Postpandemisches Theater

11.-13. November 2020. Wie verändert die Corona-Pandemie das Theater und seine Stellung in der Gesellschaft? Dieser Frage ging nachtkritik.de gemeinsam mit dem Literaturforum im Brecht-Haus Berlin und der Heinrich Böll Stiftung vom 11. bis 13. November 2020 nach: mit der Online-Konferenz Das Postpandemische Theater. Hier finden Sie sämtliche Mitschnitte der Panels und Video-Impulse der Tagung.

 Ankündigungstext

Es ist nicht abzusehen, wie langfristig und tiefgreifend die Auswirkungen der Corona-Pandemie auf das Theater und die Gesellschaft sein werden. Das Virus und seine so genannten Superspreader-Eigenschaften machen Versammlungen vieler Menschen zum neuralgischen Punkt. Das Publikum ist bedroht, die Corona-Krise ist eine Krise der Versammlung. Um der neuen Lage zu begegnen, müssen die Theater sich umgestalten, müssen Bühnen und Säle an Hygiene-Vorlagen anpassen oder ihre Aktivitäten ins Internet hinein erweitern. Welche neuen Spielräume eröffnet das, welche Weichen werden heute für das postpandemische Theater gestellt. Wie kann seine gesellschaftliche Rolle in der neuen Wirklichkeit aussehen? Über drei Tage finden Impulse und Diskussionen zum postpandemischen Theater einen Raum – online im Livestream auf lfbrecht.de, hier auf nachtkritik.de und auf der Website der Heinrich-Böll-Stiftung.

 

Postpandemisch


Das Programm

11.11.2020, 20:30 Uhr

Die Krise der Versammlung

Mit Armen Avanessian, Bettina Milz, Shermin Langhoff und Leonie Bremer
Moderation Janis El-Bira
Impulse von Theatermacher Arne Vogelgesang (internil) und Regisseur Ersan Mondtag

Die Corona-Pandemie hat Nähe- und Präsenzerfahrungen in den Künsten wie in der Gesellschaft überhaupt radikal infrage gestellt. Orte der Versammlung haben sich in aseptische Räume verwandelt, die nur unter strengsten Sicherheitsvorkehrungen zu betreten sind. Aus zivilgesellschaftlichen Treffpunkten werden Tatorte. Was bedeutet der klinische Blick, der hier eingeführt wird, für die gesellschaftliche Teilhabe und Willensbildung? Welchen Ort nehmen politische Ausdrucks- und Kunstformen in einer Gesellschaft ein, die sich auf den pandemischen Zustand als dauerhafte Bedrohung einstellen muss? Wie kann zwischen einer Kultur der Präsenz und einer aufziehenden Bildschirmgesellschaft vermittelt werden? Es disktutieren Armen Avanessian (Keynote; Philosoph, Literaturwissenschaftler und politischer Theoretiker), Bettina Milz (Referatsleiterin Theater und Tanz im Ministerium für Kultur und Wissenschaft des Landes Nordrhein-Westfalen), Shermin Langhoff (Intendantin des Maxim Gorki Theaters Berlin) und Leonie Bremer (Fridays for Future).

 

 

12.11.2020, 20:30 Uhr

Pandemische Räume

Mit Janina Audick, Benjamin Foerster-Baldenius, Wesko Rohde und Claudia Bauer
Moderation Elena Philipp
Impulse von Dramatikerin Sivan Ben Yishai und Kulturwissenschaftlerin Sibylle Peters

Die Pandemie atomisiert den gemeinsamen Raum des Publikums und der Darsteller*innen. Wo einst eine unüberschaubare Menge von Zuschauer*innen war, finden sich jetzt Monaden von Menschen auf sorgsam abgegrenzten Sitzplatz-Inseln. Wie lassen sich angesichts der Pandemie Räume konstruieren, die als Gemeinschaftsorte erlebbar bleiben? Mit welcher Idee von Hygiene geht Theatermachen einher? Und wie greifen die neuen Bedingungen in das Bühnengeschehen ein? Es diskutieren Janina Audick (Professorin für Bühnenraum an der UdK Berlin), Benjamin Foerster-Baldenius (raumlaborberlin; Architekt), Wesko Rohde (Deutsche Theatertechnische Gesellschaft) und Claudia Bauer (Theaterregisseurin).

