Der weite Weg zur Sichtbarkeit

von Lara-Sophie Milagro

27. Oktober 2020. Von all den darstellerischen Übungen, die ich in meinem Leben gemacht habe, ist mir besonders eine aus der Zeit meines Gesangsstudiums in Erinnerung geblieben: Jede*r sollte aus einer Reihe von Opernpartien ihres oder seines Stimmfachs genau die Rolle verkörpern, die von der Figur her am wenigsten zu ihr oder ihm passt, auf welche Rolle das zutraf, wurde von den Mitstudierenden bestimmt.

In meinem Fall fiel die Wahl der Klasse auf die Rolle der Angela Merkel aus der Oper "Angela, eine Nationaloper" von Frank Schwemmer. So sang und spielte ich in einem hochschulinternen Szenenabend die deutsche Bundeskanzlerin und habe mich nicht nur selten in einer Rolle authentischer gefühlt, sondern auch die Performance der anderen gegen den Strich besetzen Sänger*innen als besonders eindrücklich in Erinnerung. Zum Schluss gab es durchweg gute Noten und positives Feedback unserer Professorin: "Bravo, daran könnt ihr sehen, wie euer Gesang euch selbst dann zu einer glaubwürdigen Figur werden lässt, wenn ihr diese ganz offensichtlich nicht seid."

Authentische Besetzungen

Nun ist ja das Prinzip der Verwandlung, das temporäre Sich-Aneignen einer Identität, die nicht die eigene ist, seit jeher grundlegend für die Darstellenden Künste. Performer*innen verkörpern immer etwas oder jemanden, das oder die sie nicht sind. Eine authentische, sprich glaubwürdige Darstellung ist somit nicht zwingend gebunden an eine authentische Besetzung, also die weitgehende Deckungsgleichheit von Darsteller*in und Figur in Hinblick auf körperliche Beschaffenheit, Geschlecht, sexuelle Orientierung, Hautfarbe, kulturelle und soziale Herkünfte und Hintergründe, Hautfarbe. Oder?

17 NAC Kolumne Visual Milagro V3Die seit einigen Jahren in Deutschland und weltweit verstärkt geführten Debatten um mehr Diversität in allen Bereichen des politischen und gesellschaftlichen Lebens, ist im Theater- und Filmbereich vor allem auch eine Debatte um Besetzungspolitik, darum, wer wen spielen darf oder sollte und warum (nicht). In diesem Zusammenhang wird von verschiedenen Communities immer wieder eine authentische Besetzung für die Darstellung ihrer Mitglieder gefordert: Schwarze Rollen, Trans-Charaktere oder solche mit Behinderung beispielsweise sollen demnach von Schauspieler*innen verkörpert werden, die auch tatsächlich Schwarz sind, transsexuell sind, eine Behinderung haben. Wie zu erwarten, werden solche Forderungen vor allem von denjenigen beanstandet, die das Recht, diese Menschen darzustellen, bisher weitgehend unhinterfragt für sich in Anspruch genommen haben.

So äußerst sich jüngst die Schauspielerin Scarlett Johansson kritisch zu den massiven Protesten aus der Trans- und Queer-Community, mit denen sie konfrontiert wurde, nachdem 2018 bekannt geworden war, dass sie in dem Film "Rub & Tug" einen transgender Mann verkörpern sollte: "You know, as an actor I should be allowed to play any person, or any tree, or any animal because that is my job. (…) I feel like political correctness is a trend in my business and it needs to happen for various social reasons, yet there are times it does get uncomfortable when it affects the art because I feel art should be free of any restrictions." (dt. "Wissen Sie, als Schauspielerin sollte es mir erlaubt sein, jede Person, jeden Baum oder jedes Tier zu spielen, denn das ist mein Job. (...) Ich habe das Gefühl, dass politische Korrektheit gerade im Trend ist in meinem Beruf und aus verschiedenen Gründen gesellschaftlich relevant ist, aber es wird dann unangenehm, wenn es sich auf die Kunst auswirkt, die meiner Meinung nach frei sein sollte von jeglichen Einschränkungen.")

