Man kann sich nicht herausreden

von Reinhard Göber

7. Oktober 2020. Anklam 1985: Als Student fuhr ich zur Premiere von "Nora" von Henrik Ibsen, Frank Castorf inszenierte, eine seiner besten Inszenierungen bis heute. Eine Initialzündung für mich. Hier in der totalen Provinz, unter schwierigsten materiellen und politischen Arbeitsbedingungen, unter der Aufsicht des dubiosen Intendanten Dr. Wolfgang Bordel (der gerade den Kulturpreis des Landes MV für seine ewige Intendanz bekommen hat), wurde mir klar: Man kann sich nicht herausreden! Grandioses Theater geht unter allen Bedingungen. Auf der Bühne brüllten Nora, die weibliche Dr. Rank und Frau Linde in einer bestimmten existentiellen Situation "Scheiße" und das steigerte sich chorisch und nahm kein Ende; es standen Leute im Publikum auf und brüllten auch "Scheiße". Das war die emotionale Situation für viele Leute in der DDR damals. Castorf hatte das auf den Punkt gebracht.

Gulag in phantastischer Landschaft

Berlin 1987: Ich schreibe gerade noch an meiner Diplomarbeit in der Abteilung Theaterwissenschaft an der Humboldt-Universität: "Der Einfluss von Artaud auf das Gesamtwerk Heiner Müllers" und bekomme eine Einladung zu einem "Vorsprechen" am Landestheater Parchim. Da gab es Schauspiel und Operette. Und in Zukunft sollte es nur Schauspiel geben. Parchim war eine Art Gulag in phantastischer Landschaft. Wie Rudolstadt. Oder Zittau. Aber das waren für junge Leute damals Orte des Ausprobierens, wo Theater noch eine "wesentliche Verkehrsform des Lebens" war, fern der Großstädte und etwas ferner der staatlichen Kontrolle.

In Berlin hatte ich zuvor eine Theatergruppe mit 18 Studenten gegründet, wir probten zunächst zum Entsetzen von Wanderern und Hundebesitzern in den Püttbergen in Berlin-Wilhelmshagen, da wir zunächst keinen Probenraum fanden – "Baal" von Bertolt Brecht. Wir spielten dann quer durch die DDR und an etlichen Berufstheatern. Schließlich wurden wir zum internationalen Theaterfestival "Diskurs" in den Westen eingeladen. Fahren durften wir nicht. "Die außenpolitische Situation der DDR lasse es nicht zu", so die Begründung, die mir ein dubioser Professor der Kulturwissenschaften mündlich überbrachte. Dann löste sich die Gruppe nach zweijähriger Arbeit auf.

 Kabale2 GoeberEinstand in Parchim: Schillers "Kabale und Liebe" mit Astrid Meyerfeldt als Luise und Reinhard Göber als Miller © Landestheater Parchim / Archiv Reinhard Göber

Für mich war klar: In Parchim wollte ich Dramaturg mit Regieverpflichtung werden. Nichts darunter. Das Gespräch mit dem neu engagierten Intendanten Wolfgang Thiede aus Schwerin verlief sehr offen und couragiert. Nach ein paar Stunden sagte er: "Sie haben jetzt zehn Minuten Zeit, die Georgenkirche zu umrunden, um sich Folgendes zu überlegen: Sie werden hier Spielleiter Schauspiel. Oder sie werden hier gar nichts." Meine Frage: "Wie viele Vakanzen bekomme ich?" Ich erinnere, dass er sechs sagte, bin mir aber nicht mehr ganz sicher. Ich darauf: "Ich umrunde hier keine Kirche. Ich mache es!" Da war ich 28.

Wir fanden kein Finale – aber den Whisky

Und dann sind wir in die Saison 1987/88 gestartet. Thomas Bischoff inszenierte Heiner Müllers "Die Schlacht". Ich dann "Kabale und Liebe" mit Astrid Meyerfeldt als Luise, die jetzt gerade für den "Faust" 2020 nominiert ist, und mit meinem langjährigen Ausstatter Robert Ebeling, der dann irgendwann am Deutschen Theater Berlin und am Burgtheater Wien landete. Aber wir fanden kein Finale. Das Gift wirkte nicht. Wir probten bis 3 Uhr morgens, hatten eine Flasche Johnny Walker aus dem ortsansässigen Intershop in uns, eine zweite Flasche bekam der Pförtner, damit er uns nicht verpfiff.

