Widerstreitende Identitäten

von Max Florian Kühlem

Oberhausen, 9. Oktober 2020. Saša Stanišić. Wer den Namen des Schriftstellers in einem mit deutscher Tastatur geschriebenen Text korrekt darstellen will, muss ihn von irgendwo hinein kopieren – und wird so gleich mit dem Problem konfrontiert, das ihn zu seinem vielfach (unter anderem mit dem Deutschen Buchpreis) ausgezeichneten Werk "Herkunft" inspirierte: Mit diesem Namen bekommt man in nicht wenigen deutschen Vierteln keine Wohnung. Mit diesem Namen muss man ständig dieselben Frage beantworten: Woher stammt der? Woher kommen Sie denn eigentlich?

Vielfältige Mischung

Das Fragment, Puzzle oder Wimmelbild, das Stanišić als Antwort erschuf, hat es jetzt erstmals auf eine deutsche Bühne geschafft – und zwar überraschend in Oberhausen. Dass ausgerechnet das kleine Theater Oberhausen, das unter Intendant Florian Fiedler weder beim Publikum noch der Kritik konstante Beliebtheit erfährt, – mit besonderem Einverständnis des Autors – die Uraufführung von "Herkunft" besorgen durfte, ergibt allerdings gleich in mehrfacher Hinsicht Sinn: Das Haus liegt mitten im Ruhrgebiet, in dem seit Jahrzehnten eine besonders vielfältige Mischung von Menschen unterschiedlicher Herkunft zusammenlebt. Oberhausen ist dazu keine Universitätsstadt und die Blase von hippen, jungen, vornehmlich weißen Kulturbürgern ist hier dementsprechend kleiner.

herkunft 127 560 v.l.n.r. Clemens Dönicke Agnes Lampkin Heny Morales Foto Kartin RibbeDas Ensemble wählte sich den Regisseur selbst: Clemens Dönicke, Agnes Lampkin und  Heny Morales © Kartin Ribbe

Am Theater hat es außerdem im vergangenen Jahr anlässlich der Anti-Rassismus-Klausel in Theaterverträgen eine Diskussion um strukturellen Rassismus gegeben, die von der Theaterleitung und -verwaltung erst ins Ensemble und dann in die gesamte Stadtgesellschaft überschwappte. Kulturdezernent Apostolos Tsalastras erzählte damals von einem Problem, dass dem Saša Stanišićs ähnelt: "Ich bin seit 15 Jahren in dieser Verwaltung und manche können meinen Namen immer noch nicht richtig aussprechen."

Die Uraufführung von "Herkunft" in Oberhausen war also quasi zwingend notwendig. Für das nicht einfache Unterfangen, ein autobiographisches Mosaik auf die Bühne zu bringen, das nur losen erzählerischen Spuren folgt wie dem geistigen und körperlichen Verschwinden der Großmutter, gestattete Intendant Florian Fiedler seinem Ensemble, selbst einen Regisseur zu wählen. Es wählte den in Ost-Berlin und Belgrad aufgewachsenen Sascha Hawemann, der über sich sagt: "Meine Großeltern waren Partisanen und überzeugte Jugoslawen. Das hat sich nicht geändert bis zu mir. Deswegen habe ich Serbien verlassen als es nur noch serbisch sein wollte."

Bruchmomente in der Bühnenwirklichkeit

Hawemann weiß also, wovon Stanišić spricht, wenn er beschreibt, dass es die Heimat gar nicht mehr gibt, an die er einen Begriff wie "Herkunft" knüpfen könnte. Das Auseinanderfallen Jugoslawiens hat seine Familie entwurzelt, zu "wild in die Welt geworfenen Körnern" gemacht. Auf der offenen Bühne von Wolf Gutjahr, die ein wandelbarer Transit- und Erinnerungsraum ist, inszeniert der Regisseur dementsprechend fragmentarisch; ein Stück mit performativem Charakter, mit Darsteller*innen, die zwischen den Figuren wechseln und in ständiger Suchbewegung sind.

herkunft 712 560 v.l.n.r. Ronja Oppelt Lise Wolle Agnes Lampkin Foto Katrin RibbeAus ihm wird sie: Ronja Oppel. Im Hintergrund: Lise Wolle und Agnes Lampkin © Katrin Ribbe