Qualitätsfragen

Nicht nur Kunstfreiheit wird immer wieder gerne im Zusammenhang mit Besetzungsfragen angemahnt, hierzulande vor allem im Zuge der Blackfacing-Debatte, die 2012 erstmals öffentlich losgetreten wurde, nachdem es massive Proteste gegen schwarz angemalte weiße Schauspieler*innen an Berliner Theatern gegeben hatte. Auch die (mangelnde) Qualität beziehungsweise Nicht-Verfügbarkeit von Schauspieler*innen sind stets wiederkehrende Argumente für nicht authentische Besetzung.

Im Interview mit leidmedien.de, einem Zusammenschluss Medienschaffender mit und ohne Behinderung, begründete beispielsweise eine Produzentin der ARD die Entscheidung, die Figur der blinden Anwältin Romy Heiland in der seit 2018 ausgestrahlten Serie Die Heiland mit einer sehenden Darstellerin zu besetzen unter anderem damit, dass es keine Option gewesen sei, eine blinde Frau zu suchen, "die vielleicht ganz gut spielen kann. Für so eine Serie brauchen wir eine richtig gute Schauspielerin". In bestimmten Bereichen, so hieß es weiter, gebe es eben keine geregelten Ausbildungsmöglichkeiten für behinderte Menschen und "das gilt auch für Schauspielschulen (…). Deshalb gibt es keine professionell ausgebildeten blinden Schauspieler und Schauspielerinnen".

Sollte dem wirklich so sein, wird spätestens hier die politische Dimension von Besetzungsentscheidungen deutlich. Denn diese werden offensichtlich nicht nur aufgrund künstlerischer Kriterien getroffen, sondern beruhen auch auf einem Mangel an Auswahlmöglichkeiten, was wiederum auf eine strukturelle Benachteiligung bestimmter Gruppen in der künstlerischen Ausbildung hindeutet, die dann meist damit erklärt wird, dass sich Angehörigen dieser Gruppen wenig bis gar keine Möglichkeiten bieten, besetzt zu werden – oft nicht mal wenn es darum geht, sich selbst zu spielen. Denn natürlich schließt eine nicht authentische Besetzung ein glaubwürdiges Spiel nicht aus, eine authentische Besetzung aber eben auch nicht.

"Selbst wenn Schauspieler*innen ohne Behinderung die Darstellung einer Figur mit Behinderung auf den Punkt hinbekommen, ist es nicht das, was wir wollen", sagt Jonas Karpa von leidmedien.de und macht damit deutlich, dass es bei Besetzungsfragen immer auch um Repräsentation geht. Und um ihr Gegenteil: die faktische Unsichtbarmachung ganzer gesellschaftlicher Gruppen in der Kunst.

Am Rande des Rollenfeldes

Dass davon mitunter auch Angehörige der darstellenden Zunft betroffen sind, von denen man schwerlich behaupten kann, sie seien nicht gut genug ausgebildet oder unauffindbar gewesen, zeigt derzeit die Schauspielerin Ariane Andereggen im Tojo Theater Bern in ihrem Bühnenprogramm Age on Stage – Am Rande des Rollenfeldes. Darin thematisiert sie unter anderem das spurlose Verschwinden der Frau jenseits der 50 von Bühne und Leinwand. "Ich glaube daran, dass ich auch ohne glatte Haut was spielen kann", proklamiert sie in einer Art eindringlichem Mantra-Gesang und beschreibt ihren Solo-Abend als "subversiv dysfunktionales Vorsprechen, auf der Suche nach neuen Rollen neben der Rolle", angesichts der Tatsache, dass Entscheidungsträger*innen in Theater und Film offenbar immer noch Mühe haben, sich Frauen jenseits knuspriger Jugendlichkeit in tragenden Rollen vorzustellen. "Das ist ein kulturpolitisches Forschungsloch", so Andereggen, "hier verschwinden Schauspielerinnen bei bestem Wetter. Einfach so. Erfahrene Künstlerinnen."

