Schamloses Othering

von Wolfgang Behrens

17. November 2020. Als Student habe ich mich einmal über einen Philosophie-Professor aufgeregt, der plötzlich in seiner Vorlesung innehielt, einen seiner Hilfswissenschaftler fixierte und ihn fragte: "Habe ich darüber eigentlich mal publiziert?" Mir kam das damals ungeheuer ungehörig vor, ich hielt es für reine Koketterie, die auf eine möglichst servile Antwort spekulierte (und sie kam auch prompt: "Nein, leider nicht!").

Verblüffende Funde

Heute würde ich längst nicht mehr so streng urteilen: Manche Texte, die ich als Kritiker geschrieben habe, habe ich mittlerweile auch vergessen ("Besser so!", höre ich so manche*n jubeln). Stattdessen erinnere ich mich zum Beispiel an einen Geistesblitz, den ich einmal für einen noch zu schreibenden Artikel hatte, um ein paar Tage später ernüchtert festzustellen, dass der Geistesblitz mich Jahre zuvor schon einmal illuminiert hatte: Ich hatte den Text so im Grunde schon einmal verfasst.

17 Kolumne behrens k 3PFür den Redakteur, der ich als Kritiker ja auch war, verschärft sich das Problem noch: Die allermeisten der Aberhunderte von Texten, die ich redigiert habe, sind mir nur noch vage im Gedächtnis, manche vielleicht gar nicht mehr (das tatsächlich Vergessene ist schwer zu beziffern, denn man hat es ja vergessen). Interessanter, als dem Entschwundenen nachzuforschen, scheint die Frage: Was ist denn hängengeblieben? Da immerhin stößt man ab und an auf verblüffende Funde, und es fallen einem Texte ein, die irgendwann einmal die eigene Sicht aufs Theater (oder auf die Kunst oder auf die Welt) geklärt, formatiert oder verändert haben.

Als ich vor zwei Wochen Janis El-Biras Kolumne über Donald Trump als Bühnenfigur las (und darin nicht zuletzt den Satz über "die Ohnmacht eines politischen Theaters, das Abziehbilder des Bösen produziert, anstatt dem schillernden Rätsel seines liebsten Gegners auf den Grund zu gehen"), da schwappte aus der Ursuppe meiner Redakteurszeit ein Text an die Oberfläche meines Bewusstseins, der meinen Blick aufs Theater vor ziemlich genau 15 Jahren tatsächlich deutlich beeinflusst hat. Gelesen und redigiert habe ich ihn für die November 2005-Ausgabe von "Theater der Zeit", geschrieben hat ihn Nikolaus Merck, der zu diesem Zeitpunkt noch nicht nachtkritik.de gegründet hatte.

Heruntergelassene Hosen

Unter der Überschrift "Männertheater" konstatierte Nikolaus Merck 2005 ein "epidemisches Phänomen": "Einerlei ob König, Kapitalist oder Kommunist, die deutschsprachigen Bühnen machen den großen Mann lächerlich, entlarven ihn, reduzieren ihn auf krude Gier oder schiere Aufschneiderei." Am liebsten würde ich vor lauter Begeisterung über diesen (vom Autor vielleicht längst vergessenen) Text den ganzen Artikel zitieren, etwa das hier über die "Herrscher von der traurigen Gestalt": "Ihr jeweiliges dramatisches Anliegen in Erwägung zu ziehen, verbietet sich immer schon von selbst. Spätestens nach dem zehnten Satz schlottern ihnen sämtliche Motive lächerlich um die Knöchel wie heruntergelassene Hosen."

Und dann die entscheidenden Sätze, die sich noch heute wie ein Offenbarungseid der gesamten Theaterzunft lesen: "Das Theater macht nicht lächerlich, um zu entmachten; es kann nicht anders. Es hat schlicht die psychische Grundlage verloren, um einen König Lear, den Großkaufmann und Hüttenbesitzer Werle aus Ibsens 'Wildente' oder einen Fabrikanten Dreißiger aus den 'Webern' in ihrer einstigen Pracht, Herrlichkeit und Verblendung darzustellen."

Wohlfeile Selbstbestätigung

Kabumm! Einige Genderdebatten später kann man Mercks Diagnose sicherlich von der Figur des Mannes ablösen und auf diejenige der Macht im Allgemeinen übertragen. Das Skandalon des Befundes indes bleibt, und Janis El-Bira hat es vor zwei Wochen an Donald Trump erneut vorgeführt. Während wir Theatermenschen (nicht zu Unrecht) höchlichst empört sind, wenn ein Trump mit einem einzigen Wort ("They") schamloses Othering betreibt, reagiert das Theater mit seiner eigenen Form des "Othering" und zeigt mit dem Finger auf den Popanz, den man nicht klein und lächerlich genug machen kann, und sagt: "He!" Im schlimmsten Fall kommt man sich dabei auch noch sehr schlau und politisch vor, doch außer wohlfeiler Selbstbestätigung der eigenen Haltung ist da nicht viel Politisches zu sehen. Trump- (oder AfD- oder Was auch-immer-)Wähler*innen wird man so jedenfalls noch nicht einmal im Ansatz erreichen.

Natürlich ist es eine ungeklärte Frage, ob Letztere im Theater überhaupt erreicht werden sollen. Trotzdem sollte das Theater nicht bei der puren Denunziation stehenbleiben, denn diese klärt nichts. Um dem "schillernden Rätsel" der Mächtigen auf den Grund gehen zu können, wird man um die Darstellung ihrer "Pracht, Herrlichkeit und Verblendung" nicht herumkommen. Und um die psychische Grundlage, einen Lear, einen Werle, einen Dreißiger und einen Trump zu spielen, sollte man kämpfen. Ansonsten wird man das Theater als Instrument der Machtanalyse sehr bald einfach nur vergessen können.

 

Wolfgang Behrens, Jahrgang 1970, ist seit der Spielzeit 2017/18 Dramaturg am Staatstheater Wiesbaden. Zuvor war er Redakteur bei nachtkritik.de. Er studierte Musikwissenschaft, Philosophie und Mathematik in Berlin. Für seine Kolumne "Als ich noch ein Kritiker war" wühlt er unter anderem in seinem reichen Theateranekdotenschatz.

 

Zuletzt dachte Wolfgang Behrens über das Verhältnis zwischen Länge einer Aufführung und dem Maß des Kunstgenusses nach.

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