Bitte nicht Corona sagen!

30. Januar 2020. Keine Frage, 2020 wird als Corona-Jahr in die Annalen eingehen. Das Jahr, in dem die Theater dicht machten wie ehedem zu Pestzeiten bei Shakespeare, als lokale wie internationale Festivals der Reihe nach abgesagt wurden (bis einige Sommer-Events mit reduziertem Platzangebot auftraten), als Worte wie "Lockdown" oder "Social Distancing" in den täglichen Sprachgebrauch rückten, als man anfing von "analogem" Theater zu sprechen, wenn man die Kunst in Schauspielhäusern meinte. Aber was mehr hatte das Jahr 2020 zu bieten?

 

Januar

Am Beginn dieses Gewohnheiten stürzenden Jahres ist es noch das Theater, das zu schockieren vermag. Die erste Nachtkritik 2020 kommt aus Gent, wo Milo Rau in "Familie" die letzten Stunden im Leben der französischen Familie Demeester nachstellt, die sich 2007 gemeinsam das Leben nahm. Kurz darauf bringt Falk Richter seinen Toxic-Masculinity-Abend "In My Room" am Berliner Gorki Theater heraus und wird als Hausregisseur im Team Mundel an die Münchner Kammerspielen berufen. Für Furor unter den Kommentator*innen sorgt Martin Krumbholz' Verriss der Oberhausener "Peer Gynt"-Variante, der mit dem Ausruf "Nein! Bitte nicht!" beginnt.

beParkett 1200 David Baltzer bildbuehne de uEine ikonische Ansicht dieses besonderen Theaterjahres: die coronaschutztauglich ausgedünnten Sitzreihen zum Saisonstart 2020/2021 im Berliner Ensemble © David Baltzer / bildbuehne.de

Nicht auf nachtkritik, aber (sozial)medial verrissen wird Schaubühnen-Frontspieler Lars Eidinger für seinen 550 Euro teuren Ledertaschenentwurf im Aldi-Plastiktüten-Style, für deren Bewerbung er obdachlosen-like posiert. Ebenfalls nicht so gut kam der überraschende Rücktritt des Duos Johannes Öhman und Sasha Waltz von der Spitze des Berliner Staatsballetts an – nach kaum zwei Jahren Amtszeit. Das ist für die Hauptstadt das "Scheitern eines weiteren kulturellen Großprojekts" und "die zweite spektakulär geplatzte Berufung des ehemaligen Kulturstaatssekretärs Tim Renner", wie Elena Philipp kommentiert.

Kurz vor Verkündung des Zehner-Tableaus für das Berliner Theatertreffen werden allerorten last minute noch Hochkaräter auf die Bretter gezimmert, aber weder Beier noch Breth noch Castorf noch Kennedy noch Rasche schaffen es diesmal in die Auswahl – die am Ende die neu eingeführte Frauenquote mit einem Anteil von 6:4 sogar übererfüllt und entsprechend heftig diskutiert wird.

 

Februar

In Frankfurt entscheidet sich das Stadtparlament für einen Abriss der nachkriegsmodernen "Doppelanlage" von Oper und Schauspiel (was zum großen Zankapfel am Main wird und Denkmalschützer auf den Plan ruft). Die Anlage war "ein städtebaulicher Glücksfall", schreibt Falk Schreiber in seinem Essay über Kulturimmobilien, die Stadträume prägen.

schauspielhausFFM 280 BirgitHupfeld uDie Frankfurter "Doppelanlage" © Birgit Hupfeld In Berlin stirbt Schauspieler Volker Spengler, der als Tänzer bei Pina Bausch wirkte und bis zuletzt einer der Vorzeigeköpfe der Berliner Volksbühne war. Später im Mai trauern wir auch um die große Irm Hermann, die Spenglers Weggefährtin in Filmen von Fassbinder und Schlingensief war und zuletzt 2016 bei Christoph Marthaler in Berlin und Hamburg auf den Brettern stand.

Unter dem kommenden Intendanten René Pollesch will sich die Volksbühne als Autorentheater (oder Regieautorentheater?) aufstellen. Wenige Kilometer Luftlinie entfernt schwächelt das Berliner Ensemble mit seinem aktuellen Autorenprogramm, wie Sophie Diesselhorst, Janis El-Bira und Georg Kasch in einem großen Recherche-Text nachzeichnen.

Vor welchen ökologischen Fragen das künftige Theater steht, erörtern die Dramaturg*innen Lynn Takeo Musiol und Christian Tschirner in ihrer große Klimakrisen-Reihe "Inside Endzeit" (alle Texte in unserem Klima-Dossier).

