Schneeflöckchen, kein Röckchen

von Elena Philipp

Berlin/Online, 12. Dezember 2020. Fabulös die pralle Flora, die Taylor Mac auf dem Kopf balanciert! Ein Arcimboldo-Gemälde imitieren die Äpfel, Birnen, Kürbisse, Trauben, Rosen, die Bühnen- und Kostümbildner*in Machine Dazzle wie eine, nun: Corona um judys Kopf gelegt hat. Judy lautet Taylor Macs bevorzugtes Genderpronomen – non-binär und eine Reverenz an Judy Garland –, und judy führt als Host durch die feiertägliche Extravanganza, die judy auch sonst zur Festtagszeit Fans, Friends und Family beschert. In diesem Jahr nicht live on stage, sondern, in einem international koordinierten Event, auf den Webseiten aller koproduzierenden Institutionen als Live-Stream on screen. Um etwas Licht zu senden in den dunklen Tagen des Lockdown, und um die Community von Drag-Performer*innen, von Musiker*innen und Techniker*innen, denen im Jahr 2020 die meisten Auftritte abgesagt wurden, in eben dieses Licht zu stellen.

Mother Mary kann ein Mann sein

Zusammenhalt in düsteren Zeiten: Gewidmet ist "Holiday Sauce… Pandemic!" der verstorbenen Drag-Mother von Taylor Mac, Mother Flawless Sabrina, die auch den Titel inspiriert hat: "You’re the boss, applesauce" Du bestimmst über das Narrativ Deines eigenen Lebens, habe sie ihren Kindern eingeschärft, wie Taylor Mac in seinem sehr persönlichen Intro erzählt. Weil das Private aber immer auch politisch ist, spiegelt judys Bericht zugleich eine queere Alltagserfahrung – in der eigenen Herkunftsfamilie diskriminiert zu werden. Und wann spitzte sich diese Erfahrung mehr zu als an Weihnachten? Also her mit den ermächtigenden Gegenerzählungen! Mother Mary, so lautet Taylor Macs Version der Weihnachtsgeschichte, ist nicht (nur) jungfräulich, sondern auch eine Prostituierte oder eine schwangere Teenaegerin – "und meine Mutter Mary ist ein Mann". Jawohl!

HolidaySauce TaylorMac 2 560 courtesyPomegranateArts u"You're the boss, applesauce": Taylor Mac auf der Bühne © courtesy Pomegranate Arts

Angekündigt als virtuelles Vaudeville, versammelt "Holiday Sauce… Pandemic!" vorproduzierte Gigs, live moderiert von Taylor Mac aus dem New Yorker Theater Mitu, welches im Zuge der Pandemie zu einem Broadcast Studio für die Darstellenden Künste umgerüstet wurde. Die Show wiederum wurde aufgezeichnet in der Park Avenue Armory, einem weiteren Veranstaltungsort, der sich in der von Covid-19 gebeutelten Metropole den neuen Produktionsbedingungen anzupassen versucht.

Holy hole

Mit einem traditionellen Weihnachtssong startet Taylor Mac das knapp einstündige Programm. Immer wieder unterbricht judy "O Holy Night", um den Text zu kommentieren: das Wort "holy" stört, aber da das Heilige nun mal im Text steht, aktiviert judy "substitution skills" und gibt dem Wort einfach einen Twist ins Sexuelle – klingt es nicht nach "hole"? Wenn die Engel singen, hört Taylor Mac auch die "fairies", und "divine" ergänzt judy um "fabulous", weil das einer queeren Community besser entspricht.

HolidaySauce TaylorMac 1 560 courtesyPomegranateArts uSelbst früher war nicht mehr Lametta © courtesy Pomegranate Arts

Optisch hat die Show einen Touch von Fernsehstudio – bis Thornetta Davis ("Detroit’s Queen of the Blues") "O Holy Night" mit vollem Stimmvolumen noch einmal interpretiert und die Drag-Queens in einem campy Zoom-Zusammenschnitt ihren Auftritt feiern: Dust Tea Shoulders gibt vor den schneeigen Tannen einer Schaufensterauslage die Mrs. Claus; sidhe degreene ähnelt als "Baby Jesus" einer non-binären Hindu-Gottheit; und James Tigger! Ferguson tänzelt im eigenen Wohnzimmer den Engel, mit Flügeln, Glöckchen am Nippel und lediglich einer Schleife bekleidet. "You’re the boss, applesauce!" Definitiv.