 

13.11.2020, 20:30 Uhr

Nach der Pandemie? Vom Theater der Zukunft

Mit Matthias Lilienthal, Tina Lorenz und Frank Hentschker
Moderation Christian Rakow
Impulse von Medientheoretiker und Künstler Peter Weibel, Schauspielerin Mavie Hörbiger und Philosoph Ludger Schwarte

Die Pandemie hat das Theater auf alte wie neue Orte abseits der angestammten Produktionsstätten zurückgeworfen. Open Air-Bühnen, Drive-In-Theater und Fußballstadien wurden zu Schauplätzen, die nach dem Frühjahrs-Lockdown als erste zur Bespielung bereitstanden. Wird dieses Ausweichen zum neuen Modellfall? Während des Lockdowns wurden auch digitale Spielorte erprobt. Es gab Zoom-Performances, Streamings mit Live-Chats, Telegram-Mitmachspiele und vieles mehr. Was wird von diesen Netztheater-Erfahrungen bleiben? Welche Erweiterungen und Verschiebungen der theatralen Sphäre sind vielversprechend? Welche Transformationen unterläuft das Theater im Ganzen – auch angesichts des absehbaren finanziellen Drucks, der auf ihnen nach der Pandemie lasten wird? Es diskutieren Matthias Lilienthal (Dramaturg und ehem. Intendant der Münchner Kammerspiele), Tina Lorenz (Projektleiterin für Digitale Entwicklung am Staatstheater Augsburg) und Frank Hentschker (Künstlerischer Leiter des Martin E. Segal Theatre Center in New York).

 

 

Impulse Tag 1

Theatermacher Arne Vogelgesang (internil)

 

 

Regisseur Ersan Mondtag

 


Impulse Tag 2

Dramatikerin Sivan Ben Yishai

 

 

Kulturwissenschaftlerin Sibylle Peters

 


Impulse Tag 3

Peter Weibel (Vorstand ZKM Karlsruhe | Künstler | Medientheoretiker)

 

 

Mavie Hörbiger (Schauspielerin)

 

 

 Ludger Schwarte (Philosoph)

 

 


Stimmen zur Konferenz

"Theater ist nicht nur für das Ästhetische zuständig sondern auch ein politischer Raum. Um mehr Menschen zu erreichen, kann das Digitale helfen." Barbara Behrendt berichtet vom ersten Tag der Konferenz für rbb Kultur (12.11.2020)

Für Doris Meierhenrich von der Berliner Zeitung (12.11.2020) schien es am Auftaktabend der Konferenz "so, als müssten die alten theatralischen Analogrevoluzzer unter Wortführung der Gorki-Intendantin Shermin Langhoff ihre Errungenschaften vor den pandemisch beschleunigten Digitalfuturisten unter dem Zukunftsphilosophen Armen Avanessian eilig in Deckung bringen." Aus Sicht der Kritikerin ließen sich die Diskutant*innen "die Gelegenheit entgehen, mal neugierig und geländerlos über ein Zukunftstheater zu sinnieren, das allen Ungemach der pandemischen Gegenwart in eine neue Art postkapitalistischer Digitalität überführt".

"Die Pandemie funktioniert wie ein Brennglas für Fragen, die wir schon länger im Theater stellen." Auf SRW2 Kultur (12.11.2020) berichtet Eva Marbach über die Konferenz und hat Mitorganisator Christian Rakow im Interview.

In der Wiener Zeitung (16.11.2020) berichtet Petra Paterno über den Abschlusstag der Konferenz und lenkt den Fokus auf die dort verhandelten Netztheater-Fragen. Sie schreibt Matthias Lilienthal mit seinem Bekenntnis, für eine mögliche kommende Intendanz "das Budget für Digitales massiv" aufzustocken, eine "Vorreiterrolle" zu und stellt die Online-Projekte vor, die Tina Lorenz aktuell am Staatstheater Augsburg als "Pionierin in Sachen Digitales" realisiert. Zusammenfassend heißt es: "Kritiker der digitalen Innovationen weisen vor allem darauf hin, dass das Ausweichen in den virtuellen Raum ein Verrat an den Grundpfeilern des Theaters sei – physische Präsenz, Aura des Moments, Flüchtigkeit eines einzigartigen Augenblicks. Entlang dieser einander derzeit noch feindlich gegenüberstehenden Positionen wird wohl künftig über das Digitale Theater debattiert werden."

