Astronauten des Arbeitertheaters

von Nikolaus Merck

Berlin, 16. Oktober 2020. Es ist ja so ein Ding mit dem postdramatischen Theater. Oft schüttet es einem bunte Splitter vor die Füße und die Zuschauer*innen sind gehalten, aus dem Häuflein Glitzersteine ein Bild, eine schlüssige Geschichte selbst zu entwerfen. Ko-Fabulierer muss man sein.

Schwedt und die Petrolchemie

Rückblende. Schwedt 1959. Die rohstoffarme DDR beschließt, eine Grundstoffindustrie aufzubauen. Ein zweites petrolchemisches Werk neben dem alten der IG Farben in Leuna wird aus dem Boden gestampft. Die längste Erdölleitung der Welt, die Pipeline "Druschba" (Freundschaft) führt 5.000 Kilometer von Westsibirien bis nach Schwedt, kurz vor Berlin. 1964 geht das Erdölverarbeitungswerk ans Netz. Rohstoffe für die Textilindustrie, die Landwirtschaft, die Chemieindustrie kommen aus Schwedt. Komponenten für Waschmittel, Eiweiß für die Tiermast. Ganz Berlin, inklusive Westteil, werden mit Kraftstoff versorgt, in Sachen rückstandsfreier Produktion gibt Schwedt in den 80er Jahren ein Beispiel. Das Petrolchemische Kombinat (PCK) hat "Weltstand", es kann konkurrieren mit dem verfeindeten, technologisch beneideten Westen.

Eternity fuer alle 4 560 c dorothea tuch uVom Erdöl zum Kunststofftraum fürs Kinderzimmer: das Einhorn bei andcompany&Co. am HAU Berlin © Dorothea Tuch

Konkurrenzfähig ist auch das werkseigene Arbeitertheater. Mitte der 60er Jahre inszeniert Gerhard Winterlich mit den Schwedtern sein Stück "Horizonte" und gewinnt beim ökonomisch-kulturellen Leistungsvergleich in Karl-Marx-Stadt eine Goldmedaille. Heiner Müller übernimmt den Stoff und überschreibt und remixt ihn mit dem "Sommernachtstraum" für die Eröffnung der Intendanz von Benno Besson an der Berliner Volksbühne 1969. Das ist Theatergeschichte.

Die Kybernetik schlägt zurück

Ein halbes Jahrhundert später hat sich die Kybernetik, das sich selbst-regulierende System, von der das Arbeitertheater des PCK Schwedt noch zukunftsfroh sang, aus der Hoffnung zu einem Golem gewandelt. Nicht mehr "Wie wir heute lernen, werden wir morgen arbeiten" heißt die Losung, vielmehr herrscht die Furcht vor der arbeitsplatzfressenden Digitalisierung.

Nicht so jedoch bei andcompany&Co. im Berliner Hebbel am Ufer. Vor corona-tauglich ausgedünnter Kulisse haben die Frankfurter Performer den leichten Weg gewählt. Sie stellen gestrandete Raumkapseln auf die Bühne (oder Gestalt gewordene chemische Formeln), Campingstühle, ein paar Trichterrohre aus Marsmenschen-Comics ragen aus dem Bühnenboden, elektronisches Gerät und ein Schlagzeug sorgen für pumpende Bässe und melodisches Gefiepe. Die Kostüme silbern leise in der optimistischen Sci-Fi-Ästhetik der 60er Jahre.

Eternity fuer alle 3 560 c dorothea tuch uScience Fiction nach Heimwerkerart: bei andcompany&Co. am Berliner HAU © Dorothea Tuch

Das ist der Rahmen, in dem die Überlebenden des alten Schwedter Arbeitertheaters ihre Erinnerungen ausbreiten. Die Frauen auf der Bühne, die Männer per Video-Screen oder holografischer Präsenz. Die versprochene Verlängerung der Automations-Diskussion ("Wenn wir die Rechenkapazität der Rechner erhöhen, / führt das dann nicht dazu, dass die Menschen die Kapazität verlieren, / damit zu rechnen, was die Rechner errechnen?") in die Gegenwart findet eher nicht statt. Nur ein Heiner Müller-Cartoon auf dem Screen darf verzerrt von der Beseitigung des Menschen schwadronieren, wenn dieser Informationen nicht so flott transportieren kann wie der Computer.

