Metatheater für die Ewigkeit

von Claude Bühler

Basel, 11. Oktober 2020. Die Sorge war unbegründet. Seit diesem Wochenende ist klar: Basel wird auch nach dem Weggang von Intendant Andreas Beck, der das Theater aus einer Krise wieder zu künstlerischer Bedeutung und hohen Publikumszahlen brachte, ein inspiriert und aufregend bespieltes Schauspieltheater mit internationaler Ausstrahlung haben. Das darf man nach der Saisoneröffnung mit der Bearbeitung von Ovids "Metamorphosen" als gesetzt annehmen.

Metamorphosen-Mashup

Das Projekt ist ehrgeizig. Kaum ein Werk hat unsere westliche Kultur mit so vielen, auch komplex gebauten Geschichten versorgt, bei denen sich Goethe ebenso bediente wie David Cronenberg. Unsere Museen sind vollgehängt mit Ovids tragischen Szenen: Mord, Inzest, Wahnsinn, Vergewaltigung, Schlachten, tödliches Liebesleid – nichts wird ausgelassen. Herkules, Pygmalion, Ikarus, Medea, Phaeton – gegossen in höchste Dichtkunst, mal berührendes, mal schockierendes Kopfkino, das einen Bogen von der Weltschöpfung bis zu Ovids römischer Kaiserzeit spannt.

Metamorphosen 8882 560 M KorbelPaula Beer in "Metamorphosen" © Maurice Korbel

Mit jugendlicher Respektlosigkeit und spielerischer Frechheit haben Regisseur Antú Romero Nunes und das neue Basler Ensemble (die Hälfte der elfköpfigen Besetzung ist Mitte zwanzig) den 2000-jährigen Koloss aufgespiesst, den größten Teil der 250 Sagen ausgemistet, den Rest auseinandergerissen, neu zusammengesetzt, eigene Texte eingefügt, die Rollen der Monster, Nymphen, Göttinnen und Helden neu gedeutet, umbesetzt, die Geschlechter geswitcht (Jupiter oder Orpheus werden von Frauen gespielt). Das kühne Ineinander- und Übereinanderschieben kuliminiert etwa in der Szene, als sich Narziss im Spiegel erblickt, sich in sein Bild verliebt: Nur dass jetzt Narziss der tobendwütende, weil notorisch unterbewertete Held Herakles ist, der den "Taxi Driver" markiert mit der berühmten De Niro-Improvisation "You’re talkin’ to me?".

Sex, Gewalt und schlechte Laune

Hier hat vieles Platz: Der Pennälerwitz mit Knallerbsen anstelle von Jupiterblitzen, aber auch der antike Chorsprech, das psychologische, naturalistische Spiel der fünfziger Jahre (mit Miles Davis-Trompete im Hintergrund), der klassische Monolog, die Song-Revue oder die beinahe ausufernde Ensemble-Aussprache (alle gegen Jupiter). Die Basler "Metamorphosen" reihen nicht bloß Geschichten aneinander; Nunes und Mitstreiter*innen veranstalten großes Metatheater mit allen möglichen Erzählformen – und steigern damit Ansätze, die sich bei Ovid finden. Auch er wechselt ja von Erzählung zu innerem Monolog. Und die Götter oder Geschmacksgrenzen waren auch ihm nicht immer heilig, wenn er Effekt machen konnte.

Metamorphosen 3386 560 M KorbelGötterspeise © Maurice Korbel

Auch wenn das Publikum viel über die allzu menschlichen Zänkereien der Gottheiten und den teilweise sprühenden Dialogwitz lacht: Es hängt, je weiter man sich von der Schöpfung (inklusive angedeuteter Sintflut) gen Jetzt-Zeit bewegt, ein grosses Bedauern über dem Gang der Welt. "Alles Scheiß-Geschichten", wettert Sänger Orpheus. Rebellisch will Medea "ihr Antlitz aufrecht zu den Sternen erheben" – und fährt wütend über die Profanisierung fort, dass sie ihren beiden Söhnen nun Jack Wolfskin-Jacken kaufen werde. Jupiters Herrschaft wird von der Götterfamilie auf die Formel "Sex, Gewalt und schlechte Laune" reduziert. Das Gedicht, mit dem Ovid "Ewigkeit" anstrebte, neigt sich hier zur Lebensmüdigkeit.