Für das Neue Deutschland (16.11.2020) schaute Lara Wenzel alle drei Tage der Konferenz. Sie schließt sich Armen Avanessians Auftaktimpuls an und sieht in der "Durchdringung von Nah- und Ferntheater" eine "Strategie für die Zukunft". Zum zweiten Konferenztag heißt es: "Während die Diskussion um digitale Räume sehr spekulativ blieb, wurde es im Panel über coronakonforme Theater konkreter." Aus der Diskussion des Netztheaters am dritten Tag blieb unter anderem die Erkenntnis, dass "die Kommunikation des Ferntheaters anders und meist hierarchischer reguliert ist". Wenzel: "Entweder brauchen virtuelle Formate noch Zeit, um das Impulsive am Theaterbesuch zu kompensieren, oder es bleibt der Nahgesellschaft vorbehalten. Auf jeden Fall müssen eigene Plattformen jenseits der monopolistischen Großkonzerne Facebook und Youtube her, warf eine Zuschauerin kritisch ein."

Lohnenswert fand es Theaterkritikerin Barbara Behrendt für "Fazit" auf Deutschlandfunk Kultur (13.11.2020) an den drei Konferenztagen über die Grundfragen des Theaters nach der Krise nachzudenken. "Unproduktiv war es eigentlich nur am ersten Abend, wo man einen zu elitären intellektuellen Diskurs aufgemacht hat und sich die Fronten zwischen Theorie und Praxis verhärtet haben", sagt sie. Armen Avanessians Impuls zum Theater als "global village" klang für die Kritikerin "fast ein bisschen wie Chris Dercon – der Kurzzeit-Intendant an der Berliner Volksbühne – und sein fuck lokal, think global". Eine Kernfrage sei am letzten Tag in den Blick gekommen, als die Überprüfung der wachstumsorientierten Produktionsweisen des Theaters zur Sprache gekommen sei: "Denken wir jetzt wirklich anders über Ressourcen nach?" Das Theater habe sich zwar nach dem ersten Lockdown "größere Kompetenzen im Digitalen erworben", aber: "Es sieht wirklich so aus, als ob die gewohnten Routinen wieder greifen, sobald das Theaterkarussell dann auch wieder läuft."

 

Postpandemisches Theater – eine Online-Konferenz
Literaturforum im Brecht-Haus in Kooperation mit der Heinrich-Böll-Stiftung, präsentiert von nachtkritik.de
Projektleitung Sophie Diesselhorst, Cornelius Puschke und Christian Rakow.
Mit: Janina Audick, Armen Avanessian, Claudia Bauer, Leonie Bremer, Janis El-Bira, Benjamin Foerster-Baldenius, Frank Hentschker, Shermin Langhoff,  Matthias Lilienthal, Tina Lorenz, Bettina Milz,  Elena Philipp und Wesko Rohde.
Mit Impulsen u.a. von Mavie Hörbiger (Schauspielerin), Ersan Mondtag (Regisseur), Sibylle Peters (Kulturwissenschaftlerin und Performancekünstlerin), Ludger Schwarte (Philosoph), Peter Weibel (Vorstand ZKM | Karlsruhe, Künstler und Medientheoretiker), Arne Vogelgesang (Theatermacher und Mitglied des Labels internil), Sivan Ben Yishai (Autorin und Regisseurin).

https://lfbrecht.de
www.boell.de
www.nachtkritik.de

 

 

Kommentare  
Postpandemisches Theater: Netz-Selbstbewußtsein
Liebe Zoominar-TeilnehmerInnen, liebe OrganisatorInnen, lieber Matthias Lilienthal – dies war von den dreien der Abend mit der Fragestellung, die mich am meisten interessiert hat. Ich habe auch mitzoomen wollen, aber – willentlich – ohne Kamera. – Das hat alles nicht so richtig geklappt und ich habe dann lieber allen zugehört und mir meine Fragen und Bemerkungen für diesen Weg aufgespart:

