Der Gewalttäter als Wohltäter 

von Eva Maria Klinger

Wien, 15. Oktober 2008. Im Juli habe seine Tragödie begonnen. Da sei sein Haus abgebrannt und weil der Nachbar ihn nicht aufnehmen wollte, erstach er ihn mit dem Küchenmesser. Ein 63-jähriger Mann begibt sich auf die Suche nach Glückseligkeit, räumt aus dem Weg, was sich ihm entgegenstellt. Ziel seiner Reise ist die Irrenanstalt von Smolensk, die er für das Paradies hält. 

Die Lebensbeichte eines Spinners, der zum mehrfachen Mörder und Kannibalen wird, erzählt der 34-jährige sibirische Autor Iwan Wyrypajew in einem 60-Minuten-Monolog. Er erzählt auch vom Verlust der Moral. Fühlt sich doch der Gewalttäter als Wohltäter, wenn er einen Mönch zerstückelt, um durch den Märtyrerstatus dem frommen Mann das Paradies zu sichern.

Verstörendes Sprachkunstwerk
Vielleicht ist es die Sehnsucht nach Liebe, nach einem einzigen Menschen, der ihn versteht, die den Verlorenen antreibt. Nach der letzten Gewalttat wird er "zu Hackfleisch" geschlagen, verliert das Gehör und erreicht sein Lebensziel, die Irrenanstalt von Smolensk. Dort dämmert er jahrelang, an ein Brett gefesselt, dahin. Eines Tages erscheint ihm seine Jugendliebe in Gestalt einer Pflegerin, die Apotheose endet wieder mit Mord. Er empfängt "worum jeder liebende Mann seine Geliebte bittet": ihr (herausgeschnittenes) Herz und ihre (abgetrennte) Hand.

Wyrypajew hat mit diesem, seinem sechsten Bühnentext ein verstörendes Sprachkunstwerk vorgelegt. Er bricht die unerträgliche Perversion des Gewaltverbrechers, indem er vorschreibt, dass eine junge Frau die Beichte vorträgt. Diese ist im Wiener Schauspielhaus die 29-jährige Bettina Kerl. Elegant gekleidet, mit Perlenkette, Seidenbluse und schwarzen Handschuhen tritt sie lächelnd vor den roten Samtvorhang und berichtet mit blumenweicher Stimme von den Gräueltaten als handle es sich um eine Damenjause. Nur manchmal, wenn ein Mord passieren muss, blitzen die Augen der zarten Frau. Zuletzt wechselt Wyrypajew die Erzählperspektive. Nun schildert die Geliebte die finale Vereinigung.

Wohltuender Purismus
Bettina Kerl befreit sich von Schmuck, falschen Wimpern und Pumps, springt von der Rampe und balanciert auf den Stühlen der ersten Reihe. Man darf dies als Idee des Regisseurs Florian Flicker werten, wie auch die Entscheidung, den Bühnenraum nie zu öffnen, als handle es sich um ein Schließtag-Programm im Burgtheater. Der preisgekrönte Filmregisseur vertraut in seiner Bühnenarbeit ausschließlich der Kraft des Wortes.

Er streicht auch den Schluss, der die Abstraktion gefährdet hätte. Der Purismus, all den licht- und videotechnischen Effekthaschereien zu entsagen, tut auch wohl. Die Schlichtheit verstärkt die Eindringlichkeit. Dass die Spannung anhält, verdankt man dem dichten, poetischen Text und der Intensität von Bettina Kerls Vortrag. Sie wurde für ihre großartige Leistung lautstark bejubelt.

Juli
von Iwan Wyrypajew (Österreichische Erstaufführung)
Aus dem Russischen von Stefan Schmidtke
Inszenierung: Florian Flicker.
Mit: Bettina Kerl.

www.schauspielhaus.at


Juli
wurde 2007 in Moskau uraufgeführt. Die Deutschsprachige Erstauführung fand am 10. Oktober 2008 in der Leipziger Skala statt.

Kritikenrundschau

"Wie sensibel darf ein kannibalischer Massenmörder sein?" fragt Norbert Mayer in der Wiener Zeitung Die Presse (17.10.). "Außerordentlich lyrisch" sei die Darstellung im Schauspielhaus geraten. Bettina Kerl habe in der "starken Übersetzung von Stefan Schmidtke" ein "überzeugendes" Solo hingelegt. Von Inszenierung indes könne "keine Rede sein". Es handele sich um einen Vortrag Regisseur Flicker gehe "sehr sparsam mit Ideen zur Versinnlichung des Textes" um. Der "Gipfel der Dramatik" seien Windgeräusche und  verschieden große Spots "wie im Varieté". Zuweilen habe man den Eindruck, "hinter dem Vorhang fahre eine Zug vorbei oder ein Unwetter passiere". Das Wesentliche aber sei: der "gekonnte Vortrag" einer "sensiblen Schauspielerin", die den "rabiaten, schizophrenen Text" veräußerliche.

Paul Jandl von der Neuen Züricher Zeitung (24.10.) zeigt sich in seinem Bericht über den Saisonauftakt am Schauspielhaus Wien von dieser Inszenierung begeistert. Florian Flicker hätte Bettina Kerl "mit sicherer Hand durch die Untiefen einer skandalösen Selbstentblößung" geführt. Und diese agiere "mit der Zerbrechlichkeit eines Engels, während der Teufel in ihr sitzt". Die "brachialen Morde begleitet sie mit kleinen Gesten, ihre Stimme seziert die Sätze, während in der Erzählung der Dolch dem Popen mit roher Gewalt in die Brust fährt."

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