Handke und der Frosch

von Natasha Tripney

Prishtina / Kosovo, Oktober 2020. Jeton Nezirajs neues Stück "Die Rückkehr von Karl May", eine Koproduktion der Berliner Volksbühne, der Qendra Multimedia Kosovo und des Nationaltheaters des Kosovo, war das erste Stück, das in Prishtina uraufgeführt wurde, nachdem die Theater Anfang des Monats wiedereröffnet werden konnten. Der Weg des Stücks auf die Bühne war nicht einfach, was für die meisten Produktionen dieses Jahres gilt. Ursprünglich sollte es im Mai in Berlin uraufgeführt werden, und zwar im Rahmen von PostWest in der Berliner Volksbühne, einem transkulturellen Theaterfestival, das Künstler*innen aus zehn osteuropäischen Ländern zusammenbringen wollte. Fragestellung des Festival war: was bedeutet es, "osteuropäisch" zu sein. Darüber hinaus wollte PostWest einen Raum für "Zusammenarbeit und Austausch" zwischen Theatermachern aus diesen Ländern schaffen, so die Kuratorin Alina Aleshchenko.

Westliche Stereotypen über den Osten

Jeton Neziraj ist der ehemalige künstlerische Leiter des Nationaltheaters des Kosovo. In seiner Arbeit hat er sich häufig mit Heuchelei und Machtmissbrauch in der Baubranche oder dem Gesundheitswesen des Kosovo auseinandergesetzt. Seine Stücke werden in New York und Los Angeles sowie an Theatern in ganz Europa aufgeführt. Für die Volksbühne richtete er nun seine Aufmerksamkeit auf Deutschland und ließ sich dabei vom Werk des populären Schriftstellers Karl May inspirieren, dem Schöpfer von Old Shatterhand. Karl Mays Figur des Abenteurers Kara Ben Nemsi, den Reisen unter anderem nach Albanien führten, wollte er zum Anlass nehmen, Stereotypen zu untersuchen, die immer noch das Bild des Westens vom Osten prägen.

KarlMay5 600 AtdheMullaOst-West-Stereotypen im Aufmarsch: Adrian Morina, Arta Mucaj und Shpetim Selmani © Atdhe Mulla

Blerta Neziraj, Ehefrau und künstlerische Partnerin von Jeton Neziraj, hat "Die Rückkehr von Karl May" jetzt inszeniert. Mays Schreiben sei, wie sie erklärt, "voller Stereotypen und Vorurteile über Albaner und andere Menschen auf dem Balkan". Selbst Kara Ben Nemsis Pferd Rihi sei in den Büchern deutlich klüger als alle Albaner dargestellt, denen Kara Ben Nemsi auf seiner Reise begegne.

Das "unterhaltsame Stück für das Deutsche Volk" , wie "Die Rückkehr von Karl May" im Untertitel heißt, beginnt damit, dass das Nationaltheater Kosovo eine Schauspieltruppe nach Berlin schickt. Dort ist die Volksbühne in Schwierigkeiten und die Kosovaren wären bekannlich sehr begabt für die Lösung von Konflikten, witzelt das Stück. Doch kommen sie natürlich auch, um das deutsche Publikum zu erziehen, das den Balkan immer noch wie eine Art Wilden Westen betrachtet, also gesetzlos und chaotisch.

Eine Reise durch Europa

Der wiederauferstandene Kara Ben Nemsi wird von Armend Smalji, sein Pferd Rihi von Arta Muçaj gespielt. Allerdings ist das Pferd jetzt nur ein Frosch, wie wir erfahren, da das Budget für ein Pferd nicht ausgereicht hat.