Als erstes möchte ich Tina Lorenz danken für ihr resolutes, dramaturgisch relevantes Einfordern von Netz-Selbstbewusstsein! Denn es ist doch so: Auch wenn wir nicht die kindliche Freude haben wie die 300 MitarbeiterInnen der Münchner Kammerspiele am Ausprobieren von all diesen Kachel- Spielereien – wie z.B. Zoomkonferenzen :DDD – so sind wir doch seit beinahe 20 Jahren im Netz tagtäglich unterwegs und mehr oder weniger sichtbar für andere in diesem Raum präsent! Er gehört zu unserem analogen Raum dazu. Wir recherchieren, wir verständigen uns über die uns genehmsten Wege – auch Frank Henschke hatte das schon erwähnt: Wir nutzen das ALLES und jeder nutzt es so, wie es seiner Spaß- aber auch Wahrnehmungs- und Arbeitsroutine am meisten entgegenkommt. Man muss also in der Tat nicht so tun, als sei das alles ganz neu. In den allermeisten Haltungen zum Umgang des Theaters mit dem Netz als mediengestalterisches Arbeitsmittel kann ich Tina Lorenz nur beipflichten. Ich halte das für überlebenswichtig, dass wir begreifen, dass der Digitale Raum in unsere analoge Welterfahrung integriert ist und nicht umgekehrt. Wir wissen es nur noch nicht alle und nicht immer...

Christian Rakow hat ja diese Frage mit der Kommunikationsorganisation im Netz gestellt – das scheint die KritikerInnen im Moment im besonderen Maße umzutreiben. (:D) Ob es für eine inhaltlich wie formal effektive Kommunikation sinnvoller wäre, eine App zu nutzen oder man besser kuratieren sollte? (Ich hoffe, ich habe Christian da richtig verstanden?) Also ich denke, dass das unerheblich ist und man einfach an einer Stelle mit einer Methode anfängt und sich das dann gegenseitig immer unterbricht: Die App ist mit dem Kontrollwillen ihrer Programmierer und Anwender ausgestattet und MUSS das Kuratieren dadurch stören. Sie kann – bestenfalls - ein Zufalls-Generator sein. Und dann damit den Kuratierungswillen stören. Der Kuratierungswillen im Digitalen Zeitalter wächst ins Unermessliche. Weil der Mensch sich wehrt dagegen, dass Zufall generiert wird, so gut die Berechnung dahinter auch vertuscht werden mag. In einem bestimmten Themenbereich wird sich das also kommunikativ immer solange gegenseitig hochschaukeln, bis es zu verwerten ist, also monetarisiert werden kann. Das ist das Prinzip des Kapitals, das sich heute vor allem auf Überwachungsmechanismen (Überwachungskapitalismus- Begriff von Zuboff) erstreckt – die v e r k n ü p f t e n Bild-, Sprach-, Schrift-, Ton- und Bewegungsdaten sind der Klondike unseres Jahrhunderts...
Im Zusammenhang mit der von Christian erwähnten „Entschleunigungs-Erfahrung“ und diesem Saison-Verkehrungs-Vorschlag, der bei Matthias Lilienthal ähnlich wie bei Thomas Ostermeier aussieht, habe ich die Frage an den Praktiker Matthias Lilienthal – oder auch andere, die sich über diese Sommer-Theater-Möglichkeit Gedanken machen: Kann es sein, dass uns die diesjährige Situation lehrt, wie wir anders Proben- und Einstudierungszeiten strukturieren können? Oder gar sollten? Auch an den größeren Häusern? Wäre es nicht auch ohne pandemische Erscheinungen sinnvoller, weniger Inszenierungen – in a l l e n Sparten und auch ganz normal weiter mit der noch nicht genau definierten Digitalen Sparte und mit selbstverständlichem Ausschwärmen in den öffentlichen Raum – eine Spielzeit anders als bisher zu planen? Sodass nach dem Sommer zeitgleich mit den Proben zu allen Produktionen, die im Spätfrühjahr/Sommer vor Publikum gezeigt werden sollten, begonnen wird und diese vollkommen regulär bis zur Endprobenreife geführt werden? Die dann kurz vor den Premieren stattfinden? Man hätte dann regulär zwei Probenphasen: Die erste, die in die Tiefe des Stoffes geht und dann die zweite, die nach einer Reflexionspause das dann in die Oberfläche der Vorstellung bringt. Normalerweise fällt eine Reflexionspause weg und alles ist darauf abgestellt, die angeprobte Energie einer Inszenierung bei einer Premiere zu entladen. Ich denke, man könnte aber diese Pause auch einbauen in einen epischen Umgang mit dem bis dahin Erarbeiteten und das dann in die zweite, die Endproben-Phase einfließen lassen. Das könnte den Inszenierungen – in welcher Spielweise auch immer - eventuell guttun. Auch dem Schauspiel als Kunst. Die Energie käme dann aus dem Epischen. Ich sehe dabei auch ein Dauer-Tätigkeitsfeld für die Digitale Sparte, die die Veränderungsprozesse, die die Arbeit auf diese Weise durchläuft – neben einer regulären Jahres-Inszenierung – sichtbar machen könnte... Die Urlaubsregelungen könnten durch die früh feststehenden Besetzungen für das ganze Jahr dann schichtweise nach der jeweiligen Spätfrühjahrs-/Sommerpremiere und ihrer Vorstellungsreihe erfolgen.
Ich fand darüber hinaus sehr anregend diesen Gedanken von Matthias Lilienthal, dass nach der Pandemie das Theater eine Image-Kampagne starten solltemüsstekönnte, weil ihm dann die Aufgabe zufallen könnte, sich als „Labor zum Verlernen von Distanz“ zu begreifen und als solches sich der gesellschaftlichen Nutzung bereitzustellen...

