Postpandemisches Theater

11.-13. November 2020. Wie verändert die Corona-Pandemie das Theater und seine Stellung in der Gesellschaft? Dieser Frage ging nachtkritik.de gemeinsam mit dem Literaturforum im Brecht-Haus Berlin und der Heinrich Böll Stiftung vom 11. bis 13. November 2020 nach: mit der Online-Konferenz Das Postpandemische Theater. Hier finden Sie sämtliche Mitschnitte der Panels und Video-Impulse der Tagung.

 Ankündigungstext

Es ist nicht abzusehen, wie langfristig und tiefgreifend die Auswirkungen der Corona-Pandemie auf das Theater und die Gesellschaft sein werden. Das Virus und seine so genannten Superspreader-Eigenschaften machen Versammlungen vieler Menschen zum neuralgischen Punkt. Das Publikum ist bedroht, die Corona-Krise ist eine Krise der Versammlung. Um der neuen Lage zu begegnen, müssen die Theater sich umgestalten, müssen Bühnen und Säle an Hygiene-Vorlagen anpassen oder ihre Aktivitäten ins Internet hinein erweitern. Welche neuen Spielräume eröffnet das, welche Weichen werden heute für das postpandemische Theater gestellt. Wie kann seine gesellschaftliche Rolle in der neuen Wirklichkeit aussehen? Über drei Tage finden Impulse und Diskussionen zum postpandemischen Theater einen Raum – online im Livestream auf lfbrecht.de, hier auf nachtkritik.de und auf der Website der Heinrich-Böll-Stiftung.

 

Postpandemisch


Das Programm

11.11.2020, 20:30 Uhr

Die Krise der Versammlung

Mit Armen Avanessian, Bettina Milz, Shermin Langhoff und Leonie Bremer
Moderation Janis El-Bira
Impulse von Theatermacher Arne Vogelgesang (internil) und Regisseur Ersan Mondtag

Die Corona-Pandemie hat Nähe- und Präsenzerfahrungen in den Künsten wie in der Gesellschaft überhaupt radikal infrage gestellt. Orte der Versammlung haben sich in aseptische Räume verwandelt, die nur unter strengsten Sicherheitsvorkehrungen zu betreten sind. Aus zivilgesellschaftlichen Treffpunkten werden Tatorte. Was bedeutet der klinische Blick, der hier eingeführt wird, für die gesellschaftliche Teilhabe und Willensbildung? Welchen Ort nehmen politische Ausdrucks- und Kunstformen in einer Gesellschaft ein, die sich auf den pandemischen Zustand als dauerhafte Bedrohung einstellen muss? Wie kann zwischen einer Kultur der Präsenz und einer aufziehenden Bildschirmgesellschaft vermittelt werden? Es disktutieren Armen Avanessian (Keynote; Philosoph, Literaturwissenschaftler und politischer Theoretiker), Bettina Milz (Referatsleiterin Theater und Tanz im Ministerium für Kultur und Wissenschaft des Landes Nordrhein-Westfalen), Shermin Langhoff (Intendantin des Maxim Gorki Theaters Berlin) und Leonie Bremer (Fridays for Future).

 

 

12.11.2020, 20:30 Uhr

Pandemische Räume

Mit Janina Audick, Benjamin Foerster-Baldenius, Wesko Rohde und Claudia Bauer
Moderation Elena Philipp
Impulse von Dramatikerin Sivan Ben Yishai und Kulturwissenschaftlerin Sibylle Peters

Die Pandemie atomisiert den gemeinsamen Raum des Publikums und der Darsteller*innen. Wo einst eine unüberschaubare Menge von Zuschauer*innen war, finden sich jetzt Monaden von Menschen auf sorgsam abgegrenzten Sitzplatz-Inseln. Wie lassen sich angesichts der Pandemie Räume konstruieren, die als Gemeinschaftsorte erlebbar bleiben? Mit welcher Idee von Hygiene geht Theatermachen einher? Und wie greifen die neuen Bedingungen in das Bühnengeschehen ein? Es diskutieren Janina Audick (Professorin für Bühnenraum an der UdK Berlin), Benjamin Foerster-Baldenius (raumlaborberlin; Architekt), Wesko Rohde (Deutsche Theatertechnische Gesellschaft) und Claudia Bauer (Theaterregisseurin).

