Letzter Sprung vom Karussell

von Anna Landefeld

München, 16. Oktober 2020. Es ist eine Hommage an einen Vergessenen – und was für eine: schnörkellos und üppig, klar und vogelwild, pathetisch und schwer expressionistisch. Kurz: eigenwillig! Das muss sie auch sein, die Inszenierung von Jan-Christoph Gockel an den Münchner Kammerspielen. Eigenwillig wie der, dem dieser dreineinhalbstündige Sechsakter mit neun Schauspieler*innen und neun Puppen gewidmet ist: Ernst Toller – der Dichter, der Dramatiker, der Theatermeteor der Zwanzigerjahre, der Utopist, der Träumer, der Moralist und obendrein noch Revolutionär und Politiker. Gockel packt den Schwerfassbaren, den Unermüdlichen, den Zerrissenen und erinnert an ihn.

Stahlhelm über Puppenaugen

Gut, dass Ernst Toller eine Autobiografie hinterließ. Hier schreibt er alles auf in kurzen Sätzen und ironischer Sprache. Dreißig Jahre ist er da alt. Durchlebt – eigentlich vielmehr überlebt – hat er da schon den erzkonservativen Preußendrill seiner Kindheit, die Front im Ersten Weltkrieg, eine Revolution und fünf Jahre bayerische Festungshaft.

Gockel hangelt sich der Biografie entlang, aber widersteht der Versuchung sie stupide beim Wort zu nehmen. Er zerstückelt sie, löst sich vom Wortlaut, deutet nur an. Die Fugen kittet er mal unaufdringlich mit kurzem Tanz und Gesang, mal wuchtiger mit langen Filmsequenzen, mischt Traum und Realität. Den einen "Ernst Toller" gibt es dabei nicht – es gibt ihn gleich zehnfach in Form von neun Schauspieler*innen und einer Marionette, die seine strengen Züge trägt, bis hin zum denkenden Augenniederschlagen.

Eine Jugend in Deutschland 5 560 c francesco giordano uAn vielen Fronten: Martin Weigel in Jan-Christoph Gockels "Eine Jugend in Deutschland" © Francesco Giordano

"Eine Jugend in Deutschland" ist damit mehr als nur Toller-Bioplay – es ist ein Appell an die Gegenwart – und vor allem auch eine Huldigung an die expressionistischen, revueartigen Inszenierungen der Toller-Stücke in den Zwanzigerjahren.

Langer Weg zum Pazifismus

Dem ganz entsprechend ist auch die Drehbühne von Julia Kurzweg nur eine karge, grau-verwaschene Andeutung. Hohe Sperrholzwände, die an die Überbleibsel eines kariös-ausgehöhlten Zahns erinnern oder eben an die letzte Wand eines ausgebombten Hauses. Gleich zu Beginn ist sie Kulisse für den der Ursprungsort aller Charakter-Verödung: das Königliche Realgymnasium.

Hier sitzen sie in Reih und Glied: die neun Schauspieler*innen, versteckt hinter ihren Puppen-Konterfeis aus der Werkstatt von Michael Pietsch. Eingekleidet sind sie in kindliche Träume, Meerjungfrau, Ritter, Prinzessin – sie werden schwarzen Uniformen weichen, den Stahlhelm fast bis über die runden Puppenaugen gezogen. Im Hintergrund berlinert, knarzend Kaiser Wilhelm über das "Sein oder Nichtsein deutscher Macht und deutschen Wesens". Auch der Pazifist Toller ist kriegshungrig, hat Appetit auf Hurra-Patriotismus. Eine Jugend in Deutschland 1 560 c francesco giordano uNoch Klassenzimmer, bald Schlachtfeld: die Bühne schuf Julia Kurzweg für "Eine Jugend in Deutschland © Francesco Giordano

13 Monate verbringt er an der Front, kehrt heim, meldet sich dann wieder freiwillig. Das Klassenzimmer ist zum Totenfeld geworden. Kein Reih und kein Glied mehr – zerstreut liegen die nackten Puppen auf der Bühne, ohne Helm, ohne Uniform, ohne Bein und Arm. Lion Bischof filmt live mit seiner Kamera in Großeinstellung die groteske Szenerie. Es schaudert einen beim Anblick dieser Bilder – so wie es auch Toller schauderte, der sein Schaudern in seinem Kriegsheimkehrer-Drama "Hinkemann" verarbeitete und dem auch Gockel einen ganzen Akt widmet.

