Mourning becomes Electra - Volksbühne Berlin
Wenn sie mit Fleischermessern durch eure Schlafzimmer geht…
von Esther Slevogt
Berlin, 16. Oktober 2020. Der gigantische Rundhorizont der Volksbühne eignet sich natürlich vorzüglich, um dort enorme Flatscreens mit Filmszenen herabzulassen, die das Bühnengeschehen albtraumhaft vergrößern. Man sieht etwa, wie die zuvor noch statuarisch-kühle Lavinia Mannon (Paula Kober) mit gruseligen falschen Pupillen zum Voodoo-Monster geworden ist, das Barbiepuppen verspeist. Oder Mutter Christine (Sabine Waibel), die mit eisigem Blick weiße Chrysanthemen in der Vase zurechtzupft, bevor sie einer Marshmallows-Maus den Kopf abbeißt. Ihr unter seinem Topfhaarschnitt depressiv hervorblickender Gatte Ezra Mannon (Robert Kuchenbuch), soeben aus einem nicht näher definierten Krieg heimgekehrt, erklärt ihr im Pyjama derweil seine Liebe und spricht von Neuanfang.
Die Orestie in Amerika
Aber wir wissen natürlich längst, dass daraus nichts werden kann. Das Yves-Klein-blaue Haus, das wild auf der Drehbühne (Bühne: Michela Flück) zu drohender Musik von Daniel Murena rotiert, ist umgestürzt. Auf seiner zum Bungalow umfunktionierten Rückseite hat sich die Rumpffamilie längst in ein Leben ohne die Agamemnon-Figur Ezra eingerichtet. Und so erstickt ihn die Gattin mit dem Kissen, um sich vom Unglück ihrer Ehe zu erlösen, das mit der Rückkehr des Mannes aus dem Krieg wieder aufzuleben droht.
Auch in sonstige familiäre Verwerfungen haben wir bereits ausführliche Einblicke erhalten. Schließlich haben wir es mit Eugene O'Neills, 1931 in New York uraufgeführter Übertragung der blutigen Atriden-Saga auf amerikanische Mittelklassen-Verhältnisse zu tun. Aus der olympischen Welt der schicksalsbestimmenden Götter holt O'Neill den Stoff auf den Boden niedriger Triebe und billiger Sehnsüchte einer entzauberten Welt.
Im Geisterhaus
In ihrer multimedialen, virtuos alle eklektizistischen Register ziehenden Inszenierung begegnet Pınar Karabulut der schwülstig-klischeehaften Vorlage mit ironischer Distanz. Alle Figuren scheinen einem Horror-B-Movie entlaufen. Oder dem Haunted House in Disney Land. Nur dass ihre Garderobe (Kostüme: Teresa Vergho) schwer inspiriert von den schrillen 1970er Jahren ist. Die schreienden und für den ungestillten Lebenshunger der Figuren stehenden Farben bilden stets einen beißenden Kontrast zur bläulichen Eiseskälte der Bühne.
Der erste Teil ist ganz Film und siedelt den Stoff unter anderem auch in der zum Geisterhaus gewordenen Volksbühne selber an: in ihren leeren Fluren, Foyers, Treppenhäusern und Büros. Immer wieder gluckst das Publikum vergnügt, wenn es besonders dramatisch wird. Trotzdem kommen die überzeichneten Figuren erstaunlich nah, mit ihren vergeblichen Hoffnungen, geliebt zu sein, die sie immer an die Falschen adressieren.
Das liegt auch an dem starken Ensemble, das diese radikal auf seinen (ödipal-inzestuösen) Kern zusammengestrichene Fassung des dreiteiligen Mammut-Dramas stemmt: Allen voran die abgründige Sabine Waibel als Christine Mannon und Paula Kober, die Tochter Lavinia Mannon irgendwo zwischen Lolita und Linda Blair ("Der Exorzist", 1973) anlegt. Und so entfaltet der Abend zunächst einen großen Sog und beeindruckt auch durch souveränen Umgang mit einer gigantischen Theater- und Illusionsmaschinerie – auch wenn stilistische Anleihen aus der Castorf-Ära ziemlich unübersehbar sind.