Smalji und Mucaj sind bekannte albanische Schauspieler aus dem Kosovo, die regelmäßig auf der Bühne des Nationaltheaters zu sehen sind. Mucaj spielt gleichzeitig die Hauptrolle in einer neuen Musicalversion von "Frühlingserwachen", die Frank Wedekinds Stück in den Kosovo der 1990er Jahre verlegt. Das "Karl May"-Ensemble wird ergänzt durch Adrian Morina, Ylber Bardhi und Shpetim Selmani, letzterer ebenfalls ein Dichter, der kürzlich den EU-Literaturpreis erhielt.

KarlMay4 600 AtdheMulla"Die Rückkehr von Karl May": Armend Smajli, Arta Mucaj, Ylber Bardhi, Shpetim Selmani, Adrian Morina © Atdhe Mulla

Im Stück begeben sich Kara Ben Nemsi und die kosovarischen Schauspieler auf eine Reise quer durch Europa, überqueren eine Grenze nach der anderen und treffen schließlich auf eine Gruppe syrischer Flüchtlinge, was eine Figur zu dem Kommentar veranlasst: "Die Europäer lieben Flüchtlinge nur auf der Bühne, als Fiktion, nicht aber in der Realität".

Komische deutsche Karl-May-Besessenheit

Als das Stück für das Festival Postwest in Auftrag gegeben wurde, lieferte die Volksbühne ausführliche und detaillreiche technische Informationen über die Möglichkeiten der Bühnennutzung. Jeton Neziraj amüsierte das: "Die Berliner Techniker erzählten uns, dass die Schauspieler auf der Bühne weder ein Glas Wasser leeren, noch eine Zigarette anzünden dürften – nicht einmal eine elektronische.“

Infolge dieser ‚Eigenheiten‘, war Neziraj klar, "dass das Stück, das ich schreiben würde, eine Komödie sein müsste". Die Entscheidung, über Karl May zu schreiben, machte die Sache rund. "Die Besessenheit der Deutschen von Mays Büchern ist komisch."

Bildschirmfoto 2020 10 21 um 16.49.19Screenshot des Films, den das Team für das PostWest Festival gemacht hat

Das Stück behauptet einmal scherzhaft von sich, es sei sozusagen post-alles: post-dramatisch, post-wahr, post-migrantisch. "Manchmal ist das Stück satirisch, manchmal ironisch, parodistisch, manchmal dramatisch", erläutert Armend Smalji. "Ich spiele Kara Ben Nemsi und gleichzeitig spiele ich einen Schauspieler, der Kara Ben Nemsi spielt. Als Schauspieler muss man sehr aufmerksam und konzentriert sein, um genau herauszufinden, was für ein Gefühl man für jede Szene braucht". Das Stück sei nicht einfach, sagt auch Regisseurin Blerta Neziraj. "Es hat viele Schichten und Verweise, die ich nicht aus den Augen verlieren wollte.“

Beispiele europäischer Heuchelei

Erst ist der Ton im Großen und Ganzen noch komisch. In der Mitte verschiebt er sich dann: wenn die Aufmerksamkeit auf die  Nobelpreis-Entscheidung für Peter Handke gerichtet wird – jenen österreichischen Autor, der während der Kriege der 1990er Jahre Serbien lautstark unterstützt hat. Das Gedicht, das Handke bei der Beerdigung von Slobodan Milosevic las, ist in den Stücktext eingearbeitet. Der Nobelpreis für Handke war, so Neziraj, eines der "offensichtlichsten Beispiele für europäische Arroganz und Heuchelei". Für ihn verläuft ein roter Faden zwischen beiden Schriftstellern. Karl May, sagt er, "war Suprematist zu einer Zeit, als das 'in' unter Westlern war, während Handke ein aktueller Faschist ist, zu einer Zeit, in der Faschismus offiziell eigentlich unter Strafe steht".