Abgesehen davon, dass das auch daran liegen könnte, dass künstlerische Schlüsselpositionen – Produktion, Regie, Intendanz – nach wie vor Männerdomänen sind, stellt sich die Frage, wer eigentlich entscheidet, was eine sehenswerte, glaubwürdige Darstellung ist und was nicht. Denn, ja, ich finde Al Pacino als blinden Tänzer in der berühmten Tango-Szene in "Der Duft der Frauen" großartig, nur wäre eine blinde Person da möglicherweise anderer Meinung.

Und: Wieso funktioniert eigentlich die viel beschworene (vermeintliche) Differenz zwischen Darsteller*in und Dargestelltem, von der es stets heißt, sie sei von großem performativem Wert, immer nur in eine Richtung? Warum sollten Alte nicht als Junge, Schwarze nicht als Weiße, Transsexuelle nicht als Darsteller*innen von cis-Figuren überzeugen können? Warum kann ein blinder Schauspieler keinen Sehenden spielen? Und, da sich sicherlich alle einig sind, dass das natürlich möglich sein sollte – warum wird es dann nicht genauso selbstverständlich praktiziert wie andersherum? Mimesis, Lust an der Verwandlung, alle dürfen alles spielen – wo seid ihr hin?

Julia Roberts als afroamerikanische Freiheitskämpferin

Unabhängig davon, ob man eine nicht authentische Darstellung nun als legitim betrachtet oder nicht – die Tatsache, dass bei Besetzungsfragen nach wie vor mit zweierlei Maß gemessen wird, führt in der Folge immer wieder zu der grotesken Situation, dass Menschen mit einer bestimmten Hautfarbe, sexuellen Orientierung oder Körperlichkeit verblüfft zur Kenntnis nehmen müssen, dass der externe Blick auf sie oft als künstlerisch hochwertiger angesehen und ihm daher mehr Raum zugestanden wird, als dem Blick dieser Menschen auf sich selbst.

Die Absurdität dieser Logik zeigte sich wohl nirgends deutlicher als bei der Diskussion um die Besetzung der Rolle der afroamerikanischen Freiheitskämpferin Harriet Tubman, die rund 300 versklavten Schwarzen aus den amerikanischen Südstaaten über die sogenannten Underground Railroads zur Flucht in den Norden verhalf. Gregory Allen Howard, der als Drehbuchautor und Produzent vor rund 25 Jahren mit der Arbeit an dem Stoff begann, verriet nun in einem Interview anlässlich des US Filmstarts im letzten Jahr, dass Hollywood-Star Julia Roberts von den Studiochefs als Casting-Option vorgeschlagen worden war. Als der einzige Schwarze Produzent im Raum daraufhin zu bedenken gab, dass es sich bei der Roberts um eine weiße Schauspielerin handelt, wurde dieser, laut Howard, mit den Worten beruhigt: "Es ist so lange her. Niemand wird einen Unterschied merken." Der Film ist seit Juli 2020 unter dem Titel "Harriet – Der Weg in die Freiheit" auch in Deutschland zu sehen, mit der afroamerikanischen Schauspielerin Cynthia Erivo in der Hauptrolle. Gottseidank.

 

Lara-Sophie Milagro ist Schauspielerin, in der Leitung des Künstler*innen Kollektivs Label Noir, Berlinerin in der fünften Generation und fühlt sich immer da heimisch, wo Heimat offen ist: wo sie singt und lacht, wo sie träumt und spielt.


In ihrer letzten Kolumne empfahl Lara-Sophie Milagro einen Schub Geschichtsbewusstsein gegen wehende Reichskriegsflaggen am Reichstag.

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