Heiner Müller schleicht sich rein
Leider aber gibt Pınar Karabulut ihre ironische Distanz zum Stoff irgendwann auf. Zunehmend spukt Heiner Müller (der in einer umgekehrten Bewegung zu O'Neill die Mittelklassen- und Kleinbürgerwelt auf Antikenformat aufblies) ironiefrei durch den Abend, dessen "Elektratext" von 1969 im letzten Drittel unvermittelt auflodert. Schon vorher schien die zunehmend mit Fleischmessern fuchtelnde Lavinia deutlich von Müllers Susan-Atkins-Ophelia aus der "Hamletmaschine" inspiriert ("Wenn sie mit Fleischmessern durch eure Schlafzimmer geht, werdet ihr die Wahrheit wissen."). Entsprechend weist die Orest-Figur Orin Mannon (Manolo Bertling) leise optische Charles-Manson-Anklänge auf.
Die klischeehaften familiären Verwerfungen des Dramas werden von Karabulut plötzlich politisiert: So wird der Fall des von O'Neill als unehelicher Mannon-Spross ("Bastard") entworfenen Adam Brant (Malick Bauer) an aktuelle Rassismusdebatten angepasst. Malick Bauer hat dann (nach dem seine Figur Adam Brant bereits gemeuchelt wurde) noch einen starken Auftritt, in dem er Rassismus- und Repräsentationsfragen auf dem Theater verknüpft: wer im Theater hierzulande was und warum spielen darf. Doch so recht fügt sich das nicht in den sonstigen Diskurs des Abends.
Und auch Lavinia soll nicht enden, wie im Original, nämlich als Trauernde für die Ewigkeit. Ihr gönnt Pınar Karabulut im Finale also einen ambivalenten Ausbruchsversuch. Aber weil an ihr noch das Blut des zuvor ermordeten Bruders klebt, ist die Freiheit, die sie jetzt erreicht zu haben glaubt, natürlich keine. Es ist lange ein toller Abend, der irgendwann leider vom Weg abkommt.
Mourning becomes Electra
von Eugene O'Neill
Deutsch von Michael Walter
Regie: Pınar Karabulut, Bühne: Michela Flück, Kostüme: Teresa Vergho, Video: Leon Landsberg, Musik: Daniel Murena, Licht: Johannes Zotz, Dramaturgie: Daniel Richter.
Mit: Malick Bauer, Manolo Bertling, Paula Kober, Robert Kuchenbuch, Sabine Waibel. Und: Emmanuel Amoako-Jansen, Elmira Bahrami, Martin Bruchmann, Johannes von Dassel, Murat Dikenci, Lotta Emilia Duks, Daniel Fleischmann, Alina Fluck, Nicolas Handwerker, Kathrin Hildebrand, Solomon Kisiedu, Anna Marie Lutz, Justus Maier, Chika Mbonu, Peter Miklusz, Alexandra Weis, Yue Ying.
Premiere am 16. Oktober 2020
Dauer: 2 Stunden 40 Minuten, keine Pause
www.volksbuehne.berlin.de
Kritikenrundschau
"Regisseurin Pinar Karabulut riskiert viel bei ihrer Version von Eugene O’Neills erster, extrem freudianischer, moderner Überschreibung der 'Orestie'", meint Ute Büsing im RBB (17.10.2020), die sich wahlweise an den "späten Fassbinder" und an David Lynchs "Twin Peaks" erinnert fühlt. Zu sehen gebe es einen "Kleinbürger-Gewalt-Knaller mit Soap-Opera-Aufladung", der sich allerdings gegen Ende in eine "nicht enden wollende dümmliche Zaubershow" verheddere. Das sei dann doch "viel zu viel gewollt und viel zu wenig bewirkt", so die Kritikerin.