Mahnen bis zur Erschöpfung

Julia Gräf als Hinkemann mit puterotanlaufendem Kopf, die sich die Tränen aus den Augen presst und die Klage aus dem Mund – zur Schau gestellt wie eine Jahrmarktsfigur. Ernst Toller selbst griff nie wieder zur Waffe, schwor aller Gewalt ab und schaffte es trotz oder gerade mit dieser Haltung in den Kreis der Revolutionäre um Kurt Eisner, Erich Mühsam und Gustav Landauer und die Münchner Räterepublik von 1919.

Eine Jugend in Deutschland 6 560 c francesco giordano uZwiegespräch mit sich selbst: Walter Hess und Ernst-Toller-Puppe © Francesco Giordano

Und immer wieder groteske Szenerien, immer wieder Film – durch die mehrfache Verfremdung nähert sich Gockel leichtfüßig dem Grauen an. Die "Thule Gesellschaft" ist dabei ein wurstfressender, biersaufender, fettleibiger Haufen völkischer Antisemiten (Gro Swantje Kohlhof gleich in vier Rollen in diesem Schwarz-weiß-Stummfilm und ironisch-lakonische Live-Kommentatorin) auf einem Sofa im "Hotel Vierjahreszeiten" gleich gegenüber von den Münchner Kammerspielen. (Nun, nicht ganz, denn eine Drehgenehmigung bekam man dort nicht.) Wie erschreckend banal das Böse ist. Toller schrieb hellsichtig gegen die braunen Uniformen an, mahnte rastlos bis zur Erschöpfung gegen den Faschismus in Europa.

Hoffnung Jugend

Als gealterterten Mann lässt ihn auch Jan-Christoph Gockel im letzten Akt nach fünf Jahren Festungshaft erscheinen. Auftritt: Walter Hess, der mit präsenter Müdigkeit zur letzten großen Allegorie ansetzt über das Karussell, auf dem weiter getanzt, gelacht und sich begattet wird – "Ich springe ab." Das war's.

Was bleibt also von diesem tragisch-zerstörten, zerbrechlichen Geist Ernst Tollers, der sich 1939 für den Suizid in einem New Yorker Hotelzimmer entschied. Gockel hat die Gegenwart im Blick, die einer Jugend gehört, auf die auch Toller immer große Hoffnung setzte. "Welches Jahr haben wir eigentlich?" wird einer der Schauspieler*innen gegen Ende fragen. "Na, Jetzt!", lautet die Antwort. 

 

Eine Jugend in Deutschland
Stück für Schauspieler*innen und Puppen
nach dem Roman von Ernst Toller
Regie: Jan-Christoph Gockel, Bühne: Julia Kurzweg, Kostüme: Amit Epstein, Musik: Anton Berman, Licht: Christian Schweig, Video & Live-Video: Lion Bischof, Puppenbau: Michael Pietsch, Dramaturgie: Viola Hasselberg.
Mit: André Benndorff, Sebastian Brandes, Julia Gräfner, Walter Hess, Gro Swantje Kohlhof, Bekim Latifi, Michael Pietsch, Leoni Schulz, Martin Weigel.
Premiere am 16. Oktober 2020
Dauer: 3 Stunden 30 Minuten, eine Pause

www.muenchner-kammerspiele.de

 

Kritikenrundschau

Gockel strenge sich sehr an, Tollers Wirken erfahrbar zu machen: "unmissverständlich, schnörkellos und mit ein paar verzichtbaren Proseminar-Momenten", so Christiane Lutz in der Süddeutschen Zeitung (20.10.2020). "Der Ideenreichtum ist enorm: Napoleon grüßt, Hitler taucht auf in einem Schwank über das "Hotel 'Vier Jahreszeiten' als Treffpunkt für Bald-Nazis. Den Marionetten kommt in der Inszenierung eine ganz neue Qualität zu, nämlich die als Wangenstreichler und Kampfgegner, wo Corona sonst Abstand erzwingt." Auch die Schauspieler seien "eine Freude". Manches wirke gezwungen, wie der Wunsch, es bloß allen recht zu machen. Insgesamt aber "ein kluger Abend".