Da denke ich, dass das nicht nach der Pandemie der Fall ist, sondern schon immer.
Schon immer sollte das Theater ein Labor zum Verlernen von Distanz sein. Dafür hat sich das Publikum – auch das optionale, das gar nicht ins Theater geht, das Theater erhalten! Nur hat das Theater das über zu lange Zeit gar nicht begriffen, dass das seine gesellschaftliche Aufgabe ist. Ich denke, das Theater hat – und zwar viel zu lange, so lange bis das Publikum die Geduld mit ihm verloren hat – seine gesellschaftliche Aufgabe verwechselt mit dem privaten Privileg, dass sich die Menschen in ihm um Distanzen nicht scheren brauchen. Wärmestube? Ja. - Aber nur für die, die im Theaterbetrieb unterwegs und beschäftigt sind...
Ich denke, dass das Theater in dieser Zeit lernen und aus dieser Zeit mitnehmen kann, wie man Distanzen ausmessen lernt. Dass Schauspiel etwas ganz Wesentliches, das das Publikum durch seinen Alltag genauestens kennt, neu von sich lernen kann: Impulse durch Bremsvorgänge wieder besser spüren und verstehen. Durch Selbstbesinnung wieder lernen kann, auch ohne Abstand mannigfach motivierte, vom Micro- bis in den Makrobereich wirkende Distanzen darzustellen – das, was Sinnlichkeit ausmacht.

Danke allen für das interessante offene Gespräch.
Postpandemisches Theater: Inter-nationales Potential
Gab es denn auch nicht nationale Perspektiven zur Frage? Ich habe mich bei der illustren Liste der Diskutanden etwas gewundert, ob die Pandemie nur in Deutschland Auswirkungen auf das Theater hat? Und gerade seit wir nicht mehr alle im selben Boot sitzen, die einen etwa vor Publikum spielen dürfen (Schweiz, Japan, Taiwan, Australien, ab morgen Argentinien - und das sind nur Beispiele für Länder mit langen Theatertraditionen), die anderen nicht, drängt es sich doch auf diese Problematik immer unter dem Gesichtspunkt der Internationale zu verhandeln? Gerade wo das mit Zoom relativ einfach ist. Gab es dazu konzeptionelle, inhaltliche Aussagen?

