Die Rache aus dem Rachen

von Sabine Leucht

München / online, 7. Dezember 2020. Zuletzt schlingt Florian Jahr beide Hände um die Kamera und drückt sein bärtiges Gesicht an die Scheibe. Ja, das sieht aus wie ein Kuss, den der "Superspreader" allen Zuschauern der gleichnamigen Zoom-Performance direkt nach Hause schickt. Und das Glas wird blind vom Aerosol-Nebel, mit dem er den infektiösen Staffelstab weiterreicht: "Wenn ich der erste war, wirst du der letzte sein" raunt der Mann uns an, der gerade für die Dauer einer Stunde irgendwas zwischen Patient Null, the virus himself oder einfach durchgeknallt war. Wozu macht uns das dann? Zu Patienten Unendlich?

In letzter Zeit hat man Albert Ostermaier in Münchner Theatern vor allem als Zuschauer gesehen. Nun hat er an den finsteren monologischen Furor seiner frühen Stücke von "Radio Noir" bis zum auch schon zwanzig Jahre alten "Erreger" anknüpfend eine aktualisierte Variante aus dem Ärmel geschüttelt, die seinem Protagonisten eine virale Natur mitsamt einer Neurose anhängt.

American Erregung

Marcel, wie der sich von den in Bild und Ton zugeschalteten Zuschauern nennen lassen will, mit denen er erstaunlich vorsichtig zu interagieren versucht, scheint von Kind an an allem schuld gewesen zu sein: "Ich habe gar nichts getan und alles verbrochen". Ich, ich, ich! Das Gros seiner Sätze beginnt so. "Ich bin der Durchbruch", "ich bin deine Angst", "die Geisel der Menschheit", "ein Flammenwerfer", aber auch "ein notorischer Übertreiber" oder "ein Spieler". Und das alles, so will es der ziemlich vulgärpsychologisch zusammengeschusterte Sockel, auf dem Marcels Ego steht, weil seine Kindheit verkorkst war - durch Eltern, die ihn emotional und körperlich missbrauchten und Kinder, die ihn verhöhnten.

Superspreader1 560 Resenztheater uFlirrend-fiebrig: Florian Jahr in "Superspreader" © Residenztheater

Diese "Null", dieser "Minderleister" – hier lässt Florian Jahr einen spüren, wie dem Lyriker in Ostermaier jede Silbe der Vokabel auf der Zunge zergeht, die Turrini zur Bühnenberühmtheit machte – ist halb konkrete Figur, halb abstraktes Gespinst, eine chamäleonartige Chimäre, die wie das nie beim Namen genannte Coronavirus ihre Gestalt ändern und fremde Körper und Gedanken unterwandern kann. Das sind Profile, wie der Münchner Autor sie mag.

Vom Sandwichkind zum Clubsandwich

Mit ihnen und um sie herum kann er seine unbändige Assoziations- und Alliterationslust am langen Zügel führen, was sprachgewaltig mäandernde Exkurse hervorbringt, aber auch Selbst- und Systemanalysen, bei denen es einen schüttelt. So spricht der Superspreader etwa davon, dass seine Eltern ihn nur "lieben" konnten, wenn er zwischen ihnen lag und kombiniert sich vom "Sandwichkind" zum "Clubsandwich" voran. Als der skrupellose Unternehmensberater, der er dann wurde, kann er problemlos das Thema "Leerverkäufe“ mit der postpandemischen Leere auf den Straßen und diversen "Lehren" kreuzen.

Denn sein finsteres Wesen umfasst immer mindestens zweierlei: Teufel und Teufelsaustreiber, die Seuche und ihre systemische Ursache, Virus und Infizierter. Unter der Anstrengung, diesen Spagat zu halten, hört man den Text manchmal ächzen, und doch hat er eine unbestreitbare Wucht.

Superspreader3 560 Resenztheater uMit Killer-Instinkt in der Quarantäne-Dutzendabsteige in "Superspreader" © Residenztheater

Überhaupt muss man das Gewicht dieses Abends als Neben- und wohl auch Zufallsprodukt einer zum zweiten Mal ausgebremsten Spielzeit nicht auf die Goldwaage legen. "Superspreader“ ist ein aus der Hüfte geschossenes Theatererlebnis-Substitut, dem sich Regisseurin Nora Schlocker nach den Proben zu ihrer großen Schimmelpfennig-Uraufführung "Der Kreis um die Sonne" gewidmet hat, die am 14. November im Residenztheater herausgekommen wäre.