Der Ich-Erzähler wird von Anfang an auf mehrere Schultern verteilt, ist manchmal, wenn zum Beispiel Ronja Oppelt ihn spielt, auch eine "Sie". Das Ensemble erzählt von seiner brüchigen Biographie mit Bruchmomenten in der Bühnenwirklichkeit: Wenn Großmutter ihm zwar nicht unterstellt, zu lügen, aber doch "zu übertreiben und zu erfinden", dann ergänzt Torsten Bauer: "auch mit Kunstnebel und Musik" – und deutet dabei auf den Bühnennebel und die sich meist dezent im Hintergrund haltenden Live-Musiker. Und wenn es um seine erste große Liebe geht, dann erzählt das "Ich" sich plötzlich nicht mehr selbst, sondern wird erzählt, weil es zu Beginn seiner Schulzeit im fremden Land noch gar keine Sprache für derart große Eindrücke und Gefühle gefunden hat.

Zum Schweben gebracht

So überwiegt an diesem Abend der Eindruck, dass Stanišićs Text auf ein verständiges Team gestoßen ist, das ihm Sound, Tempo und Struktur für die Bühnenadaption verpasst. Die Schauspieler*innen changieren problemlos zwischen Einfühlung und Rollen-Distanz – und Regisseur Hawemann hat eine stimmige Textauswahl getroffen. Leider gibt es aber auch Momente, in denen er dem eher nachdenklich kreisenden, manchmal melancholischen Ton und leisen Humor des Autors nicht zu trauen scheint. So wirkt die Inszenierung vor allem zum Ende hin in einigen Passagen chaotisch, lärmend und gehetzt, wohl um Dringlichkeit zu evozieren und dramatische Risse in den Figuren-Biographien zu zeigen.

Am Schluss ergibt aber selbst das Chaos wieder Sinn, weil auch Stanišić im Buch nicht zu einem schlüssigen Ende finden will: "Bin das ich?", war der letzte Satz seiner Großmutter. "Bin das ich?", fragt sich jetzt auch das Ich mit all seinen manchmal widerstreitenden Identitäten. Das Oberhausener Ensemble hat sie verlebendigt, in die Luft geworfen wie ein Jongleur seine Bälle und die fragmentarisch zerfaserte Geschichte so zum Schweben gebracht.

 

Herkunft
von Saša Stanišić
Regie: Sascha Hawemann, Bühne: Wolf Gutjahr, Kostüm: Ines Burisch, Dramaturgie: Simone Sterr, Musik: XELL., Martin Engelbach.
Mit: Torsten Bauer, Clemens Dönicke, Agnes Lampkin, Henry Morales, Ronja Oppelt, Anna Polke, Daniel Rothaug, Lise Wolle.
Premiere am 9. Oktober 2020
Dauer: 2 Stunden 30 Minuten, keine Pause

www.theater-oberhausen.de

 

Kritikenrundschau

"'Herkunft' in Oberhausen zeigt die Gefahren und Chancen von Romanbearbeitungen. In ihren starken Momenten gibt die Inszenierung Stanišićs Texten körperliche Intensität, in ihren schwachen vergeudet sie die Sätze an wilden Aktionismus", sagt Stefan Keim im Deutschlandfunk Kultur Fazit (9.10.2020).

"Das achtköpfige Ensemble ist spürbar spielfreudig. Hawemann geht mit Abstandsregelungen und Hygieneauflagen geschickt und kreativ um“, schreibt Edda Breski vom Westfälischen Anzeiger (11.10.2020). "In Oberhausen wird konsequent eng an Stanisics Text gearbeitet. Schön, wie vieles spielerisch umgesetzt wird." Leider sei sich der Regisseur aber letzten Endes doch nicht so sicher, wo er mit seinem Stoff hinwolle. Er schwenke vor allem in der letzten Stunde stark ins Biografische, erzähle nach und werde redundant. "Gerade ein Stück, das so bewusst mit dem Wissen arbeitet, dass alle Erinnerung Autofiktion, jedes Schreiben eine Selbst(er)findung ist, dürfte nicht so geradeaus in die Nacherzählungsfalle steuern."

 

 

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