(Internationale Perspektiven eröffnete gestern Frank Hentschker, der in den "Segal Talks" am New Yorker Martin E. Segal Theatre Center Theaterschaffende aus Ländern rund um den Globus zu ihrer (Corona-)Situation befragt. https://howlround.com/series/segal-talks. Das Video zur gestrigen Diskussion steht ab dem Nachmittag online. – Dass die Verständigung ausgeweitet werden muss, ist absolut richtig. Wir hoffen, die Diskussionen fortsetzen zu können und integrieren sie auch in unsere weitere Berichterstattung. Im jüngsten "Theaterbrief" finden Sie eine Bestandsaufnahme aus Griechenland. Herzliche Grüße d. Red.)
Postpandemisches Theater: Appell von Aylin Esener
Postpandemisches Theater oder Welche Verantwortung hat das Theater in dieser Zeit?

Wir debattieren in virtuellen Konferenzen über Postpandemisches Theater darüber, welche digitalen Räume erschlossen werden können und wie Versammlung auch auf hybride Weise weiter stattfinden kann. Wie sich Theater und Kunst in diesen Zeiten neu ausrichten, Chancen nutzen, sich entwickeln, um sich anzupassen, auch um zu überleben. Das ist wunderbar, aber dabei vergessen wir den Fokus auf das zu richten, was gerade das eigentliche Thema künstlerischer Auseinandersetzung ausmachen müsste, weil es DAS vorherrschende - pan-demische -Thema ist: wie werden ALLE nach und mit der Pandemie überleben.

Der Moment zeigt uns wie unter einem Brennglas, wer und was nach Ansicht unseres strukturellen Denkens und aus dem Wesen unserer Ökonomie heraus, Wert ist, gerettet zu werden und wer und was eben nicht mitgedacht wird.
Denn nach Jahren der anhaltenden Krisen, ist erst jetzt die politische Dringlichkeit anerkannt, Leben zu retten. Es ist eine höchst selektive Auswahl. Offensichtlich waren es nicht die Menschen, die in sozialer Not in diesem Lande leben, auch nicht die Menschen, die in unaufhörlicher Beständigkeit im Mittelmeer ertrinken oder vor unseren Toren in menschenunwürdigen Verhältnissen ausharren müssen, es sind auch nicht die Generationen, die nach uns kommen und die seit Jahren um Hilfe schreien, wir mögen ihnen ihre ökologische Lebensgrundlage nicht zerstören.

Gehandelt wird erst jetzt, wo es offensichtlich ans eigene Leder geht und auch nur mit diesem eingeschränkten Blick. Die Zunahme verbaler und physischer Gewalt, Spaltung und Demokratiefeindlichkeit wird anscheinend in keinem Zusammenhang mit diesem selektiven Blick gesehen.
Und statt diese übergestülpte Gesetzmäßigkeit wahrzunehmen und sich als Kulturschaffende für ein Überleben aller einzusetzen, in dem dieses Missverhältnis nicht nur transparent gemacht, sondern in dem das eigene Zutun zu diesem Missverhältnis erkannt wird, Wege erörtert und Konsequenzen gezogen werden, das Bedienen einer zutiefst gewalttätigen, materialistischen und selektiven Ökonomie zu beenden, als Ziel einer Utopie des postpandemischen Theaters, tauschen wir uns darüber aus, wie Kunst in einer untergehenden Welt stattfinden kann.
Wir schauen nicht einmal hin, wenn gerufen wird, dass ein Eisberg voraus ist.
Und statt unsere wunderbaren Pauken und Trompeten, unsere geschulten Stimmen und trainierten Körper ertönen zu lassen, als Verstärker all der Menschen, die bereits in finanzieller und sozialer Verzweiflung leben, die hilfesuchend an unsere Tore klopfen, verlassen in unseren Meeren ertrinken, in unseren Schulen und auf den Straßen für ihr Überleben in Zukunft kämpfen, was alles folge unseres ökonomischen Handelns ist, sind wir lieber damit beschäftigt, uns anzupassen, um weiterhin in unserer gewohnten sicheren Struktur zu produzieren und uns damit zufrieden zu geben, dass wir uns ja darauf vorbereiten, schwimmen zu können, wenn der Kahn sinkt, anstatt ihn nicht auf den Eisberg prallen zu lassen.
Doch wie wir mit eigenen Augen bereits sehen können, wird uns alles Schwimmen nichts nützen, wenn wir kein sicheres Boot mehr finden, das uns aus dem Wasser zieht.