KarlMay1 600 AtdheMullaArta Mucaj und Armend Smajli in "Die Rückkehr von Karl May" © Atdhe Mulla

Für Arta Muçaj war die Verschiebung des Tonfalls von der Komödie zur einer politisch aufgeladenen Emotionalität eine schauspielerische Herausforderung. "Es war ein harter Prozess für uns, der viel Energie brauchte, körperlich und geistig." Das Stück begibt sich an einige dunkle Punkte und fordert von seiner Besetzung, es ihm gleich zu tun. "Wir dürfen nicht vergessen, was wir als Nation durchgemacht haben und was wir mit der Politik noch immer durchmachen", so Arta Muçaj.

Gerade als die Proben begannen, brachte Covid-19 die Arbeit zum Stillstand. Wie viele Länder in der Region erließ auch der Kosovo rasch Notmaßnahmen. Eine Ausgangssperre wurde verhängt, die Stunden, in denen die Menschen das Haus verlassen konnten, wurden stark eingeschränkt. Theater wurden wie alle anderen Kulturinstitutionen geschlossen. Am 25. März gab es ein Misstrauensvotum gegen den damaligen Premierminister Albin Kurti, der erst seit Februar dieses Jahres im Amt war. Ergebnis war, dass er – angeblich seines Umgangs mit der Pandemie wegen – sein Amt wieder verlor.

Die Macht des Theaters

Für das Post-West-Festival der Volksbühne, das sich pandemiebedingt entschieden hatte, ins Internet auszuweichen, drehte Blerta Neziraj einen Film mit einem 40minütigen Ausschnitt aus dem Stück, der im Stil einer Probe gehalten ist. Obwohl der Film ein Medium außerhalb ihrer Komfortzone sei, wie Blerta Neziraj es ausdrückt, hat das in Räumen rund um das verlassene Gebäude des Nationaltheaters gedrehte Video für sie eine respektlose und improvisatorische Energie. In einer Szene – auf dem Platz vor dem Theater fand gerade eine Demonstation gegen die Absetzung Albin Kurtis statt – kletterten die Schauspieler auf das Dach, um ihren Text vorzutragen, während die Menge unten im Hintergrund sang.

Der Film kam beim deutschen Publikum so gut an, dass Blerta Neziraj nun befürchtet, die eigentliche Inszenierung des Stücks könnte den Leuten jetzt weniger gut gefallen. Trotzdem ist es Jeton Neziraj wichtig, dass die Premiere noch in diesem Jahr stattgefunden hat. Man kämpfe einen "Kampf, um die wahre Macht des Theaters zu zeigen" – selbst wenn dieser Moment des Triumphes nur ein vorübergehender ist, weil es schon bald einen neuen Lockdown geben könnte. "Wir alle verdienen ein bisschen Freiheit. Und wo könnten wir mehr Freiheit finden als im Theater?"

 

Esther Slevogt hat den Text ins Deutsche übersetzt.

 

Die Rückkehr von Karl May  / Kthimi i Karl Majit
(Ein unterhaltsames Stück für das Deutsche Volk) / (Shfaqje argëtuese për popullin gjerman)
von Jeton Neziraj

Regie: Blerta Neziraj, Bühne und Kostüme: Jelisaveta Tatić Čuturilo, Choreographie: Gjergj Prevazi, Musik: Gabriele Marangoni, Dramaturgie und künstlerische Mitarbeit: Alban Beqiraj, Mitarbeit Bühnenbild: Mentor Berisha, Video: Ilir Gjocaj, Licht: Mursel Bekteshi, Yann Perregaux 
Mit: Arta Muçaj, Adrian Morina, Armend Smajli, Ylber Bardhi, Shpetim Selmani
Premiere: 16. Oktober 2020 im Nationaltheater Kosovo 

qendra.org

 

Find here the English version of Natasha Tripney's text.

 

Natasha Tripney ist Leitende Kritikerin und Redakteurin von The Stage, der Zeitung der UK Theatre Industry. Sie ist Mitbegründerin von Exeunt, einer Online-Plattform für Theaterkritik, und schreibt regelmäßig über Theater und Kunst für Publikationen wie The Guardian, Independent und Kosovo 2.0