Real existierender Horror

von Ralph Gambihler

Weimar, 11. Oktober 2008. Bertolt Brecht rät in seinem Gedicht "Über die Verführung von Engeln" zu furchtloser Annäherung und raschem Geschlechtsverkehr im Hauseingang. Die Anbetung gehört nicht zu seinen Empfehlungen, so himmlisch können Engel auf Erden gar nicht sein. In Weimar liegt der Fall etwas anders. Dort blicken drei Engel, die zwar keineswegs so aussehen, die sich als "Brüder und Schwestern im Underground", als "verdammte Individualisten und Freaks" aber durchaus so fühlen, abendfüllend in den Abgrund. Aus Notwehr und Hass ermorden sie ihren Peiniger. So hat es sich Ljubko Deresch, das schreibende Wunderkind aus der Ukraine, in seinem Roman "Die Anbetung der Eidechse oder Wie man Engel vernichtet" ausgedacht.

Vorher, irgendwann in der Mitte der Aufführung, kommt diese Szene, in der dem Romantext besagtes Brecht-Gedicht untergejubelt wird. Der noch sehr lebendige Peiniger Fedja, der eine ganz fiese Type ist, trägt die Zeilen mit gespielter Scheinheiligkeit vor. Er steht neben der völlig verängstigten Dwinska und liest für sie vom Blatt, als sei er demnächst ihr Liebhaber. Die Pointe sitzt. Das Gespenst des Bösen, das in dieser Geschichte umgeht wie ein hungriges Tier, grinst uns mit dämonischer Fratze an.

Von Haschisch-Wölkchen umdunstet

Solche Einfälle sind allerdings die Ausnahme, und das macht sich bemerkbar in diesem grundehrlichen, eindimensional wirkenden Premierenabend im e-werk, der externen Spielstätte des Weimarer Nationaltheaters. Die Adaption bestätigt eher die einschlägigen Vorbehalte gegen die aktuell grassierende Prosa-Lust der Bühnen, als dass sie sie entkräften könnte. Was der Mehrwert sein soll, bleibt eine offene Frage. Womöglich ist das reine Kopfkino besser.

Ljubko Deresch, der es mit seiner fetzigen und eruptiven Prosa und im Schlepptau von Juri Andruchowytsch auf Anhieb in die edition suhrkamp geschafft hat, erzählt in seinem ersten (nach der Veröffentlichungs-Chronologie zweiten) Roman eine Tragödie von postkommunistischer Brutalität. Dswinka, Glatter Hippie und Misko, drei Teenies aus einem fiktiven Karpatenstädtchen, haben sich in eine nonkonforme Welt eingesponnen. Die verbrauchten Ideale ihrer Väter haben sie gegen westliche Idole aus den 70ern eingetauscht (Jim Morrison, Jack Kerrouac etc.). Ihre Tage sind eine von Haschisch-Rauchwölkchen umdunstete Gegenthese zum gleichgültigen Wohlstandsdenken, wie damals bei den Blumenkindern, nur ohne deren flirrende Lebenslust. Mit den Anfeindungen von Fedja und seinem Freund Djuk wächst die Angst. Und mit der Angst wächst der Hass, der schließlich zu dem Entschluss führt, den "Hurensohn zu erledigen". So ähnlich mag es auch hierzulande zugehen, wenn Faschos zu oft auf "Zeckenjagd" gehen.

Eskalation in einer leeren Zeit

Die Tatsache, dass Deresch diese Geschichte noch vor seinem Erfolgsbuch "Kult" geschrieben hat, im zarten Alter von 16 Jahren, ist marketingtechnisch natürlich ein Geschenk. Für die künstlerische Umsetzung hat der Wunderkind-Status allerdings keine Relevanz. Oder vielleicht doch? Eva Szybalski, die den Roman bearbeitet hat, und Nora Schlocker, eine noch recht junge Hausregisseurin, nähern sich dem Text mit Vorsicht. Sie lassen das postsowjetische Trümmerfeld links liegen und konzentrieren sich auf das Halbstarken-Drama mit seinen Eskalationen in einer leeren Zeit, mit seinem real existierenden Horror, mit seinem Dämon Anarchie.

Die fünf jungen Darsteller machen ihre Sache gut. Sie helfen dem (beifällig aufgenommenen) Abend über die Anbetung der Romanvorlage hinweg. Die griffigste Figur stellt Simon Zagermann als der oberfiese Fedja auf die Bühne. Mit seiner aasigen Freundlichkeit und Zärtlichkeit ist er die Perfidie in Person. Paul Enke gibt als sein Gegenspieler Misko einen kahlköpfigen Kerl in Angststarre. Er hat die Hauptlast der Inszenierung zu tragen, denn es ist allein an ihm, immer wieder aus der Rolle herauszutreten und die Erzählpassagen vorzutragen.