 

März

Es ist einiges los im März: Das Berliner Theatertreffen nominiert für seinen Stückemarkt nur Werke aus dem angloamerikanischen Raum; Jo Fabian verabschiedet sich aus Cottbus mit einem denkwürdigen "Antifaust", im Theaterpodcast diskutiert man Nacktheit auf den Bühnen. Aber im Rückblick wird man sagen, es gibt nur ein Thema: den ersten Lockdown der Schauspielhäuser. Mit dem Einbruch der Pandemie stoppt der Spielbetrieb, erst auf, dann auch hinter den Bühnen. Um den Theatern weiterhin Sichtbarkeit zu garantieren, eröffnen wir am 11. März 2020 den nachtkritikstream mit einer Produktion des Vorarlberger Landestheaters in Bregenz ("Antoinette Capet" in der Regie von Niklas Ritter), die in diesen Tagen eigentlich Dernière gehabt hätte. Am Ende des Jahres wird der nachtkritikstream an die zweihundert Produktionen gehostet haben, Mitschnitte von Inszenierungen ebenso wie Livestreams, Filme, originäre Netztheaterproduktionen.

trommeln in der nacht1 560 Julian Baumann uIm Lockdown der Schauspielhäuser werden die Websites zu Spielstätten: die Digital Concert Hall der Berliner Philharmoniker © Screenshot

Bei Christopher Rüpings Brecht-Abend "Trommeln in der Nacht" gibt es am 22. März 2020 den ersten Live-Chat parallel zur Ausstrahlung der Inszenierung, "ein performatives Close-Reading, Analysen im Schnellzeichner, sehr konkret an Szenen und Momenten der Inszenierung angepinnt", wie Christian Rakow in einem Text zum Theater-Streaming schreibt.

Um die ästhetische Qualität und Relevanz von Streamings, die nicht nur auf nachtkritik.de sondern bald auch den auf Websites vieler Theater einsetzen, gibt es eine heftige Debatte. "Jetzt werden häufig unausgegorene digitale Tools eingesetzt, um Angebote für das Netz zu produzieren, um die, zugespitzt gesagt, niemand gebeten hat", schreibt etwa Katja Grawinkel-Claassen, Dramaturgin am Forum Freies Theater Düsseldorf, in ihrem Positionstext zum Netztheater. Rainer Glaap präsentiert erste Zahlen aus Befragungen zum Streaming; Ex-Bühnenvereinsgeschäftsführer Rolf Bolwin erläutert Rechtefragen, die sich bei der Online-Verwertung von Theater-Mitschnitten stellen.

Wie es den Häusern abseits der Onlinebespielung geht, beschreibt unser Streifzug durch die stillgelegte deutschsprachige Theaterlandschaft.

 

April

Viele Theater nähen Gesichtsmasken, erste Bühnen eröffnen Drive-in Theater im Stile von Autokinos. Albert Camus' "Die Pest" und Boccaccios "Il Decamerone" sind die Lockdown-Hits der Stunde, werden an diversen Häusern in Lesungen oder Kleinst-Inszenierungen aufgeführt. Ohne Publikum aber scheint es "so manchem Schauspieler das Schauspiel zu verschlagen, und er verwandelt sich zurück in einen Grundschüler, der brav die Stimme absenkt, sobald sich der Punkt am Satz Ende nähert. Manche Schauspielerin wird zur Klassenbesten, die aufgeregt einen Satz an den nächsten heftet, um als erste fertig zu werden mit dem Text", schreibt Karin E. Yeşilada in ihrer Begutachtung der Erzeugnisse.

Hygiene Demo Volksbuehne 560 DavidBaltzer uBerlins Volksbühne wird zum Schauplatz von Demonstrationen der Coronamaßnahmen-Gegner und setzt sich zur Wehr © David Baltzer / bildbuehne.de

Auch Frank Castorf fühlt sich in die Rolle eines Schülers zurückversetzt, wogegen er im Spiegel-Interview poltert: "Ich möchte mir von Frau Merkel nicht mit einem weinerlichen Gesicht sagen lassen, dass ich mir die Hände waschen muss. Das beleidigt meine bürgerliche Erziehung." Vor Castorfs altem Haus, der Berliner Volksbühne am Rosa-Luxemburg-Platz, formieren sich derweil die Coronamaßnahmen-Gegner zu "Hygiene-Demos", was die Volksbühne von Interimsintendant Klaus Dörr mit der Botschaft "Wir sind nicht Eure Kulisse!" beantwortet.

Derweil will der Deutsche Bühnenverein in seiner Lobbyarbeit nicht mehr brav hinter Playern wie der Bundesliga zurückstehen und erwägt, künftig fordernder aufzutreten (Ulrich Khuon: "Wenn man jetzt so nach Wochen der Disziplin und des Gehorsams, ... spürt, dass, wer nicht schreit, nicht vorkommt, dann denkt man: Schade, dass das Vertrauen, das man im Grunde in die Partner hatte, nicht so beantwortet wird. Also im Grunde muss man dann doch schreien.")

 

Mai

Das abgesagte Berliner Theatertreffen findet in abgespeckter Form im Internet statt. Immerhin sechs der insgesamt zehn Inszenierungen können als Aufzeichnungen per Stream zur Verfügung gestellt werden: auf der Seite der Berliner Festspiele und im nachtkritikstream. Begleitet von Live-Chats, Künstler*innengesprächen und Diskursveranstaltungen kommt vor dem heimischen Rechner fast eine Art Festivalstimmung auf.