"Karabulut hat keine Angst, sich zu übernehmen. Das ist eine gute Nachricht in einem Theaterbetrieb, der nicht selten auf Nummer sicher geht", findet Tobi Müller im Deutschlandfunk Kultur (16.10.2020). Die "zweite gute Nachricht" sei, dass man Eugene O'Neill nun anders lesen könne, nämlich als "Dramatiker der kritischen Männlichkeit, wie das heute heißen würde." Nach dem "fast einstündigen Film", mit dem der Abend beginnt, mehren sich beim Kritiker aber die Zweifel. Was man im Folgenden zu sehen bekomme, sei "schön ungemütlich, durchaus unterhaltend, aber unkonzentriert".
Dass Karabulut "die Traumastränge des Familiennetzes aufschneidet und zu einem surrealen Horror-Splatterfilm-Theaterverschnitt sampeln würde, durfte man erwarten," schreibt Doris Meierhenrich in der Berliner Zeitung (18.10.2020), die Karabuluts Mut, sich den Stoff "mit Schwung anzueignen", auch lobt. "Nur hat sie bei all ihrer Formspielerei die Stränge des 'Wohin' und 'Wozu' über zweieinhalb Stunden heillos verloren." Schauspielernummern würden in Endlosschleifen zerfleddern - "Ein pop-ironisches Hysterietheater unter 70er-Jahre-Maske. Stylisch, aber belanglos zerspielt," so das Fazit der Kritikerin.
"Mourning becomes Electra" sei "ein extrem unterhaltsamer, fast dreistündiger Horrortrip, der einem die griechische Mythologie näher bringt als mancher Klassiker und auch wegen seiner popkulturellen Zitatschlacht großen Spaß macht", so Anna Fastabend in der Süddeutschen Zeitung (20.10.2020). Das Grandiose an Sabine Waibel und Paula Kober sei, "wie detailverliebt sie ihre Rollen ausfüllen. Während Kober mit vorgeschobener Unterlippe ganz das trotzige Mädchen mimt, gibt sich Waibel als Mischung aus Perlen-Paula und Milf, ständig hin- und hergerissen zwischen Contenance und Explosion."
Barbara Behrendt schreibt in der taz (online 24.10.2020): Karabulut zeige 50 Minuten "ironische Einblicke ins Unterbewusstsein" auf der Film-Leinwand. Auf der Bühne inszeniere sie mit Spaß an der detailgenauen Ausstattung "böse komisch und höchst unterhaltsam". Doch das Assoziationskarussell drehe im Lauf von fast drei Stunden schließlich hohl.
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nachtkritikvorschau
Überdeutlich sind bei Karabuluts Debüt im großen Saal der Volksbühne die Verweise auf Frank Castorf und Bert Neumann. Allerdings tappt sie dabei in dieselbe Falle, die auch schwächere Castorf-Abende kennzeichnet: „Mourning becomes Electra“ irrlichtert und verheddert sich, muss immer wieder neuen Anlauf nehmen. Nach jedem Durchhänger meldet sich Karabulut zwar wieder mit einem Pop-Kracher zurück, vor allem im letzten Drittel hat der Abend jedoch zu viele Längen. Eine Parodie auf Zauber-Shows und Varietés ist deutlich zu ausgewalzt, bevor der Abend zu seinem feministischen Finale ansetzt: „I am a free bitch!“ schmettert Lavinia (Paula Kober) nach mehr als 2,5 Stunden in den Saal der Volksbühne. Die einzige Überlebende des inzestuösen Mannon-Familien-Clans feierte ihren Sieg zuvor schon mit einem „Pokerface“-Solo von Lady Gaga.
Komplette Kritik: https://daskulturblog.com/2020/10/17/mourning-becomes-electra-pinar-karabulut-volksbuhne-kritik/
(Anm. Redaktion: Absolut, werter Werner Fritsch, wird sogleich von Speichel befreit!)
Regie: existiert.
Nachtkritik KommentatorIn : WO WAR DIE DRAMATURGIE?