Das Glück des Theaters

von Barbara Villiger Heilig

3. Dezember 2020. Von ihrem Geburtsdatum kursierten verschiedene Versionen, doch Jutta Lampe machte selbst keinen Hehl draus, dass Agenturen die Schauspielerinnen gerne verjüngten. Da sie aber so mädchenhaft wirkte mit ihrer fragilen Figur und den langen Haaren, nahm man ihr das eigentliche Alter ohnehin nicht ab. Wikipedia verzeichnet: "13. Dezember 1937 in Flensburg"; wenn das stimmt, zählte Jutta Lampe jetzt, bei ihrem Tod am 3. Dezember 2020, 82 Jahre.

JuttaLampe 280h RuthWalz hJutta Lampe (1937–2020) in Tschechows "Kirschgarten", inszeniert von Peter Stein, Schaubühne am Lehniner Platz 1989 © David Baltzer

Seit geraumer Zeit erschien sie nicht mehr an der Öffentlichkeit: Ganz plötzlich hatte sie die Krankheit eingeholt. Zuletzt war sie in Zürich aufgetreten als Heilsarmistin in Bernard Shaws "Major Barbara" – diese Komödie sollte nicht nur für sie, sondern auch für den Regisseur Peter Zadek die letzte Inszenierung bleiben.

"Die Treuste von allen"

Begonnen hatte Jutta Lampe in Wiesbaden und Mannheim, traf dann aber in Bremen unter Kurt Hübners Intendanz auf denjenigen, der sie groß machte: Peter Stein. Die beiden wurden ein Paar, sie spielte auch in seinem Leben die Hauptrolle, und noch lange, nachdem sich ihre Wege getrennt hatten, sagte er von ihr, sie sei "die Treuste von allen".

Legendär wurde Steins "Torquato Tasso", den er in Bremen herausbrachte und nach Zürich mitnahm, wo man heute noch davon spricht: Jutta Lampe spielte Leonore von Este mit glockenheller Stimme, die Verse wie Koloraturen singend und Goethes Worte wie eine flexible Perlenschnur aufreihend.

Vorher noch war sie die Lady Milford in Schillers "Kabale und Liebe" – die erste Arbeit mit Peter Stein, von der sie sagte, damals sei sie "erst geboren worden als Schauspielerin". Denn Stein wollte, dass man den Text "vom Sinn her" verstehe, und hielt sie an, einfach sie selbst zu sein. Nach dem kurzen Zürcher Intermezzo brach Steins Truppe auf nach Berlin und gründete die Schaubühne, die zuerst am Halleschen Ufer, dann am Lehniner Platz Theaterhistorie schrieb.

Die Schaubühnen-Jahre

Daran war ein phänomenales Ensemble beteiligt, zu dem nebst der Lampe auch Edith Clever, Bruno Ganz, Otto Sander, Elke Petri und andere gehörten. "Gemeinsam herausfinden, was man machen will und warum man überhaupt Theater macht": Das fand Jutta Lampe im Rückblick auf die Schaubühne-Zeit fundamental. Wie auch das Sich-selber-Ausprobieren unter verschiedenen Regisseuren: unter Klaus-Michael Grüber, den Stein als Genie verehrte, oder Luc Bondy, der blutjung begann und mit dem sie dann auch später regelmäßig arbeitete, nicht nur in Stücken von Botho Strauß.

Aber Botho Strauß schien ihr speziell zu entsprechen, der als Dramaturg zum Schaubühne-Team gestoßen war und dann als Dramatiker seine szenischen Anordnungen im Hinblick auf ganz bestimmte Besetzungen schrieb. Jutta Lampe ging solche Rollen mit größter Natürlichkeit an und immer, trotzdem, wie verwundert über ihr Dasein – so passte es zu Figuren wie jener in "Der Park", die der Autor mit "Frau aus der anderen Zeit" umschrieb. Strauß hob 2010 im Rahmen einer vielkommentierten Laudatio zur Preisung dieser Schauspielerin an, die, wie er sagte, heute "durch die Szenen des sprachvergessenen Theaters" irren würde – denn tatsächlich trat sie damals nicht mehr auf. Und schon lange hatte sie beklagt, unter den jüngeren Regisseuren für sich keinen zu finden.

Tiefe Beschäftigung mit Stück und Stoff

Als Athene in Steins legendärer "Orestie" war sie laut Strauß, ihrem Laudator,"Figur gewordene göttliche Vernunft", dazu "Maß und Bemessenheit, Klarheit und Geschick, Zartheit und Strenge". Auch manch anderem Begeisterten, der diese Athene erlebt hatte, entlockte sie poetische Schilderungen.

