Aus dem Nähkästchen der 68er

von Georg Kasch

Erlangen, 16. Oktober 2008. RAF? Hat hier mal wieder jemand die RAF gesehen? Das 68er-Gedenkjahr neigt sich dem Ende zu, und mit der Diskussion um den "Baader-Meinhof-Komplex" scheint endlich alles zerredet, was bei diesem Kapitel der deutschen Geschichte zerredet werden kann. Da erstaunt es, dass das Theater Erlangen mit seiner Uraufführung "Die Reise", einer Bühnenbearbeitung von Bernward Vespers autobiographischem Romanessay, einen Nachschlag austeilt.

Die Stimme ist bekannt: Das Buch, geschrieben von 1969 bis zu Vespers Selbstmord 1971 und 1977 posthum veröffentlicht, ist ein Monstrum aus Selbsterforschung, Vergangenheits- und Verlustbewältigung, Drogentrip und Nähkästchen-Geplauder aus dem frühen RAF-Kreis. Wie ein schwarzes Loch umkreist Vesper sein Verhältnis zum Vater Will, einem nationalsozialistischen Blut-und-Boden-Dichter; Appelle und Erinnerungen gelten der ehemaligen Verlobten Gudrun Ensslin, Mutter des Sohnes Felix. Auch Andreas Baader hat seinen Auftritt.

Kakophonie auf weißem Kunstfell

Es läge nahe, für eine Bühnenfassung des 700-Seiten-Fragments diese RAF-Anekdötchen aneinanderzureihen. Marc Pommerening widersteht der Versuchung. Mit seiner ausschließlich aus Romanzitaten bestehenden Kompilation trifft er die Kakophonie der Vorlage sehr genau.

Hier setzt auch Regisseur Eike Hannemann in der Garage, der Studiobühne des Theater Erlangen, an: Er hat Bernward Vesper mit drei Schauspielern besetzt. Zu Beginn hocken sie am Ende der schrägen, mit weißem Kunstfell bedeckten Bühnenrampe hinter ihren mechanischen Schreibmaschinen. Peter Neutzling tritt im blauen Anzug auf die Fläche, setzt sich mit einem Aufnahmegerät auf die hölzerne, dreieckige Burg (das niedersächsische Gut in Triangel bei Gifhorn, auf dem Vesper aufwuchs) und schweigt. Scheint sich zu konzentrieren. Blickt Zustimmung heischend nach hinten, zu den anderen, die nicken. Schweigt weiter. Einer der beiden hinteren Vespers ruft: "Repeat". Neutzling spult zurück, spielt ab: Rauschen.

Schreiben als Stuhlgang

Es sind Details wie diese, die für den suchenden, kreisenden, auch rasenden Stil Vespers Bilder finden. Mit welcher Lust der Neutzling-Vesper den Schreibprozess mit einem Stuhlgang vergleicht, ausführlich beschreibt und mit den Händen illustriert! An der Tafel-Rückwand prangt mit Kreide bald Vespers Lebensformel: "Energie = Erfahrung mal Hass hoch 2". Als Martin Molitor und Daniel Wagner aktiv ins Spiel eingreifen, ergibt sich ein polyphones Stimmengewirr. Im Drogenrausch tanzt Wagner verzückt über die Bühne, während Neutzling mit großen, verschreckten Augen auf seine Hände blickt. Gemeinsam orgeln sie zu "Riders on the Storm" der Doors eine Schreibmaschinen-Sinfonie. Und zur Anti-Schah-Demo trommeln Fäuste einen Morse-Rhythmus in die Luft.

Dann wieder sind Neutzling und Wagner kleine Bernwards, die an der Rampe zur wabernden Romantikklangkulisse beten (mit dem Zusatz: "... und mach, dass Rudolf Heß wieder freikommt"), während Molitor als Vater den Fellteppich abschreitet und Absurditäten über den deutschen Arbeiter von sich gibt, der keine Kolchose will, "sondern seinen Blumentopf hinterm Fenster", und über die Katzen, eine fremde, unberechenbare Rasse, "die Juden unter den Tieren". Da kippt der Horror zuverlässig in "Great Dictator"-Komik.

