra Utzinger.
Premiere am 4. Oktober 20202
Dauer: 1 Stunde 50 Minuten, keine Pause
Theater Marie in Koproduktion mit Vorarlberger Landestheater, Bühne Aarau, Kurtheater Baden, Tojo Theater Reitschule Bern.
www.theatermarie.ch, landestheater.org
Kritikenrundschau
In der Bregenzer Inszenierung sei Parzival ein "schwanzgesteuerter Naivling, der die Welt durch seinen Penis
sieht, nach Geld und Sex strebt", findet Julia Nehmiz im St. Galler Tagblatt (6.10.2020): "Läuterung erfährt er im Elend
der Welt, im Slum, auf den Müllhalden der westlichen dekadenten Gesellschaft." Oliver Keller finde dafür eine "teils bestechende Umsetzung". "Fantastisch" sei das Bühnenbild von Dominik Steinmann und auch die "Setzung, Parzival von sechs
der sieben Schauspielerinnen und Schauspielern darstellen zu lassen", findet die Rezensentin "einleuchtend", denn: "Parzival ist alte Frau, ist junger Mann – ist wir alle."
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