Dem Eintauchen in eine Figur ging eine tiefgreifende Beschäftigung mit Text und Stoff voraus: Um Tschechow zu erarbeiten, reiste Stein mit seinen Leuten nach Russland. Für Jutta Lampe, die unter ihm "Drei Schwestern" (1984) und den "Kirschgarten" spielte (Letzteren zweimal: 1989 in Berlin und 1995 bei den Salzburger Festspielen), war der Besuch von Tschechows Haus prägend: "Plötzlich kennt man den Mann, und man geht reicher an die Arbeit, an die Rolle", erzählte sie. Und während der Proben zu Luc Bondys Wiener "Möwe" freundete sie sich mit der unsympathischen Arkadina an; vielleicht, weil sie, die stets so undivenhaft wirkte, in der alternden Diva doch etwas von sich widerspiegelt sah.

"Reich" war ein Wort aus ihrem Vokabular. Reich an Bildern wollte sie auf die Bühne gehen; die Bilder suchte und fand sie in sich selbst, auch zu ihrer eigenen Überraschung. Und sie konnte mit bildhaften Vorschlägen von Regisseuren umgehen, wie damals, als sie bei Grüber die Ophelia probte und er ihr sagte, sie solle "ein Gefäß" sein. Oft nannte man sie ein "Medium", weil sie aufnehmen und geben konnte – wenn sie spürte, dass etwas in ihr gewartet hatte. Sie wollte von Kind an auf die Bühne, um dort zu leben, und sah das Theater als Selbstanalyse. Ihren inneren Reichtum, der einer Offenheit für alle Geheimnisse der Existenz entstammte, schenkte sie großzügig ihren Figuren – und dem Publikum. Jutta Lampe verkörperte das Glück des Theaters.

 

Barbara Villiger Heilig ist promovierte Romanistin. Sie war von 1991 bis 2017 Redaktorin und führende Theaterkritikerin im Feuilleton der Neuen Zürcher Zeitung und gehörte dem Kritikerteam der Sendung "Literaturclub" des Schweizer Fernsehens an. 2017 wechselte sie zum Online-Magazin "Republik". Heute arbeitet sie als Freelance-Kulturjournalistin.

 

Presseschau

"Sie konnte vollständig ernsthaft ihrem Stanislawski-Bedürfnis huldigen und folgen. Gleichzeitig aber war sie die einzige klassische Schauspielerin im deutschen Theater, die auch Boulevard konnte", sagt Peter Stein im Gespräch für "Fazit" auf Deutschlandfunk Kultur (3.12.2020) über die Schauspielerin Jutta Lampe, mit der er von 1967 bis 1984 verheiratet war.

"Mit ihrem mädchenhaften, jedes Alter zärtlich zurückweisendem Gesicht, der leicht vorgewölbten Stirn, den vollen Lippen und dem wachträumenden Blick war Jutta Lampe stets mehr als eine nur auftretende Schauspielerin, sie war eine zum Staunen verführende Erscheinung", schreibt Simon Strauß in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung (3.12.2020). "Mit Jutta Lampe tritt eine der größten Schauspielkünstlerinnen Nachkriegsdeutschlands von der Bühne. Eine unbedingte Theaternatur, die im Film – etwa bei Margarethe von Trotta – nur eine zweite Ersatzheimat fand."

"Solange sich mir noch der Vorhang öffnet vor einer Theaterbühne, werde ich sie nicht vergessen", bekennt Peter Iden in der Frankfurter Rundschau (3.12.2020). Als "Ikone" der Berliner Schaubühne habe Jutta Lampe für alles gestanden, "was diese Bühne ausmachte und auszeichnete: die Achtung vor den Dichtern, die Genauigkeit im Umgang mit deren Werken, die Leidenschaft zur Schilderung ihrer Figuren, die Lust an der Welt, wie sie ist und die Liebe zu ihrer Verwandlung. Dabei wandelte sich mit dieser Schauspielerin auch die Vorstellung, die sich bis dahin mit dem Begriff einer Diva verbunden hatte, zur Realität einer Person von selbstbewusster Bescheidenheit."

"Die Figuren der Jutta Lampe balancierten alle auf der Kippe, verloren aber nie ihr Gleichgewicht“, schreibt Gerhard Stadelmaier in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung (4.12.2020) und lässt Momente ihrer Inszenierungen Revue passieren. "Lauter Unvergesslichkeiten. Flüchtige Theatermomente, die sich in ewige Erzählungen verwandeln lassen. Es war eine ungeheure Seinsungerechtigkeit, dass die königliche Zauberin so vieler Unvergesslichkeiten gegen Ende ihres Lebens, niedergedrückt von einer erbärmlichen Auslöschungs- und Vergessenskrankheit, nicht einmal mehr wusste, wer sie war: eine wahrhaft große Schauspielerin."

