Keine Kapaune, aber mit Alles

von Martin Krumbholz

Düsseldorf, 8. Oktober 2020. Voltaire befand, in allen Kriegen gehe es nur darum, zu stehlen. Das sieht der Dramatiker Brecht anders. Im Krieg – in jedem Krieg – gehe es darum, Geschäfte zu machen, getreu der These, der Krieg sei nur die logische Fortsetzung des Kapitalismus. Der Dreißigjährige Krieg (1618 – 1648), der vor allem Deutschland irreparablen Schaden zugefügt hat und die größte Katastrophe vor dem Ersten Weltkrieg war, ist in dieser Perspektive kein singuläres Ereignis, sondern ein modellhaftes: Der Zuschauer lernt daraus nichts, was er nicht aus jedem anderen Krieg lernen könnte.

Kluft zwischen Autoren-Fantasie und zeitgenössischem Theater

"Mutter Courage und ihre Kinder" heißt das Stück, nicht beispielsweise "Die Courage im Krieg". Mütterlichkeit, so die zweite These, wird im Krieg notwendig korrumpiert. Wenn die Hauptfigur, die Brecht bei Grimmelshausen nicht gestohlen, sondern, sagen wir, entliehen hat, besser ist als das ganze Stück, wenn sie also Sympathien bündelt, die den Zuschauer daran hindern, ihr Gebaren zu verurteilen und daraus zu lernen (was er aus jedem anderen Krieg und übrigens aus jedem anderen Stück von Brecht lernen könnte), dann hat der Stückeschreiber ein Problem. Und wenn der Stückeschreiber ein Problem hat, hat auch (zunächst) der Regisseur eines.

MutterCourage2 1500 SandraThen uHier kommt die Baggage: Jonas Friedrich Leonhardi, Lea Ruckpaul © Sandra Then

Sebastian Baumgarten inszeniert den Text natürlich nicht so, wie Brecht ihn inszeniert hätte (und hat). Brecht hat ihn für ein Theater geschrieben, auf dem fette Kapaune herumgereicht werden, also für ein Requisitentheater; da das heutige Theater Requisiten durch andere Sekundärmittel ersetzt (etwa Projektionen), tut sich schnell eine Kluft auf zwischen den Fantasien des Autors und den Erfordernissen zeitgenössischen Theaters. Zwar klingt "episches Theater" zunächst einmal ziemlich modern, und Baumgarten hat einen schönen Einfall, wenn er das Stück mit der Vorstellung der Personen beginnen lässt: "Das ist eine Schauspielerin, ihr Name ist Rosa Enskat, sie spielt die Mutter Courage", und so weiter. Gesprochen ausgerechnet von der Darstellerin einer Figur, für die der Autor keinen Text übrig hatte, der stummen Kattrin (Lea Ruckpaul).

Den Rest erledigt die Drehbühne

Dann aber stellt sich schnell das Problem, wie reicht man die imaginären Kapaune herum. Wie agieren Personen miteinander, die nicht so tun dürfen, als ahmten sie schlicht eine Handlung nach, zum Beispiel den Verkauf eines Kapauns. Und da besteht nun das zentrale Mittel, das Baumgarten bemüht, darin, die Figuren einfach auf der Stelle gehen und den Rest die Drehbühne erledigen zu lassen. Anstelle eines Planwagens, den die Kinder der Courage ziehen, sieht man eine fahrbare illuminierte Kiste, die mit diversen Aufschriften wie "Alles" versehen ist: sozusagen der kleine Supermarkt auf Rädern, das Geschäft der geschäftstüchtigen Courage, die den Truppen quer durch Europa hinterherzieht und nach und nach ihre drei Kinder verliert, während sie selbst überlebt.

MutterCourage3 1500 SandraThen uUnterm Rad oder daneben: Henning Flüsloh, Jonas Friedrich Leonhardi, Rainer Philippi © Sandra Then

Baumgartens Theater neigt habituell zu einem gewissen Hyperaktionismus, einem Stilmix aus Revue, Comic, Projektion: hier Schwarz-Weiß-Bilder mit Panzern und Maschinengewehren, die das Bild vom Krieg als überzeitlichem Abstraktum festschreiben. Krieg ist Krieg. Paul Dessaus Musik wird im Hintergrund der Bühne elektronisch verfremdet. Die Songs (die den Autor als Lyriker natürlich ganz auf der Höhe zeigen) werden eher beiläufig präsentiert.

