Obrigkeitsstaatliche Rechnung ohne Wirt gemacht?

von Ute Nyssen

Paris, 13. Oktober 2008. Ein bedenklicher administrativer Anschlag auf das Theater MC93 in Bobigny (einer der heiklen "Banlieue" von Paris) kann möglicherweise vereitelt werden. Das wäre ein Grund zum Feiern auch für die deutsche Theaterszene.

Das "Ministère de la Culture", unter der Leitung von Christine Albanel, hatte auf einer Pressekonferenz am vorigen Montag verkündet, dass demnächst die Comédie Française in dem subventionierten Nationaltheater in Bobigny eine zusätzliche Spielstätte finden werde. Gerüchte über diesen Plan kursierten schon seit Längerem. Der Bürgermeister von Bobigny zeigte sich begeistert, dass Frankreichs berühmtestes Traditionsunternehmen demnächst in seinem Regierungsbezirk eine zusätzliche Heimat finden werde, zumal dessen derzeitige Intendantin Muriel Mayette ja dort wohne.

Aber die Rechnung wurde ohne den Wirt gemacht. Der Direktor des MC93 nämlich, Patrick Sommier, ließ mit Erstaunen wissen, dass sein Theater mit keinem Wort von dieser geplanten Zusammenarbeit informiert worden sei. Sommier erhielt Unterstützung durch prominenten Künstler wie Ariane Mnouchkine und Jane Birkin, die sich mit dem Theater solidarisierten und gegen die Pläne des Ministeriums protestierten.

Komödianten spielen nicht mit

Deutliche, ja scharfe Worte sprachen jedoch vor allem die ihrerseits zuvor nicht informierten Schauspieler der Comédie Française mit einer Petition, mit der sie hinter dem schönen Plan den programmatischen Willen aufdeckten, dem MC93 langsam aber sicher das Wasser abzugraben. Sie erklärten, die Schauspieler der Comédie Francaise seien keinesfalls willens dabei mitzuziehen. Dieser mutige und ungewöhnliche Schritt in die Öffentlichkeit seitens der Schauspieler (die als "Sociétaires" der Comédie Française so etwas wie Beamte auf Lebenszeit sind) stellt die ernsteste Bedrohung für das Projekt der Obrigkeit dar.

Bisher jedoch versuchen alle drei Geldgeber des MC93 – Departement, Ministère de la Culture und die Stadt Bobigny – die Proteste zu ignorieren und ihre Pläne in vollem Umfang durchzusetzen. Am morgigen Dienstag sollen nach ihrem Willen erste Kooperationsverhandlungen zwischen der Comédie Française und MC93 stattfinden.

Vorzugsort deutscher Gastspiele

Dennoch, gegen den Willen der Schauspieler der Comédie wird es auch für die politisch Verantwortlichen schwer werden, ihr Vorhaben durchzusetzen. Das wäre insofern ein besonderer Grund zur Freude nicht nur der deutschen Theaterbesucher in Paris, sondern auch der deutschen Gäste des Theaters, als neben dem interessanten eigenen Programm im großen und renommierten MC93 seit sechs Jahren auch das "Festival Le Standard Idéal" stattfindet, für das die straßburgisch-berlinische Kuratorin Barbara Engelhardt immer wieder auch ausgesuchten deutsche Gastspiele einlädt (und zudem in diesem Jahr zusätzlich noch das Theaterfestival Frankreich – Nordrhein-Westfalen veranstaltete).

Als regelmäßige Besucherin kann ich bezeugen, dass sich gerade die deutsche Programmschiene lebhaften Zuspruchs erfreut, von Franzosen und Deutschen, von jungen Zuschauern und solchen in den besten Jahren, und natürlich von Theaterleuten. Eine bessere Werbung für das hier nicht selbstverständliche (deutsche) Regietheater und indirekt auch für die deutsche Dramatik, kann man sich nicht wünschen. Die Auswahl der Gastinszenierungen ist exemplarisch und scheut nicht vor - für hiesige Verhältnisse - harten Brocken zurück, zum Beispiel Produktionen von René Pollesch oder Christoph Schlingensief. Ich werde nie vergessen, wie herzlich eine feine französische alte Dame lachte beim Anblick der scheissenden nackten Hexen in Jürgen Goschs "Macbeth" Inszenierung. Nicht nur das MC93 steht also zur Disposition der französischen Politik, sondern auch ein Ort intensiver deutsch-französischer Begegnungen.