Weder sinn- noch maßvoll

30. Oktober 2020. Zahlreiche Verbände und Institutionen positionieren sich in öffentlichen Protestschreiben gegen die Maßnahme der deutschen Bundesregierung, im Rahmen eines zweiten Lockdown Theater, Opern und Konzerthäuser für den gesamten November schließen zu lassen.

Der Vorstand des Bundesverbands Schauspiel – Leslie Malton, Hans-Werner Meyer, Simone Wagner, Heinrich Schafmeister, Klara Deutschmann, Antoine Monot, Jr. und Dr. Till Valentin Völger – schreibt: "Es gibt derzeit wenig öffentliche Orte, an denen man vor Ansteckungen so sicher ist, wie in den Theatern. Im Gegenteil, die Schulen sollten sich einige der an den Theatern durchgeführten Maßnahmen ansehen und nachahmen, damit auch die Schulen sicherer werden. So wurden etwa im Berliner Theater TIPI alle Oberflächen mit einem virusabweisenden Lack gestrichen. Aber statt von der Kreativität der Theater zu lernen, werden sie jetzt wieder geschlossen." Angesichts eines erneuten exponentiell ansteigenden Infektionsgeschehens erkenne man selbstverständlich die Notwendigkeit neuer Maßnahmen an. "Aber sie müssen sinn- und maßvoll sein. Theater zu schließen, obwohl sie derzeit kein Risiko darstellen, ist weder sinn- noch maßvoll. Gerade kleinere und nicht öffentlich geförderte Häuser werden diesen erneuten und vollkommen unnötigen Schlag vor den Bug nicht überleben. Und mit ihnen werden viele Schauspieler*innen ihren Beruf aufgeben müssen. Ein kultureller Kahlschlag ohne Beispiel wird die Folge sein."

"Die absehbaren langfristigen Schäden werden in der kulturellen Infrastruktur der Städte und Gemeinden und in der einmaligen kulturellen Vielfalt Deutschlands kaum wieder zu beheben sein – dies gilt auch für die Gastspieltheater, deren Programme für die Kultur im ländlichen Raum Deutschlands unverzichtbar sind, heißt es in einem Statement (hier als pdf) des deutschen Verbands der Gastspielhäuser INTHEGA; und INTHEGA-Präsidentin Dorothee Starke verwahrt sich darüber hinaus gegen die Gleichbehandlung von Theatern mit Bordellen, Spaßbädern und Saunen unter dem Oberbegriff "Freizeitgestaltung".

Geschäftsführerin und Intendanten der Theater und Philharmonie Essen bezeichnen in einer Pressemitteilung vom 30.10. die Entscheidung, die Theater im November zu schließen, als "unverhältnismäßig und zur Eindämmung der Pandemie wenig zielführend". "Dass 'die Politik' handeln muss, steht außer Frage, und es ist uns auch bewusst, dass die Menschen, die in der Verantwortung stehen, nicht leichtfertig ganze Branchen aufs Spiel setzen, dennoch hätten wir uns bei den einzelnen Maßnahmen, die jetzt auf uns zukommen, mehr Augenmaß gewünscht."

"Die Akademie der Künste erklärt sich nach wie vor solidarisch mit den von Politik und Wissenschaft vorgegebenen Maßnahmen zur Bekämpfung der Pandemie. Die erneute Schließung von Museen und Ausstellungen, Theatern, Konzertsälen, Kinos u.a. verursacht jedoch gesellschaftlichen und kulturellen Schaden kaum absehbaren Ausmaßes", heißt es in einer Stellungnahme der Berliner Akademie der Künste, unterzeichnet von AdK-Präsidentin Jeanine Meerapfel (hier als pdf). "Die Akademie der Künste fordert, dass den hervorragenden Hygienekonzepten der Institutionen und Einrichtungen bei den künftigen Entscheidungen Rechnung getragen wird."

Der Verband Deutscher Bühnen-und Medienverlage e.V. (VDB) drängt auf pragmatische und unbürokratische Soforthilfen für Bühnenurheber*innen und -komponist*innen. Der Verband protestiert ausdrücklich nicht, aber fordert langfristige, nachhaltige Maßnahmen zur Stabilisierung des Theaterstandorts Deutschland – hier das pdf mit der VDB-Pressemitteilung im Wortlaut.

Dito fordert das Aktionsbündnis Darstellende Künste Unternehmer*innenlohn in den Bundeszuschüssen für alle Solo-Selbständigen, faire Ausfallhonorare für Produktionsteams und freie Künstler*innen sowie solidarischen Umgang mit freien Gruppen und internationalen Compagnien bei Gastspielen / Festivals – hier die Forderungen im Detail.

Die Ensembles von neun bayerischen Theatern haben in einem Offenen Brief an Ministerpräsident Markus Söder, Staatsminister Bernd Sibler und lokale Kulturpolitiker*innen gegen die Schließung der Theater protestiert. In dem Schreiben heißt es: "Sämtliche Theater in Bausch und Bogen zu schließen, hat im Hinblick auf den Infektionsschutz keinen Nutzen. Und es ist schädlich! Kultur ist kein Luxus, sondern eine zwingende Notwendigkeit jeder zivilisierten Gesellschaft!" Gezeichnet wurde der Brief von Schauspieler*innen aus Augsburgs, Bamberg, Würzburg, Fürth, Nürnberg und Regensburg, Sie schließen sich einem Protest der Münchner Ensembles an, die bereits kurz vor Verkündung des Lockdowns gegen die Schließung der Theater protestierten.

(sd)

 

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