Erhellender Kick auf Rollschuhen

Die Spieler mühen sich redlich ab; die interessanteste Figur ist nicht die von Rosa Enskat gespielte Courage, sondern Lea Ruckpauls stumme Kattrin, die hochpräsent das Geschehen rein mimisch und körperlich reflektiert, in einer schönen Szene einer Prostituierten die roten Schuhe stiehlt: die unfassbare Sehnsucht eines Menschen, der in einer Ewigkeit von dreißig Jahren um sein Leben betrogen wird.

Anderes leuchtet weniger ein. Der Feldprediger (Rainer Philippi) streckt ständig anderen Leuten ein Kreuz entgegen, als hätte er es mit Vampiren zu tun. Ziemlich albern auch die körperintime Szene zwischen der Courage und dem Koch (Wolfgang Michalek), mit einer Corona-Plexiglasscheibe zwischen sich. Wenn Michalek dem Feldkoch einen dämonischen Zuschnitt zu geben versucht, deutet sich eine Wendung an, die immerhin der Schlussphase der Aufführung einen erhellenden Kick verpasst. Und da zeigt sich eine Ironie: Die Inszenierung ist desto besser, je weiter sie sich von Brecht entfernt. Am Schluss tanzen die Figuren, ihrer Kostüme entledigt, in hautengen Bodies auf Rollschuhen, und die David-Lynch-hafte Düsternis, die grelle Apokalypse, die sich hier einstellt, entfacht einen Sog, den Brechts sogenannte Chronik aus dem Dreißigjährigen Krieg weitgehend schuldig geblieben ist.

 

Mutter Courage und ihre Kinder
Von Bertolt Brecht mit Musik von Paul Dessau
Regie: Sebastian Baumgarten, Bühne: Alexander Wolf, Kostüm: Jana Findeklee, Joki Tewes, Video: Philipp Haupt, Musik: Christoph Clöser, Jörg Follert, Licht: Jean-Mario Bessière, Dramaturgie: Janine Ortiz.
Mit Rosa Enskat, Lea Ruckpaul, Henning Flüsloh, Jonas Friedrich Leonhardi, Wolfgang Michalek, Rainer Philippi, Cathleen Baumann, Markus Danzeisen.
Premiere am 8. Oktober 2020
Dauer: 2 Stunden 15 Minuten, keine Pause

www.dhaus.de

 

Kritikenrundschau

"Ein in Strecken unterhaltsamer Abend mit starken Bildern und sehr starken Schauspielern. Brechts ernste, antikapitalistische Botschaft geht aber in der Vielzahl der schönen Regie-Einfälle baden", lautet das Fazit von Michael-Georg Müllers Kritik für die Westdeutsche Zeitung (10.10.2020).

Der beste Schauspieler sei Wolfgang Michalek in der Nebenrolle des Kochs. "Seine wechselnden Grimassen zu erleben, die Rauchwolken, die er von Zeit zu Zeit ausstößt, die Gerissenheit, mir der auch er auf seinen Vorteil bedacht ist – das ist ein Vergnügen am Rande und trifft den Kern des Stücks", schreibt Bertram Müller von der Rheinischen Post (10.10.2020). Was das Stück für die Gegenwart bedeute, diese Frage überlasse der Regisseur den Zuschauern. Der Abend hätte zum Ende hin ein wenig Kürzung vertragen.

Lars von der Gönna von der Westdeutsche Allgemeine Zeitung (9.10.2020) hält das "banal austauschbare Disco-Finale" für "überaus verzichtbar". Ein bemerkenswerter Brecht-Abend sei dennoch zu verzeichnen. "Am meisten besticht, wie raffiniert Sebastian Baumgarten Brechts in die Jahre gekommene Modell der Verfremdung in eine Ästhetik unserer Zeit hinüberrettet." Von der Gönna schließt: "Wie hier trotz Abstand Intensität erwächst, das ist in Düsseldorf ein Meisterstück für sich."

 

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