Gespielt wird ein Schnelldurchlauf der Vorlage. Die Mittel sind radikal reduziert. Im Grunde geht es auf der von schwarzen Banden eingefassten Spielfläche mit ihren aufplatzenden Bodenkacheln zu wie beim Straßentheater: kaum Requisite, kein Bilderzauber, die Schauspieler müssen es alleine machen. Wer auftritt, bewegt sich von hinten nach vorne in das harte Grundlicht, das nichts verhehlt und alles zeigt. Die vernehmlichste Beigabe kommt von Alin Coen, die ihrer Gitarre und einer kleinen Apparatur atmosphärische Klänge von der eher sanften Sorte entlockt. So entsteht eine Dramatisierung von beinahe dogmatischer Nacktheit. Es ist eher eine Nicht-Bebilderung als eine szenische Ausmalung, ein knapp zweistündiges Hoffen auf die Kraft der Sprache und auf die körperliche Präsenz der Schauspieler.


Die Anbetung der Eidechse oder Wie man Engel vernichtet
nach Ljubko Deresch (UA)
Bearbeitung des gleichnamigen Romans von Eva Szybalski
Regie: Nora Schlocker, Bühne: Jessica Rockstroh, Kostüme: Katja Wetzel, Musik: Alin Coen. Mit: Kika Schmitz, Christian Ehrich, Paul Enke, Florian Jahr, Simon Zagermann, Alin Coen.

www.nationaltheater-weimar.de

 

Mehr zu Nora Schlocker im nachtkritik-Archiv: Von ihrer Weimarer Liliom-Inszenierung waren wir sehr angetan. Außerdem begutachteten wir, wie sie Maria Kilpis pluss null komma fünf windstill auf die Bühne des Maxim Gorki Theaters Berlin gebracht hat.

Kritikenrundschau

Für Henryk Goldberg von der Thüringer Allgemeinen (12.10.) trägt die Uraufführung von Dereschs "Die Anbetung einer Eidechse" "ihren Wert weniger in sich selbst", sondern als Teil des Festivals junger ukrainischer Kunst, das sie eröffnet. So klängen die "erzählenden Befindlichkeits-Statements ins Publikum" bisweilen "wie Versatzstücke der siebziger Jahre". "Wie gut" allerdings Nora Schlocker und einige der neuen Jung-Schauspieler ihr Handwerk beherrschten, markiere sich "gerade an diesem eher pädagogisch wertvollen Text, den sie zum Theater aufstylen". Die "Intelligenz der Aufführung" zeige sich "am konsequentesten da, wo der Text am banalsten ist", weil die Regisseurin ihre Darsteller dazu anhalte, "diese Trivialität zu unterlaufen, einen privaten Ton als Form zu kultivieren". Christian Ehrich als schwuler Junge spiele immer im Bewusstsein der Komik seiner Figur und diese dennoch nie verratend, und Paul Enke bewältige seinen schwierigen Erzählerpart ebenfalls souverän. Die "stärksten Momente" gehörten allerdings Kika Schmitz: "intensiv, eindrücklich, schmerzhaft".

Wolfgang Hirsch hingegen findet in der Thüringischen Landeszeitung vom 12.10., dass sich Schlocker "relativ eng" an Dereschs "Anti-Erziehungsroman" halte. Sogar der Strangulations-Höhepunkt sei "nahezu eins zu eins übertragen". Wenn dort "blutige Hautfetzen fliegen und Knochen bersten", lasse sie Melonen zerplatzen – "in größtmöglich sinnlicher Authentizität". Dereschs "surreale Erlebnis-Sequenzen" übersetze Schlocker "in Lichtstimmungen", Miskos Reflexionen "in monologisches Beiseitesprechen". Das hemme zwar "den Drive der Inszenierung" und widerspreche dem "atemlosen Romantempo", markiere jedoch die Distanz dieser Figur zu den "vergleichsweise farblosen Nebenfiguren". Wie Paul Enke das spiele, demonstriere "mindestens einen bemerkenswerten Reifeprozess binnen zweijähriger DNT-Ensemble-Zugehörigkeit". Schlocker sei "eine Arbeit gelungen, die gerade wegen all ihrer Rauheit des Imperfekten und tastend Suchenden Dereschs Roman und seinem pubertären Sujet vollkommen adäquat wird".

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