Aber wir sind handlungs- und bewegungsfähig und wir haben die große Gabe der Kommunikation und Sprache, der Worte und Kraft der Körper, der Musik und der Bilder und der diversen Repräsentanz. Wir müssen jetzt aus unserer hermetischen Blase heraustreten und den Finger mit an das politische Steuer legen und spartenübergreifend mit Ökonom_innen und Volkswirt_innen, Philosoph_innen und Wissenschaftler_innen gemeinsam eine Ökonomie der Wertschätzung, statt Wertschöpfung etablieren. Die Zwangsjacke, in die uns das Bruttoinlandsprodukt drängt, ablegen und die bereits geebneten Wege zu einer nachhaltigen, ökologischen, anti-rassistischen, wertschätzenden, Wohl-habenden und dabei produktiven, globalen Ökonomie bestreiten.
Ich appelliere an die Theater und Kunstschaffenden einen großen Schritt zu wagen, um auch zukünftig für die Gesellschaft zu gewährleisten, dass es Versammlungen und Kommunikation gibt, im analogen, wie digitalen Raum. Dazu müssen wir aber erst einmal unsere ganz ursprüngliche Lebensgrundlage erhalten. Nämlich eine gesunde Erde, eine artenreiche vielfältige Natur. Elementare Grundbedürfnisse wie sauberes Wasser, saubere Luft, fruchtbare Böden, intakte
Wälder, Inklusion, Gemeinschaft auf Basis einer lebendigen wehrhaften Demokratie als Kulturschaffende im öffentlichen und digitalen, sowie den Theaterräumen einzufordern und zu verteidigen. Dieses alles sehe ich nämlich massiv gefährdet, neben unserer eigenen künstlerischen Existenz, wenn es darum geht, die Wirtschaft „wieder anzukurbeln“, um die Hilfspakete zu kompensieren. Ein flächendeckender Brandbeschleuniger wird entfachen, um das Bruttoinlandsprodukt zu steigern.

Erst wenn wir erkennen, das Wohlstand nicht durch diese Kennziffer entsteht, in deren Wesen, ihrer DNA und im Ursprung ihrer Erfindung Ausgrenzung, Rassismus, Segregation, Ausbeutung, Missachtung von Menschenrechten, Aufrüstung und materielle Überlegenheit angelegt ist und sie jeder Emanzipation hin zu Wertschätzung, Anti- Rassismus, Anti-Semitismus, Gewaltfreiheit, Gemeinwohl, Gleichwürdigkeit, Demokratie und Teilhabe und einer prosperierenden Ökonomie der Nachhaltigkeit, die allen zugute kommt, einen Knüppel zwischen die Beine wirft, können wir uns aus dieser Falle lösen und einen konstruktiven emanzipierten Weg einschlagen, der an vielen Orten in unserer Gesellschaft bereits umgesetzt wird. Lassen wir uns darin aufklären und uns schulen durch das Verstehen der politischen Geschichte des Bruttoinlandsproduktes und seiner Macht und wie es die gesamten Strukturen unserer Gesellschaft durchzieht und durch die Expertise der „Scientists for Future“ und potenzieren wir diesen Weg jetzt gemeinsam, spartenübergreifend mit aller Kraft, um unsere wunderbaren Ideen analoger und digitaler Vernetzung, Versammlung und Kunst postpandemisch auf sicherem Boden, lebendig werden zu lassen.
Postpandemisches Theater: Team-Frage
Dafür, dass der Herr Mondtag für seinen persönlichen Geschmack so gar kein Theater am Theater vorgefunden hat bisher, hat er aber ganz schon von ihm abgesahnt... Hm.

Gibts auch noch andere Teams, Frau Peter, oder muss man sich zwischen Langhoff oder Mondtag entscheiden, wenn man noch irgendwie dazugehören möchte???
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