Nur wenige Tage hat der junge Schauspieler Florian Jahr gebraucht, um seinem "Superpreader" diese flirrende, fiebrige, hyperaktive Intensität zu verleihen, mit der er nun der einzigen Kamera in seiner Theatergarderobe zuleibe rückt. Dort sind wir auch deshalb erst zur Zweitvorstellung zu Gast, weil es dieser Tage oft so schnell geht mit den Neuzuwächsen auf den Spielplänen, mit denen man andererseits schon gar nicht mehr gerechnet hat.

Fieberkurven-Assoziationen

Ganz in lasche Beige-Braun-Töne ist Jahrs Garderobe gekleidet, was sie eher nach einer Dutzendabsteige für globale Handlungsreisende niederen Adels aussehen lässt und nicht recht passt zum zur Schau getragenen Killerinstinkt von einem, der weltweit kranke Unternehmen von ihrem menschlichen "Ausschlag“ befreit. Ja, der Abend ist auch ein Tanz zwischen den virusinduzierten "Fieberkurven" und denen des exponentiellen Wirtschaftswachstums. Und er hört immer da auf, ein Tanz zu sein, wenn der Kapitalismus überdeutlich als "die Krankheit" benannt wird.

Zwischen Filmzitaten und deutsch-englischen Managersprech-Salven bleibt inhaltlich aber immer noch genug Platz zu tanzen. Räumlich ist es zwischen Waschbecken, Bett und Spiegel eher eng, doch Schlockers behutsame Regie und Jahrs glimmende Blicke halten das Energielevel hoch und das Interesse an dieser wirren Type wach, die sich um die dänischen Nerze und die "Schlachtersklaven" in ihren "Drecksquartieren" sorgt, aber die Spaß- und Nähe-Suchenden an den Stränden dieser Welt in einem Schwung mit den eindeutigen Bösewichten vernichten will.

Im Moment nötig

Vielleicht – auch diese Möglichkeit lässt der Abend offen – hat den chronisch Nähebedürftigen in der Quarantäne, in der er sich offenkundig befindet, der Koller gepackt? Vielleicht hat sich die Allmachtphantasie nur vorübergehend auf dieses alles verschlingende Minderwertigkeitsgefühl gesetzt, das schon so manchen Amokläufer hervorgebracht hat? Neu ist, dass er als Waffe nur seinen Atem braucht, die Rache, wie Ostermaier schreibt, aus seinem Rachen. Die kommt live und in Farbe beim Publikum an. Während die Intensität der Darbietung zumindest an meinem Laptop leider etwas unter der zunehmenden Zeitverzögerung zwischen Bild- und Tonspur gelitten hat. Das ist schade, gehört aber zu diesem inhaltlich wie formal brandaktuellen Schnellschüssen dazu. Ihre Halbwertszeit wird beschränkt sein, im Moment aber kann man sie sehr gut brauchen. 

 

Superspreader
von Albert Ostermaier. Eine Aufführung auf Zoom
Regie: Nora Schlocker, Licht: Georgij Belaga, Dramaturgie: Constanze Kargl.
Mit: Florian Jahr.
Premiere 1. Dezember 2020
Dauer: 1 Stunde, keine Pause

www.residenztheater.de

Kommentare  
Superspreader, München: aufgerissenes Auge
Schwitzend steigert sich Florian Jahr in das Delirium des skrupellosen Unternehmens-Beraters Marcel. Albert Ostermeiers Botschaft ist klar: Die Gier und der Kapitalismus, wie wir ihn kennen, sind gefährliche Pandemie-Treiber. Bis auf die allzu küchenpsychologische Herleitung der Biographie des Unternehmensberaters aus seiner verkorksten Kindheit ist der Monolog eine spannende Auseinandersetzung mit der Aktualität.

Die von Resi-Hausregisseurin Nora Schlocker eingerichtete „Superspreader“-Inszenierung rückt erst in der Schluss-Szene den Zuschauer*innen zum ersten Mal auf die Pelle. Mit aufgerissenen Augen rückt er ganz nah an die Kamera heran und haucht einen Schwall Aerosole auf die Linse, bis sie beschlägt.

Ansonsten bleibt sie doch ein theatraler Monolog, der sich distanziert betrachten lässt. Die Interaktion mit dem Publikum und die Chancen des Digitaltheaters via Zoom nutzt der „Superspreader“ nicht, obwohl sich dies gerade bei dem intimen Rahmen von nur 15 Teilnehmer*innen anböte.

Florian Jahr zeigte sich beim Nachgespräch etwas enttäuscht, dass die Zuschauer*innen von sich aus keinen Versuch machten, in die Performance einzugreifen. Es gab aber von Regisseurin und Spieler keinerlei Signale, dass das erwünscht ist, oder Anreize, dies zu tun.

Komplette Kritik: https://daskulturblog.com/2020/12/07/superspreader-residenztheater-munchen-kritik/
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