Dann stand die Meyerfeldt auf und lief im Kreis auf der Bühne. Und der Ferdinand mit Spätzündung ihr hinterher. Das ging dann so zehn Minuten. Das war's! Auch bei der Premiere. Selbst im Selbstmord fanden sie in ihrer Liebe nicht zusammen. Die Lady Milford war da bereits in den Westen geflüchtet. Im Hintergrund gab es Prospekte im Stile von Caspar David Friedrich, etwa die Eislandschaft für die "zerstörte Hoffnung". Als die Milford sich in eine Landschaft von ägyptischen Pyramiden begab, war für die Zuschauer klar, dass sie in den "Westen" abhaut. Mit solchen "Codes" arbeitete man damals.

Der Wurm war bei der Stasi

In Parchim beziehungsweise Schwerin musste ich damals vor Direktoren und 40 Deutschlehrern antreten. Es gab einige weinende Lehrerinnen, da die Schüler offenbar geschlussfolgert hatten, dass sich Ferdinand und Luise wegen der fehlenden Perspektiven in der Gesellschaft bewusst umbrachten – Ferdinand gab ja das Gift vor Luises Augen in die Limonade. Der Wurm war natürlich bei der Stasi, aber ziemlich raffiniert. Und alles Originalsprache Schiller. Deshalb konnte man mich auch nicht auskontern. Das Magazin "Theater der Zeit" brachte eine ziemliche Hymne, bei der Ortspresse war ich der "infantile Regisseur Reinhard Göber". Zu allem Überfluss musste ich den Miller geben, da der ältere Miller, der eigentlich sehr sympathische Kollege Brockmann, ein paar Tage auf Alkoholentzug musste. Der verschwand dann und wurde in der DDR von der Polizei gesucht, nur wenige Tage vor meiner ersten Premiere am Berufstheater. Der Ersatz aus Schwerin, ein Tipp der Millerin, war gleich bei der ersten Probe so betrunken, dass ich ihn aus der Produktion feuerte. Thiede fragte besorgt, was wir denn nun machen sollten.

Kabale GoeberEine "hochengagierte Bande" auf und hinter der Bühne © Landestheater Parchim / Archiv Reinhard Göber

"Ich übernehme die Rolle", sagte ich. Thiede: "Aber die Luise ist doch nur wenige Jahre jünger." Na ja. "Die Millerin hat eben einen jüngeren Mann, ich bin der Stiefvater." Das ging alles gut auf, weil alle ohne Ende ackerten. Bei der turbulenten und geretteten Premiere mit vielen, vielen Gästen aus Berlin stand auf einmal die alte Garde des Hauses, die anfangs ziemlich kritisch war, um mich herum und sagte: "Göber, wir machen mit. Wer das durchzieht, der zieht auch andere Sachen durch. Wir sind dabei." Manchmal lösen ja Katastrophen auch positive Sachen aus.

Neustart in Schwabing

So entstand eine hochengagierte "Bande" am legendären Landestheater zu Parchim. Am Spielzeitende holte ich noch Uwe Dag Berlin und Leander Haußmann dazu, der den "Aufbruch in der Provinz" mit großartigen Inszenierungen weiterführte. Zu dem Zeitpunkt war ich bereits in München und fing an einem Schwabinger Kellertheater wieder von vorne an. Mein Glaube an eine Reform des Sozialismus unter Gorbatschow war erloschen.

Inzwischen arbeite ich an meinem 26. Stadt- und Staatstheater und rolle den Camus'schen Stein des Sisyphos immer noch den Berg empor. Heute Abend ist die siebte Stück-Premiere in dieser Saison im Schauspiel: "Nora" von Ibsen. Nora ist bei uns eine Bloggerin und führt immer noch ein Doppelleben und hüpft mit ihrer Tochter Emmy auf dem Sofa und brüllt schon wieder "Scheiße" – und ist dabei viel einsamer als 1985.

 

Reinhard GoeberReinhard Göber, 1959 in Berlin geboren, ist noch bis 2021 Oberspielleiter Schauspiel am Theater Vorpommern in Greifswald. Er studierte Theaterwissenschaften an der Humboldt-Universität Berlin und war 2000 bis 2002 Oberspielleiter des Schauspiels am Theater Lübeck. Über 70 Inszenierungen u.a. an den Stadt - und Staatstheatern von Bonn, Hannover, Kassel, Mainz, Linz, Parchim, Luzern, Schaan (Fürstentum Liechtenstein), Gera-Altenburg, Bielefeld, Innsbruck, Dortmund, Oberhausen, Essen, Lübeck, Meiningen, Schleswig, Flensburg, Dessau, Saarbrücken, Cottbus, Konstanz und Greifswald. Seit 2005 zahlreiche Lehraufträge und Auszeichnungen.

 

Mehr dazu: Über Parchim und mehr sprach auch Leander Haußmann im Interview mit nachtkritik.de zum dreißigsten Mauerfalljubiläum im Jahr 2019: "Man begegnet dieser DDR ja ununterbrochen!"

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