"Immer war da selbst in höchster Not noch so eine Andeutung des Lächelns in ihrem Gesicht, und man wusste auch lange nach Vorstellungen mit Jutta Lampe nicht, ob sie, so leichtfüssig, wie sie agierte, nun das Schicksal ihrer Rolle meinte – oder doch uns, denen sie gezeigt hat, dass Lachen und Leiden so nah beieinanderliegen", schreibt Bernd Noack in der Neuen Zürcher Zeitung (3.12.2020).

Für rbb|24 (3.12.2020) berichtet Michaela Gericke: "Welche Rolle sie nie annehmen wollte? Die einer Zynikerin, sagte sie. Theaterspielen hieß für Jutta Lampe, Scham und Ängste zu überwinden, ihr Innerstes zu zeigen. Quasi-religiös, so beschrieb der Regisseur Peter Stein ihre absolute Hingabe an den Beruf."

Die "höchsten Ansprüche der Kunst" verkörperte Jutta Lampe für Lothar Müller von der Süddeutschen Zeitung (3.12.2020) "in der ihr eigenen Art. Das Aussparen, Zurückhalten, Andeuten von Dimensionen einer Figur, die jenseits der Sprache liegen, war ein Charakteristikum ihrer Schauspielkunst."

"Vom Stolz, von der Klugheit und der Bescheidenheit, die aus diesen Sätzen sprechen, erzählte Jutta Lampe in all ihren Rollen", erinnert sich Wolfgang Höbel im Spiegel (3.12.2020) und beschreibt: "Die merkwürdig tapsige Art, in der sie ihren schmalen Körper bewegte, der stets ein bisschen träge Augenaufschlag, ihre wohlklingende, immer ein bisschen singende Stimme verliehen ihr die Aura einer hochinteressanten, hochintelligenten Verstrahltheit."

Im Wiener Standard (3.12.2020) blick Ronald Pohl so auf die Schaubühnen-Zeit: Jutta Lampe "bildete neben Edith Clever das zweite weibliche Zentralgestirn in diesem beispiellosen Versuch, die verstandesscharfe Ästhetik der Aufklärung mit den eher kultischen Aspekten der alten Theaterüberlieferung zu versöhnen."

Jutta Lampe hatte "etwas Schwebendes. Jene Anmut, Grazie und einen leicht melancholischen Glanz, einen Schmelz (und nie Schmalz) im Blick, in der Stimme, in ihrem Lachen, das fast immer nur ein Lächeln war. Aber was heißt hier: nur! Jutta Lampe war die Diva, die wegen ihrer liebenswürdigen Nahbarkeit und Integrität als Ensembleschauspielerin zugleich keine Diva war." So schreibt Peter von Becker im Tagesspiegel (4.12.2020).

In der Berliner Zeitung (4.12.2020) würdigt Irene Bazinger Jutta Lampe als eine der "wandlungsfähigsten, eindringlichsten und bedeutendsten Schauspielerinnen ihrer Zeit". Sie "war nicht nur eine erstklassige Schauspielerin, sondern auf der Bühne, im Film und im persönlichen Umgang von einer unglaublich feinen, fragilen, mädchenhaften Ausstrahlung umgeben. Es war stets etwas Leichtes und Verletzliches um sie, eine luzide Grazie, mit der sie ihre Rollen zärtlich-klug einfangen konnte."

Für die Welt (3.12.2020) blickt Kai Luehrs-Kaiser in die neuere Historie des Schauspielfachs: "Es war immer die Frage: Nachtwandlerin oder Marketenderin? Den großen Dusen der alten Bundesrepublik kam stets etwas leicht Umnachtetes zu; während fast alle großen Darstellerinnen in der DDR auf ihre Rolle als 'Mutter Courage' vorbereitet schienen. So viel als feierlicher Vorspruch! Unter den hellsichtigen Somnambulen des Westens nämlich gab es eine Schauspielerin, der die nächtliche Krone gebührte. Sie war die Königin der gebildeten Herzen. Gemeint ist die großartige, verklärte, von Generationen Berliner Theatergänger angebetete: Jutta Lampe."

In der Zeit (10.12.2020) würdigt Peter Kümmel die große Schauspielerin: "Sie konn­te in ei­nen Raum tre­ten, in dem sie nie zu­vor ge­we­sen war, und ihn den­noch in Be­sitz neh­men, als ha­be sie dar­in et­was ver­ges­sen, das ihr ganz al­lein ge­hör­te. Sie konn­te das Wort an ei­nen Frem­den rich­ten, als neh­me sie ei­nen ver­trau­ten Dia­log wie­der auf." An­de­rer­seits sei Dia­log nur Auf­schub gewesen, "ei­ne Art, sich zu ver­ta­gen – das wirk­lich Wich­ti­ge ge­schah au­ßer­sprach­lich. Be­zie­hungs­wei­se in Spra­chen an­de­rer Art: Bli­cken, Kör­per­hal­tun­gen, Ge­bär­den". Sie sei eine Künst­le­rin gewesen, "die für das Gu­te im Men­schen an sich ein­trat".