 

13.11.2020, 20:30 Uhr

Nach der Pandemie? Vom Theater der Zukunft

Mit Matthias Lilienthal, Tina Lorenz und Frank Hentschker
Moderation Christian Rakow
Impulse von Medientheoretiker und Künstler Peter Weibel, Schauspielerin Mavie Hörbiger und Philosoph Ludger Schwarte

Die Pandemie hat das Theater auf alte wie neue Orte abseits der angestammten Produktionsstätten zurückgeworfen. Open Air-Bühnen, Drive-In-Theater und Fußballstadien wurden zu Schauplätzen, die nach dem Frühjahrs-Lockdown als erste zur Bespielung bereitstanden. Wird dieses Ausweichen zum neuen Modellfall? Während des Lockdowns wurden auch digitale Spielorte erprobt. Es gab Zoom-Performances, Streamings mit Live-Chats, Telegram-Mitmachspiele und vieles mehr. Was wird von diesen Netztheater-Erfahrungen bleiben? Welche Erweiterungen und Verschiebungen der theatralen Sphäre sind vielversprechend? Welche Transformationen unterläuft das Theater im Ganzen – auch angesichts des absehbaren finanziellen Drucks, der auf ihnen nach der Pandemie lasten wird? Es diskutieren Matthias Lilienthal (Dramaturg und ehem. Intendant der Münchner Kammerspiele), Tina Lorenz (Projektleiterin für Digitale Entwicklung am Staatstheater Augsburg) und Frank Hentschker (Künstlerischer Leiter des Martin E. Segal Theatre Center in New York).

 

 

Impulse Tag 1

Theatermacher Arne Vogelgesang (internil)

 

 

Regisseur Ersan Mondtag

 


Impulse Tag 2

Dramatikerin Sivan Ben Yishai

 

 

Kulturwissenschaftlerin Sibylle Peters

 


Impulse Tag 3

Peter Weibel (Vorstand ZKM Karlsruhe | Künstler | Medientheoretiker)

 

 

Mavie Hörbiger (Schauspielerin)

 

 

 Ludger Schwarte (Philosoph)

 

 


Stimmen zur Konferenz

"Theater ist nicht nur für das Ästhetische zuständig sondern auch ein politischer Raum. Um mehr Menschen zu erreichen, kann das Digitale helfen." Barbara Behrendt berichtet vom ersten Tag der Konferenz für rbb Kultur (12.11.2020)

Für Doris Meierhenrich von der Berliner Zeitung (12.11.2020) schien es am Auftaktabend der Konferenz "so, als müssten die alten theatralischen Analogrevoluzzer unter Wortführung der Gorki-Intendantin Shermin Langhoff ihre Errungenschaften vor den pandemisch beschleunigten Digitalfuturisten unter dem Zukunftsphilosophen Armen Avanessian eilig in Deckung bringen." Aus Sicht der Kritikerin ließen sich die Diskutant*innen "die Gelegenheit entgehen, mal neugierig und geländerlos über ein Zukunftstheater zu sinnieren, das allen Ungemach der pandemischen Gegenwart in eine neue Art postkapitalistischer Digitalität überführt".

"Die Pandemie funktioniert wie ein Brennglas für Fragen, die wir schon länger im Theater stellen." Auf SRW2 Kultur (12.11.2020) berichtet Eva Marbach über die Konferenz und hat Mitorganisator Christian Rakow im Interview.