Der fantasievolle Szenenreigen mit liebevoll gebauten Gliederpuppen wirke "ein wenig wie Schulfunk für Fortgeschrittene", schreibt Alexander Altmann im Münchner Merkur (20.10.2020): "Der Regisseur, Mitglied im neuen Leitungsteam der Kammerspiele, hat eine (zu große) Menge Wissen über Leben und Werk des Dichter-Revolutionärs Toller (1893-1939) in ein geschmackvolles szenisches Gewand gesteckt, das aber den didaktischen Impuls nicht ganz verhüllen kann." Immerhin: Man fühle sich gut unterhalten und könne den Abend tendenziell "auch als Rückwendung zum 'richtigen' Schauspieler-Theater werten".

Eine Neigung, "sich zu verzetteln", attestiert Sabine Leucht in der taz (22.10.2020) dem Regisseur Jan-Christoph Gockel. Unter "dem Vorwand, sich mit der facettenreichen Persönlichkeit eines Schriftstellers, geläuterten Hurra-Patrioten und politischen Utopisten zu beschäftigen, werden Bühnenmittel hier kurz angefasst und schnell wieder fallen gelassen. Ebenso geht es den biografischen und zeithistorischen Erzähllinien, unter die Gockel noch Auszüge aus Tollers Stücken und Briefen mischt."

 

Kommentare  
Jugend, München: Ich war im falschen Abend
Liebe Kritikerin,

ich war wohl im falschen Abend gestern.
Bei aller Liebe und auch allem respekt vor dem Start der neuen Intendanz... Das was ich gestern gesehen habe war ein Zusammenwurf aus verschiedenen Mitteln, ohne Konsequenz. Die Puppen wurden nicht lebending, eigentlich ein Markenzeichen des Regisseurs. Sagen wir es so: Die Puppen hätte es nicht mal gebraucht in dieser Inszenierung da sie absolut unwichtig waren und man mehr den Darstellern zugesehen hat als den Puppen. Insgesamt gab es einige Szenen die sich stimmig anfühlten, aber viel mehr vertane Chancen Bilder zu schaffen. Überhaupt war das alles sehr ernst genommen und tragisch. Auch die Ironie die immer mal wieder aufblitzte war für mich nicht immer als solche zu greifen. Es fühlte sich an wie ein Probenstand noch weit weg von der Premiere. Unstimmig fühlte sich einiges an. Die großartige Musik, das Bühnenbild, die Spieler und die Puppen. All das war wie verschiedene Teile die einfach nicht zusammenpassen wollen. Entweder liegt das an meinem Theaterverständnis oder aber Sie haben etwas gesehen, in das ich einfach nicht einsteigen konnte. Sehr schade nach diesem großartigen Einstieg der Eröffnung. Vielleicht aber wollte sich der Regisseur in dieser Inszenierung aber auch befreien von seiner "Puppen" Masche sich losreissen von ihnen. Viel Geld dass da reinfloß, von dem man aber so gar nicht viel sehen konnte an diesem Abend. Leider. Trotzdem weiterhin alles gute!
Jugend, München: dialektische Bilder
Welche Bilder haben wir von Revolution? Welche Bilder entstehen, wenn wir uns mit Revolutionen in unserer Vergangenheit beschäftigen? Welche (revolutionäre) Kraft wohnt der Erinnerung an die deutsche Jugendbewegung sowie an die Räterevolution von 1918 in München und. Bayern heute inne?

Walter Benjamin hat vor seinen berühmten sozial-philosophischen Thesen „Über den Begriff der Geschichte“ mit der Idee/Konstruktion des „dialektischen Bildes“ gearbeitet. Szenen, Bilder, Kunstwerke der Vergangenheit sowie historische Ereignisse werden Benjamin zu „gefährlichen Erinnerungen“ (Johann Baptist Metz), weil sie in sich einen kritischen und damit revolutionären Impuls für heute und die Zukunft bergen. So erinnert die sehenswerte Münchner Kammerspiel-Inszenierung „Eine Jugend in Deutschland“ die hinterlassenen Romane, Dramen und Reden von Ernst Troller (1893-1939). Sie erforscht die kritischen und revolutionären Potentiale der Texte Trollers – nicht nur seines Romans „Eine Jugend in Deutschland“ sondern auch die seiner ganz unterschiedlich gearteten literarischen, dramatischen und hinterlassenen politischen Schriften. Genau dem geht die politisch und ästhetisch beeindruckende Inszenierung nach, indem sie die historische und literarische „Wahrheit“ der Texte mit den Mitteln des Theaters spielend, also „handelnd erforscht“ (Jacob Levi Moreno). Dies macht diese Einstandsinszenierung von Jan-Christoph Gockel mit seinem Team, den berührenden Marionetten und den meist beeindruckenden Schauspieler*innen spielerisch/ handelnd konsequent. Ebenso wie Troller nutzt sie ganz unterschiedliche Spielformen – also diverse theatralische und filmische Genres wie auch seine politischen Reden – als Experimentier- und Darstellungsfeld. Die Inszenierung zeigt hiermit ein jüdisch eschatologisches Zeitverständnis, das sich nicht mit dem begnügt, was ist. Ernst Troller war Jude und seine expressionistischen Texte sind geprägt von einem Zeitverständnis, das die aktuelle Lage, das WAS JETZ IST, konfrontiert mit dem WAS SEIN KANN – politisch, sozial, psychisch.