Graue Weihnachten mit der Nicht-Wahlfamilie

Weihnachten mit den "queery peers" seiner Wahlfamilie, dem Gefühl von Zusammenhalt und enger Gemeinschaft außerhalb biologischer Zusammenhänge, stellt Taylor Mac die unerfreulichen bis traumatischen Festtagserfahrungen mit den eigenen (Stief-)Großeltern gegenüber. Von Streitereien bei der Autofahrt, dem betrunkenen, waffenversessenen Großvater und dem Ausschluss aus der Familie, die von Macs Homosexualität erfährt und sofort eine AIDS-Ansteckung befürchtet, ist in judys eigenem Song "Christmas With Grandma" zu hören. Die bunt-poppigen Animationen von Dana Lynn, die Mac und die Verwandten als Christbaumkugeln mit Gesichtern zeichnet, verniedlichen die tristen Schilderungen gerade so weit, um die Showstimmung zu bewahren.

HolidaySauce TaylorMac 4 560 courtesyPomegranateArts uTraumatische Festtagserfahrungen, aber gute Showstimmung © courtesy Pomegranate Arts

Auf weitgehend hohem Level verbleibt die Stimmung auch während der After-Show-Party mit Olympia Bukkakis und Cheryl Offoffoff-Broadway, die mit Berlins queerer Performanceszene ein Zoom-Meeting als Show nach der Show kuratiert haben. Bridge Markland interpretiert Anita Berber, Mahide Lein, die zu Taylor Macs zuvor als "Queen 2020" ausgezeichneten lokalen Persönlichkeiten zählt, singt "Ganz Berlin träumt von der Liebe", und Lola Rose erinnert mit einer Minstrel-Re-Appropriation an #BlackLivesMatter. In all ihren Unterschieden werden sie umarmt – und auch wenn  sich nach einer Weile vor dem Screen die Partymüdigkeit einstellt, vermitteln "Holiday Sauce… Pandemic!" und die After-Show-Party, warum die Jury des Ibsen Award Taylor Mac auszeichnet: weil judy auf Theater als Ort gemeinsamer Erfahrung und gesellschaftlicher Transformation setzt. Fabulous.

Holiday Sauce… Pandemic!
von und mit Taylor Mac
Musik & Arrangement: Matt Ray, Bühne und Kostüme: Machine Dazzle, Make Up Design: Anastasia Durasova, Produktionsleitung: Jeremy Lydic, Produktion: Pomegranate Arts, Linda Brumbach, Alisa E. Regas.
The Holiday Sauce Band: Taylor Mac (Lead Vocals, Ukulele), Steffanie Christi’an und Thornetta Davis (Vocals), Matt Ray (Piano, Fender Rhodes Electric Piano, Glockenspiel, Bells, Background Vocals), Bernice “Boom Boom” Brooks (Schlagzeug), Viva Deconcini (E-Gitarre), Antoine Drye und Greg Glassman (Trompete), J. Walter Hawkes (Posaune), Marika Hughes (Cello), Dana Lyn (Violine), Gary Wang (Bass).
Online-Premiere am 12. Dezember 2020; "on demand" zu sehen bis 2. Januar 2021
Dauer: 1 Stunde 5 Minuten, keine Pause

www.berlinerfestspiele.de

 

 

Kritikenrundschau

"Weihnachts-Pomp mit bittersüßer Herzensschwere" sah Fabian Wallmeier von rbb Kultur (13.12.2020). Der "Wohnzimmer-Stream" allerdings könne das ganzkörperliche, immersive Gemeinschaftserlebnis nicht ersetzen, das Macs "stolze queere Gegenerzählung" "A 24-Decade History of Popular Music" gewesen sei. Diesen 2019 an den Berliner Festspielen gezeigten Ritt durch die US-Geschichte anhand von Songs erinnert Wallmeier als "eines der größten Theater-Ereignisse des Jahres“: "Das Publikum ging buchstäblich auf in der Performance - eingebunden in Mitmach-Aktionen: Menschen bewarfen sich mit Tischtennisbällen, tanzten, lagen sich in den Armen."

Taylor Macs "einstündige ingwerscharfe, honigsüße, queere englischsprachige Standup-Comedy", garniert "mit einer Handvoll selbst gebackener Weihnachtslieder", weise darauf hin, wie schwierig das Jahr 2020 für marginalisierte Gruppen gewesen sei, so Stefan Hochgesand in der taz (17.12.2020): "Für viele Queers heißt die Schließung ihrer Bar oder ihres Clubs vielleicht, gar keinen Ort mehr zu kennen (außerhalb der eigenen vier Wände), der sich sicher anfühlt, um mit dem oder der Liebsten Händchen zu halten, ohne Gewalt zu erfahren, mit Worten oder Fäusten." Geschaffen habe Taylor Mac einen solchen Ort etwa mit seiner Show "A 24-Decade History of Popular Music". Hochgesands Empfehlung für die Queers, die Mac zufolge (statistisch gesehen) bei einem Familienweihnachten allein auf weiter Flur sein werden: "Falls beim Weihnachtsfest jemand queerfeindlich-doof kommen sollte, hilft am besten: Taylor Mac anschalten. Das wird sicher ein Spaß!"

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