In der Wiener Zeitung (16.11.2020) berichtet Petra Paterno über den Abschlusstag der Konferenz und lenkt den Fokus auf die dort verhandelten Netztheater-Fragen. Sie schreibt Matthias Lilienthal mit seinem Bekenntnis, für eine mögliche kommende Intendanz "das Budget für Digitales massiv" aufzustocken, eine "Vorreiterrolle" zu und stellt die Online-Projekte vor, die Tina Lorenz aktuell am Staatstheater Augsburg als "Pionierin in Sachen Digitales" realisiert. Zusammenfassend heißt es: "Kritiker der digitalen Innovationen weisen vor allem darauf hin, dass das Ausweichen in den virtuellen Raum ein Verrat an den Grundpfeilern des Theaters sei – physische Präsenz, Aura des Moments, Flüchtigkeit eines einzigartigen Augenblicks. Entlang dieser einander derzeit noch feindlich gegenüberstehenden Positionen wird wohl künftig über das Digitale Theater debattiert werden."

Für das Neue Deutschland (16.11.2020) schaute Lara Wenzel alle drei Tage der Konferenz. Sie schließt sich Armen Avanessians Auftaktimpuls an und sieht in der "Durchdringung von Nah- und Ferntheater" eine "Strategie für die Zukunft". Zum zweiten Konferenztag heißt es: "Während die Diskussion um digitale Räume sehr spekulativ blieb, wurde es im Panel über coronakonforme Theater konkreter." Aus der Diskussion des Netztheaters am dritten Tag blieb unter anderem die Erkenntnis, dass "die Kommunikation des Ferntheaters anders und meist hierarchischer reguliert ist". Wenzel: "Entweder brauchen virtuelle Formate noch Zeit, um das Impulsive am Theaterbesuch zu kompensieren, oder es bleibt der Nahgesellschaft vorbehalten. Auf jeden Fall müssen eigene Plattformen jenseits der monopolistischen Großkonzerne Facebook und Youtube her, warf eine Zuschauerin kritisch ein."

Lohnenswert fand es Theaterkritikerin Barbara Behrendt für "Fazit" auf Deutschlandfunk Kultur (13.11.2020) an den drei Konferenztagen über die Grundfragen des Theaters nach der Krise nachzudenken. "Unproduktiv war es eigentlich nur am ersten Abend, wo man einen zu elitären intellektuellen Diskurs aufgemacht hat und sich die Fronten zwischen Theorie und Praxis verhärtet haben", sagt sie. Armen Avanessians Impuls zum Theater als "global village" klang für die Kritikerin "fast ein bisschen wie Chris Dercon – der Kurzzeit-Intendant an der Berliner Volksbühne – und sein fuck lokal, think global". Eine Kernfrage sei am letzten Tag in den Blick gekommen, als die Überprüfung der wachstumsorientierten Produktionsweisen des Theaters zur Sprache gekommen sei: "Denken wir jetzt wirklich anders über Ressourcen nach?" Das Theater habe sich zwar nach dem ersten Lockdown "größere Kompetenzen im Digitalen erworben", aber: "Es sieht wirklich so aus, als ob die gewohnten Routinen wieder greifen, sobald das Theaterkarussell dann auch wieder läuft."

 

Postpandemisches Theater – eine Online-Konferenz
Literaturforum im Brecht-Haus in Kooperation mit der Heinrich-Böll-Stiftung, präsentiert von nachtkritik.de
Projektleitung Sophie Diesselhorst, Cornelius Puschke und Christian Rakow.
Mit: Janina Audick, Armen Avanessian, Claudia Bauer, Leonie Bremer, Janis El-Bira, Benjamin Foerster-Baldenius, Frank Hentschker, Shermin Langhoff,  Matthias Lilienthal, Tina Lorenz, Bettina Milz,  Elena Philipp und Wesko Rohde.
Mit Impulsen u.a. von Mavie Hörbiger (Schauspielerin), Ersan Mondtag (Regisseur), Sibylle Peters (Kulturwissenschaftlerin und Performancekünstlerin), Ludger Schwarte (Philosoph), Peter Weibel (Vorstand ZKM | Karlsruhe, Künstler und Medientheoretiker), Arne Vogelgesang (Theatermacher und Mitglied des Labels internil), Sivan Ben Yishai (Autorin und Regisseurin).

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