Esprit und Spiellust

Die Songs der Figuren zwischen den Szenen klingen meist traurig, auch wenn das Live-Orchester R’n’B, Hiphop oder Chansons im Stil von Tom Waits oder Björk spielt: Gelegenheit für alle Mitglieder des Ensembles, ihre teilweise ausdrucksstarken Organe zum Klingen zu bringen. Es bewährt sich als Ganzes mit Esprit und Spiellust in den verschiedenen Erzählformen. Barbara Colceriu (Phaeton) und Jonas Dassler (Herakles) ragten als komische Supertalente heraus. Nicht alle Teile tragen gleichermassen; in der zweiten Hälfte des ersten Teils wären Straffungen angezeigt. Aber trotzdem ist es ein Abend zum Staunen, Forschen und Lachen.

Metamorphosen
nach Ovid
Inszenierung: Antú Romero Nunes, Bühne: Matthias Koch, Kostüme: Victoria Behr, Musik: Anna Bauer, Johannes Hofmann, Lichtdesign: Cornelius Hunziker, Ton: Ralf Holtmann, Christof Stürchler, Dramaturgie: Kris Merken.
Mit: Paula Beer, Barbara Colceriu, Jonas Dassler, Vera Flück, Nairi Hadodo, Anne Haug, Michael Klammer, Marie Löcker, Annika Meier, Sven Schelker, Aenne Schwarz, Live-Band: Anna Bauer, Carolina Bigge, Flo Götte, Ambrosius Huber, Anita Wälti.
Dauer: 3 Stunden 15 Minuten, keine Pause
Premiere am 9. Oktober 2020

www.theater-basel.ch

 

Kritikenrundschau

"Hochkomisch, pathetisch, spielwütig, irre phantastisch und gefühlsberserkerhaft." Daniele Muscionico von der Neuen Zürcher Zeitung (11.10.2020) zeigt sich beeindruckt. "Diese etwas andere Saisoneröffnung mit Nunes’ Ovid-Schlachtung bloss bemerkenswert zu finden, wäre schlichtweg eine Untertreibung." Nunes’ clever gebaute und wie eine Maschine ineinander verzahnte Klassiker-Ausweidung wühle als kulturgeschichtlicher Caterpillar in Ovids Text nach deren Verwertungszusammenhängen durch die westliche Literatur- und Filmgeschichte. Das Ergebnis sei ein "Hollywood-taugliches Theatermanifest", es bringe die alte Bühnenkunst auf die zeitlose Gleichung: "Theater ist die Wurzel aus Spiel, Verwandlung und Phantasie".

Der Abend sei ein Manifest für das unumwunden einfache, unbeschwert überbordende, exaltiert vergnügungssüchtige Verwandlungsspiel. "Für den Übermut, das Tagesvergessene, die Phantasiefreiheit des Theaters. Und für den Überraschungswillen eines jungen, spielwütigen Ensembles", schreibt Simon Strauß von der FAZ (12.102020). "Die Texte – größtenteils von der Compagnie selbst ausgedacht – sind harmlos, überflüssig und manchmal hart an der Grenze zum Blödsinn, aber was soll’s, man kann dem Abend nichts übelnehmen, dafür spielt das Ensemble zu gut, zu unbefangen, zu lebenslustig.“ Und weiter: "Nicht alles, was hier aufblitzt, ist wirklich ein Knaller. Da ist auch viel Pseudoimprovisation, Markiererei und Rumgerede dabei. Aber in jedem Fall ist es eine echte Spielwelt, die hier aufgebaut wird, mit einer phantastischen Live-Band. Eine Welt, die ohne Bildschirme und verwackelte Projektionen auskommt, die allein durch die Lust der Verstellung lebt."

Von einem "mit großer Ambition vergeigten Abend" spricht mit Michael Laages in der Sendung "Fazit" beim Deutschlandradio (9.10.2020) und gibt großes Bedauern darüber zu Protokoll. Denn wenn "die Geschichten stark fokussiert werden auf manchmal nur ein paar Minuten", dann kann dieser Abend aus seiner Sicht sehr stark sein. "Ansonsten ufert er aus, er ist teilweise unsäglich albern, das war ja schon immer ein Problem mit Antú Romero Nunes, auch in Hamburg und überall. Und der Abend gewinnt wirklich die ganze Zeit über nicht an Form dazu, sondern nach dem Beginn verliert er eigentlich immer mehr Form und als sie zum Schluss dann noch mal ein richtiges Bühnenbild aufbauen und so eine Art Familienaufstellung ausprobieren, wird's auch nicht besser."

 

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