Es werde violett

von Sarah Heppekausen

Dortmund, 31. Oktober 2020. Sie sind immer da, die Erdgeister, die Hexen und Mephisto. Sie schleichen, posieren, tänzeln und stelzen allezeit um Faust herum. Der knallt derweil Pinselstriche in die Luft, die digital und überdimensional groß an die Bühnenwände geworfen werden. Tobias Hoeft hat entsprechend dafür einen schlichten Ausstellungsraum gebaut. Für einen exzessiven Künstler, der seinen Rausch kurz unterbricht, um seinen Habe-nun-ach-Frust über die Studiererei aufzuklären. Faust giert nach Mehr, fühlt sich zu Höherem bestimmt. Zeigt er da mit seinen Fingern das menschenverachtende Zeichen für White-Power? Um es gleich vorweg zu sagen: Faust ist es, der in Mizgin Bilmens Dortmunder Inszenierung gehörig an Macht einbüßt. Er darf nicht einmal auf den Brocken zur Walpurgisnacht.

Jammerlappen Faust

Linus Ebners Faust rauft sich die Haare, während er deklamiert. Und als er Margarethe aus dem Kerker retten will, kauert er klein und chancenlos am oberen Ende einer entfernten Treppe. Ein Abziehbild des strebenden Akademikers, ein Zitat auf wenig zeitgemäße Interpretationen. Irgendwie jämmerlich, dieser Mann. Widmen wir uns also den anderen: Mephisto ist eine Frau, ihr nackter Körper schimmert durch den hautengen Netzanzug. Antje Prust zelebriert teuflisches Gebaren, wirft sich als Pudel schamlos bellend auf den Rücken, Pfoten in die Luft, zückt bezirzend ihre schwarz lackierten Finger. Stets an ihrer Seite: Mervan Ürkmez und Lola Fuchs als stimmungstragende Geister-Zwillinge. Trifft dieses Trio auf Faust, färben sich die bemalten Wände Strich für Strich in Violett – die Farbe der Magie, des Weiblichen, ja, der feministischen Frauenbewegung. So viel eindeutige Zeichenhaftigkeit braucht es doch gar nicht!

Faust 1000 BirgitHupfeld 8129Lola Fuchs, Linus Ebner, Mervan Ürkmez, Antje Prust © Birgit Hupfeld

Entzauberung des Hexischen

Bilmens Blick auf den Theaterklassiker bedeutet einen Perspektivwechsel, ist ein wohltuend weiblicher, ja. Margarethe heißt nicht mehr Gretchen und ist keineswegs bloß ein Faust-Opfer. Bei Marlena Keil darf die Angebetete in einem herzerwärmenden Ausbruch von Verliebtheit Schenkel klopfen, "Scheiße" rufen, eben so gar nicht mehr anmutig sein und Faust endlich mal für längere Zeit sprachlos machen. Vor allem aber ist sie es, die statt des gescheiterten Fausts mit Mephisto und den beiden Irrlichtern in die Traum- und Zaubersphäre auf dem Blocksberg eingeht. Was in Bilmens Inszenierung allerdings ein ziemlich geerdetes Unterfangen ist. Gerade noch in völliger Ekstase nach Margarethes Befreiung aus dem Kerker, beobachten die vier völlig ausgenüchtert, im nun grell-weißen Licht das doch eigentlich wundersame Chaos der Walpurgisnacht. Bedrohlich ist da nichts mehr. Das Hexische wird ins Diesseits integriert. Das, was sich für Faust nicht vereinbaren lässt ("Zwei Seelen wohnen, ach! in meiner Brust"), für Margarethe ist's möglich.

Sinnbildliche Oberfläche

Dramaturgin Kirsten Möller und das Ensemble haben reichlich Text gestrichen, anderen (von Heiner Müller bis Donna Haraway) hinzugefügt, Szenen umgestellt und so eine spannende, zeitgenössische Lesart entwickelt. Aber. Sie transportiert sich in Zeichen und Form, nicht durch die Figuren. Das Ensemble pendelt unentschieden zwischen deutlicher, fast pathetischer Haltung und ironischer Brechung. Wenn Mephisto und die anderen am Ende eine kämpferische Bewegung ausrufen, die Funken schlagen und böse Geister (der Vergangenheit) vertreiben soll, dann verhallen ihre Worte als Formel, als Texthülle. Die Kräfte der Natur, das magische Moment – sie werden angesprochen, aber erzählen sich nicht. Seelenlos verharren sie, wie Faust im Kerker, dessen rauschhaftes Künstlerdasein auch bloß sinnbildliche Oberfläche bleibt.

Faust1 BirgitHupfeld 5926Marlena Keil, Antje Prust, Linus Ebner (im Hintergrund), Mervan Ürkmez, Lola Fuchs © Birgit Hupfeld

Regisseurin Mizgin Bilmen ist in der letzten Probenwoche krank geworden, Intendantin Julia Wissert eingesprungen. "Faust" ist seit Spielzeitstart die erste (und nun also auch leider vorerst letzte) Premiere auf der großen Bühne und mit Publikum im Zuschauersaal. Die bisherigen Abende auf der Hinterbühne oder unterwegs in der Stadt brachten eine – bei allem Abstand – gut funktionierende Nähe mit sich. Dieser "Faust" bleibt atmosphärisch auf Distanz.

Faust
nach Johann Wolfgang von Goethe
Regie: Mizgin Bilmen, Julia Wissert, Kirsten Möller und Ensemble, Bühne/Visual Arts: Tobias Hoeft, Kostüm: Alexandra Tivig, Musik/Chor: Matthias Flake, Dramaturgie: Kirsten Möller.
Mit: Linus Ebner, Marlena Keil, Antje Prust, Mervan Ürkmez, Lola Fuchs, Chorstimmen: Susanne Blodt, Constantin Gerhards, Carl Grübel, Joshua Hupfauer, Anna Jörgens, Lea Taake, Leon Tölle, Luise von Stein, Amelie Willberg (Studierende der Folkwang Universität der Künste).
Premiere am 31. Oktober 2020
Dauer: 1 Stunde 40 Minuten, keine Pause

www.theaterdo.de

 

Kritikenrundschau

"Goethe-Puristen und Liebhaber des wunderbaren Klangs seiner Dichtung dürften (…) ziemlich enttäuscht sein, denn vieles wird nur vage angedeutet, umgestellt oder geht komplett unter. Was diesen Abend indes auszeichnet, ist seine pulsierende Energie mit einem Rausch aus Licht, Farben und dröhnenden Beats", schreibt Sven Westernströer von der Westdeutschen Allgemeinen Zeitung (2.11.2020). Marlena Keils Grete sei das Kraftzentrum dieses Abends, der zwar mit seinen vielen Versatzstücken etwas überfrachtet wirke, dafür aber formidabel gespielt sei.

Der Dortmunder Faust sehe "schick aus" und werde "Klassik-Freunde nicht vergrätzen", schreibt Bettina Jäger von den Ruhr Nachrichten (2.11.2020). Tobias Hoefts Bühne halte das Geschehen bravourös zusammen. "Technisch gesehen bleibt der hintere Bereich der Bühne zu dunkel. Und die letzte Szene nimmt den Ende die Wucht. Trotzdem: Hier gelingt die Quadratur des Kreises mit einem zeitgemäßen philosophischen Konstrukt, einem feministischen Ansatz und einem Goethe-Konzentrat, mit dem der Text neu auflebt."

 

 

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