Anders als bei Falk Richters Eröffnungsinszenierung der Kammerspiele, die zu viel oberflächig aufnimmt und darin zu effekthascherischer, langweiliger Unterhaltung verkommt (vgl. meine Kritik in Nachtkritik), bleibt diese Arbeit bei einem Thema. Sie untersucht die Revolution ausgehend von Trollers Texten mit ihren inspirierenden unterschiedlichen „dialektischen Bildern“. Sie erforscht Trollers Leben & Werk spielerisch handelnd in Ihrer Bedeutung für uns heute. Die Inszenierung hat mich berührt, unmittelbar und auch reflektierend im Nachgang. DANKE!

Besonders berührend war für mich der Rahmen des biographischen Rückblicks und Ausblicks: Wie bin ich mit wem in mein Leben (in meiner Schulklasse) umgegangen? Wer ist erschossen worden? Wer hat sich selbst verzweifelt erschossen? Wer hat wie überlebt? Wer hat wie gelebt? Wie habe ich selbst gelebt/überlebt – „Überleben ist nicht Leben!“ schrieben Student*innen im Mail 68 an die Mauern von Paris. Wofür habe ich mich eingesetzt? Wo hatte ich Mut? Wo hat er mir / anderen gefehlt? Unser Leben lässt sich im Sinne der in Folge II gezeigten Wette zwischen Napoleon Bonaparte und Franz von Assisi und den jeweils bestehenden Handlungsalternativen scannen. „So entsteht in der Welt etwas“ – schreibt Ernst Bloch in seinem „Prinzip Hoffnung“ - , das allen in die Kindheit scheint und worin noch niemand war: Heimat."


Das Stück endet mit der angemessen tragischen Selbstbeschreibung/-konstuktion „Ich bin der Welt verloren gegangen!“ Assoziiert: Die Revolution ist Bayern und Deutschland verloren gegangen. Glücklicherweise ist nicht der Welt die Revolution verloren gegangen, wie es uns die mutigen Wiederstandskämpfer*innen aus Russland, Belarus, Tailand, China und vielen anderen Orten zeigen.

„Es ist Zeit,
daß es Zeit wird.“ schreibt Paul Celan in seinem Liebesgedicht „Corona“.
„Es ist Zeit.“
Jugend, München: Lob
Sehr schön dass die Nachtkritik Namen von Ausstatter unter den Bildern erwähnt ! :)
Jugend, München: Erwartung enttäuscht
Vielleicht sollte ich als einfache Theater zuschauerinnen nicht mitreden, denke ich mir nach den Kritiken für diesen Abend. Sicher ein gutes Lehrstück. Aber warum kam mir das Schauspiel so veraltet vor? Fast verstaubt? Warum die Bühne nicht einladend? Ich konnte den Abend nicht greifen und fühle mich ausgeschlossen und dumm. Das ist erstmal meine eigene Problematik... Aber meine Erwartungen haben sich nicht eingestellt. Ich konnte die Puppen nicht richtig greifen da waren sie schon weg. Der zweite Teil ist mir komplett entglitten. Schade, ich hatte mich sehr gefreut da ich den Regisseur in anderen Stücken sehr schätzen gelernt habe.
Jugend, München: neue Genauigkeit
Was ist denn da los im München? Letzte Woche wurde die fehlende Lightdesign-Erwähnung bemängelt, nun die Untertitelung der Fotos. Wem fehlen noch die Namen des Vorderhauspersonals? Los, hier ist genug Platz für wichtigtuerische Kommentare.

NK, bitte handeln - und endlich die Klarnamenpflicht einführen :)
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