Knallharter Analytiker und weinerlicher Selbstzerfleischer

Sicher, auch Ensslin und Baader bekommen ihre Erzähl-Auftritte. Aber sie sind verhältnismäßig so knapp bemessen wie die im Buch. Der RAF-Striptease fällt aus. Stattdessen schwätzen die drei Vespers rauchend über Imperialismus, faschistische Minderheiten und den revolutionären Internationalismus. Und essen, 11 Uhr, Villenviertel von Berlin, einen Knoppers.

So entsteht in atmosphärisch dichten, moralinfreien eineinhalb Stunden eine Ahnung davon, wie das damals gewesen sein könnte, zwischen Joints und The Doors, Nazi-Eltern und Selbstbehauptungsversuchen, Hippies und einer sich radikalisierenden Linken, LSD-Trips und Vaterschaft. Für Vespers kaputt-geniales Gebrabbel findet Regisseur Hannemann einen coolen Ton, der uns die gespaltene Bühnenperson nahe bringt, ohne sie zu verklären. Vesper bleibt komplex und sperrig, selbstmitleidig und anstrengend, ein knallharter Analytiker und weinerlicher Selbstzerfleischer. Die RAF hat man in Erlangen nicht gesehen. Aber einen Abend, der wieder Lust macht auf die Auseinandersetzung mit einer Generation, von der man dachte, sie sei längst tot diskutiert.

 


Die Reise
von Bernward Vesper (UA)
Textfassung von Marc Pommerening
Regie: Eike Hannemann, Bühne: Birgit Stoessel. Mit: Martin Molitor, Peter Neutzling, Daniel Wagner.

www.theater-erlangen.de

 

Mehr Inszenierungen zum Thema Achtundsechzig? Da wären zum Beispiel Barbara Webers Hair Story in Zürich, Daniel Wahls Die Träumer in Hamburg oder Alvis Hermanis' verspielter Simon&Garfunkel-Abend Sound of Silence.

 

Kritikenrundschau

 

"Er hatte einen berühmten und unbelehrbaren Nazi als Vater, lernte Gudrun Ensslin lieben und kam überhaupt der ganzen radikalen Szene um sie zu herum gefährlich nahe, hatte keine Angst vor LSD und ... hämmerte in die Schreimaschine pedantisch und ausufernd die Höhenflüge und Abstürze eines kurzen, einunddreißigjährigen Daseins", schreibt Bernd Noack in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung (19.10.) über Bernward Veper. In der eingedampften Form von "Reise", sechshundert Seiten in neunzig Minuten, zeige sich ernüchternd eines: "Nach eineinhalb Stunden ist die ganze wilde Geschichte tatsächlich erschöpfend erzählt. Und Vespers Sprache...geht einem schon nach den ersten Szenen ziemlich auf die Nerven." Regisseur Eike Hannemann hole Bernward gleich dreifach auf der Bühne. Man sehe einen "handlungsarmen Seelen- und Erinnerungsausflug in mühsam zusammengesuchten Bildern, die sich wie im Comic-Strip aneinanderreihen". An die Bühnenwand schreibt einer der Vespers "Baader = Kaka". "Was ja auch irgendwie stimmt und allemal griffiger ist als die ganze endlose RAF-Komplex-Diskussion. Für diese Erkenntnis aber bräuchte es doch eigentlich weder sechshundert Seiten Buch noch neunzig Minuten Theater."


Stefan Mössler-Rademacher schreibt in den Nürnberger Nachrichten (19.10.), dass Marc Pommerening aus dem Roman "eine mehr als schwierige Vater-Sohn-Beziehung in der Nachkriegszeit, eine nie überwundene Liebe zu einer Frau und die verzweifelte Suche nach dem wahrhaftigen Sinn des Lebens" herausgearbeitet habe. "Die Rotstiftorgie" sei bei diesem umfangreichen Buch "relativ problemlos". Die "distanzierte Erlanger Version" in der Regie von Eike Hannemann "über die Transformation von Teilen der 68er-Bewegung in den radikalen Widerstand gegen den Staat" sei eine Wohltat. Mal herrsche Ironie, dann wieder mit große Ernsthaftigkeit auf der Bühne. "Diese Unentschlossenheit ändert aber nichts an einem positiven Gesamteindruck. Belanglos ist hier immerhin nichts."

 

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