Hinterm Horizont: das globale Konsortium

Die Inszenierung ist unangreifbar, weil die Würde des gelebten Lebens von Hartmut Bartsch, Hildegard Bartsch, Jochen Bismark, Henry Bitter, Katharina Günther, Brigitte Paulick, Peter Schauer, Edgar Walter, Regine Walter allem kritischen Urteilen enthoben ist. Mehr noch, Spieler und Team widmen den Abend dem schwer erkrankten Edgar Walter, der in den 60ern die Hauptrolle in "Horizonte" spielte. Wollte man den Mitgliedern des Arbeitertheaters also vorhalten, dass sie in ihren Bühnenerzählungen nur Gutes erinnern, die einstigen Hoffnungen, den Aufbruch – Erinnerungen, die jedoch an Überzeugungskraft verlieren, wenn das Elend, der Mangel, die Enttäuschungen, die jedes Leben mit sich bringt, nicht auch bewahrt werden? Nein, bestreitbar sind die mit Zitaten aus den alten "Horizonten" sowie deren Überschreibung in Müllers "Waldstück" verflochtenen Erinnerungen nicht, aber es wird andere, differierende Erinnerungen geben, aus gleicher Zeit, vom selben Ort.

Eternity fuer alle 1 560 c dorothea tuch uPicknick am Wegesrand: Mitglieder des ehemaligen Schwedter Arbeitertheaters spielen bei andcompany&Co. im HAU Berlin © Dorothea Tuch

Was andcompany&Co. sonst noch zu bieten haben, ist nicht wirklich der Rede wert. Es gibt einen hübschen Monolog über Adapter und die Unmöglichkeit eine haltbare Kaffeemaschine im Kapitalismus zu erstehen. Vor kommt selbstverständlich auch die aus der Sesamstraße stammende Pollesch-Schleife, "ich bin hier, ich bin dort, warum bin ich nicht hier, wenn ich dort bin?" und lange weiter im selben Stil. Und schließlich spielt eine Drohne, die eine Libelle vorstellt, eine hervorgehobene Rolle. Mehrfach wird sie auf dem Screen formatfüllend ins Bild gesetzt, Luft-Bilder von der Umgebung des Werkes liegen breit und herbstlich über den Erzählungen vom Aufbau in Schwedt vor 60 Jahren.

Eines fällt auf, wenn man hinterher als Ko-Fabulierer den Abend zusammensetzen muss: Die Libelle/Drohne sieht alles, aber sie liefert keine Bilder von der heutigen Schwedter Fabrik. Das mag daran liegen, dass sie einem internationalen Konsortium gehört, angeführt von der russischen Rosneft und der Shell AG, die sich unbefugte Bilder wohl eher verbitten. Schwedt heute, eine durchrationalisierte Fabrik, ist die reale Annäherung an den Traum des Alt-Arbeiters vom sich selbst regulierenden Werk, ganz ohne Menschen. Heute, da solche Träume von der Wirklichkeit eingeholt wurden, eher ein Alptraum, der manifest und wirksam ist und sich zugleich unsichtbar macht.

 

Neue Horizonte: Eternity für alle!
von andcompany&Co.
Konzept & Regie: andcompany&Co. (Alexander Karschnia, Nicola Nord, Sascha Sulimma), Text: Alexander Karschnia, Luise  Meier, Nicola Nord &Co., Bühne: Lena Newton mit Caroline Wächter, Kostüme: Franziska Sauer, Caroline Wächter, Dramaturgie: Alexander Karschnia&Co., Musik: Sascha Sulimma mit Jan Brauer, Matthias Engler &Co., Lichtdesign: Rainer Casper,
Video: Kathrin Krottenthaler und Fruzsina Jesse, Choreografische Beratung: Jasmin İhraç Mitarbeit Dramaturgie: Verena Katz, Wissenschaftliche Beratung: Eva Renvert, Mitarbeit Regie: Kasia Noga, Hospitanz Ausstattung: Hanne Jannasch, Technische Leitung: Marc Zeuske, Company Management: Caroline Farke,Administration & Kommunikation: Rahel Häseler.
Von und Mit: Hartmut Bartsch, Hildegard Bartsch, Jochen Bismark, Henry Bitter, Katharina Günther, Luise Meier, Brigitte Paulick, Peter Schauer, Edgar Walter, Regina Walter, Senior*innenchor PCK Schwedt.
Eine Produktion von andcompany&Co. in Koproduktion mit HAU Hebbel am Ufer Berlin, Künstlerhaus Mousonturm Frankfurt am Main, HELLERAU Europäisches Zentrum der Künste, FFT Düsseldorf und Uckermärkische Bühnen Schwedt.
Premiere am 16. Oktober 2020
Dauer: 1 Stunde 20 Minuten, keine Pause

www.hebbel-am-ufer.de
www.andco.de

 

 

 

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