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Jutta Lampe: Die Suchende
Als junger Hospitant bei der Wiederaufnahme des Kirschgartens in der Schaubühne 1990 (obschon die Inszenierung nur ein halbes Jahr alt war, wurde ein ganzer Monat für die Wiederaufnahme anberaumt - die guten alten Zeiten) durfte ich Jutta Lampe beim Wiederentdecken der Gutsbesitzerin beobachten. Ein Vergnügen, ein Erlebnis, welches sich tief verankerte im Gedächtnis. So hell, sacht, schwebend, das Herz in jedem Satz - ich verliebte mich auf den ersten Blick in diese Erscheinung. Beeindruckend war zum einen, wie ernsthaft das ganze Ensemble sich mühte, nicht nur alte Routinen wieder in Gang zu bringen, sondern dem Abend neue Frische zu verleihen. Ganz besonders aber stand Jutta für dieses Bemühen. Gänsehaut als sie während einer Ensembleszene in welcher sie das Geschehen anzuführen hatte, unvermittelt innehielt, zu weinen begann und auf die Frage von Peter Stein, was den los sei, sinngemäss antwortete: Ich kann das nicht. Ich kann nicht. Ich höre mir bei jedem Satz zu und es stimmt nichts. Ich höre meine alten, eingeübten Sätze und schaffe es nicht, neu und frisch die Sache zu denken. Ich komm da nicht raus. Es geht nicht. Es ist so schlecht.
Peter Stein setzte sich dann zu ihr und die beiden sprachen eine Weile, unhörbar für uns Zuschauenden.
Nichts war schlecht in unseren Augen, sie war fantastisch. Und ich lernte über Jutta, wie suchend sie in jedem Moment war, wie sehr einem authentischen, wahrhaften Moment verpflichtet und wie sehr sie an sich selber verzweifeln konnte, wenn sie nicht dahin durchzubrechen vermochte. Wie mir damals erzählt wurde, hat sich Jutta noch als etablierte und respektierte Darstellerin vor jeder Premiere vor Nervosität übergeben müssen. Ich mochte das nicht glauben, aber es fügte sich ins Bild dieser Ausnahmekünstlerin, wie ich sie damals erlebte. Eine Künstlerin im tiefsten Sinne des Wortes, immer ganz, immer hautnah im szenischen Vorgang, mit allem was sie aufzubieten hatte. Und mit einer Unfähigkeit, sich in die sichere, weniger bedrohliche Routine zu flüchten. Sich selbst die schärfste Kritikerin und immer und ganz im Schauspielprozess investiert. Kompromisslos.
Ich richtete mit den Assistenten in diesem Frühjahr auch die Probebühne für die neue Inszenierung von Klaus Michael Grüber ein, welche wenige Tage nach der Wiederaufnahme des Kirschgartens beginnen sollte. Amphytrion. Grüber war schon damals bekannt dafür, dass er nicht viel probte mit den Schauspielern. Und da wandelte an diesem Abend Jutta Lampe über die Probebühne und sah sich alles an. Eine Weile stand sie da, versonnen und meinte dann, in einer Mischung aus Stossseufzer und banger Erwartung: Zu wenig Zeit. Wir werden wieder viel zu wenig Zeit haben. Und es war nicht Galgenhumor, sondern die Bürde einer anstehenden Herausforderung, welche durchschimmerte. Eine Bürde, die sie alleine zu Schultern hatte und von der sie selber nicht im Vorhinein sagen konnte, ob sie es schaffen würde.
Sie hat soviel geschafft und immer war die Zeit zu kurz. Jutta prägte damals mein Bild von dem, was eine wahrhafte KünstlerIn, eine SchauspielerIn auszeichnet: Hingabe und Unbedingtheit. Ich trauere still.
Jutta Lampe: Dank
Lieber unbekannter Mario Portmann, von allem was in der vergangenen Woche über die wunderbare Jutta Lampe geschrieben worden ist, ist dies vielleicht das schönste. Vielen, vielen Dank unbekannterweise!
Jutta Lampe: aufs Schönste beglaubigt
Lieber Mario Portmann, ich kann mich meinem Vorredner nur anschließen. Vielen, herzlichen Dank für dieses wunderbare Portrait einer wunderbaren Schauspielerin!Meine Erinnerung an sie und die beiden, von Ihnen beschriebenen Arbeiten wurde aufs Schönste beglaubigt. Danke.
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