Chinchilla 3 560 robert schittko uEingeladen zum Theatertreffen: "Chinchilla Arschloch, waswas" von Rimini Protokoll © Robert Schittko

Nach sechs Wochen Lockdown gibt es Mitte Mai dann erste Anzeichen, dass Theater noch vor dem Sommer wieder öffnen könnten. Die Ruhrtriennale wird gleichwohl abgesagt, nachdem es Streit um den Philosophen Achille Mbembe als Eröffnungsredner gab. Ruhrtriennale-Intendantin Stefanie Carp verteidigt die Mbembe-Einladung auf nachtkritik.de.

Die Salzburger Festspiele hingegen sollen stattfinden. Verkleinert, aber immerhin analog. Doch was für Theater kann überhaupt live gespielt, wie soll eigentlich geprobt werden? An vielen Theatern übernehmen neuartige Regieassistent*innen das Regiment: Mitarbeiter*innen vom Gesundheitsamt, Betriebsärzte und Sicherheitsingenieur*innen, wie Harald Raab in einem Report über die Vorbereitungen zur Wiederaufnahme des Spielbetriebs schreibt. In den Zuschauerräumen werden die Sitzreihen massiv ausgedünnt, um die Vorgaben zu erfüllen. Kein Problem für das Burgtheater, das unter dem Titel #Vorstellungsänderung einen imaginären Theaterabend auf Twitter veranstaltet. In München stellt die designierte Kammerspiele-Intendantin Barbara Mundel per Zoom das Programm ihrer Auftaktspielzeit 2020/21 vor.

 

Juni

Im Juni kann die nachtkritik-Redaktion tatsächlich wieder einen Plan erstellen, welche Premieren im Juli besprochen werden sollen. Zwar ist die Auswahl noch karg, und viele Formate bestechen nicht gerade durch Wagemut. Doch da ist er wieder, der Zauber des Live-Moments, den beispielsweise Navid Kermani im Theater Siegen am eigenen Leibe erfahren darf.

Foyer Leipzig chr uZugang nur noch online: das Foyer des Schauspiels Leipzig in Philipp Preuss' Kafka-Stück "k." Screenshot: chrIn ihrer Kolumne fragt sich Esther Slevogt dennoch beklommen: Was und vor allem wie schreibt man denn jetzt über Inszenierungen, deren ästhetische Entscheidungen auf Hygieneregeln beruhen? Wie können künstlerische Arbeiten überhaupt bewertet und eingeordnet werden, die nicht frei in der Wahl der Mittel sind? Problemlos wie lustvoll ist es dagegen, die digitalen Formate der Krise zu reflektieren, was Sophie Diesselhorst in einem großen Überblickstext über Theaterformate, die mit Videokonferenztools wie Zoom experimentierten, tut, um nach ihrem Ausflug in die Zoomwelt schließlich zu dem Ergebnis zu kommen, dass die Kunst auch online lebendig ist.

Die analogen Theatererfahrungen sind teilweise verstörend. In Bochum etwa beginnt Johan Simons seine Canetti-Inszenierung "Die Befristeten" mit einem Technik-Ballett: "Je länger man ihr zusieht, desto greifbarer wird eine Vision einer Welt ohne Menschen", schreibt Nachtkritiker Sascha Westphal. Vor welche Probleme die Corona-Schutzverordnungen die Schauspielschulen stellen, schildern Sophie Diesselhorst, Elena Philipp und Christian Rakow. Die traurigste Nachricht des Monats: Der Schauspieler Jürgen Holtz stirbt wenige Wochen vor seinem 88. Geburtstag.

 

Juli

Kurz vor den Sommerferien stellen wir im nachtkritikstream ein Netztheater-Special mit herausragenden Produktionen der Lockdown-Monate zusammen. "Wenn uns nicht alles täuscht, wird der Frühling unseres Missvergnügens die Morgenröte der Digitalen Sparte sein", schreiben wir im Editorial zum Special, und Christian Rakow kartographiert in einem Überblickstext das Feld neuerer Netztheaterformate.

Erstaunlich frisch, fast als sei er auf die heutige Pandemie-Lage bezogen, liest sich ein Text von Kritikerlegende Alfred Kerr über eine Theaterschließung von 1901, den wir exklusiv neu abdrucken.

In Karlsruhe brauen sich Gewitterwolken über Peter Spuhler zusammen. Zahlreiche Mitarbeiter*innen des Hauses erheben Machtmissbrauchsvorwürfe gegen den erst unlängst verlängerten Generalintendanten und Teile seines Teams. Wir sprechen mit Schauspielchefin Anna Bergmann im Interview über die Lage am Haus. Später im November kommt das Aus für Spuhler.

Toshiki Okada bespielt das Münchner Olympiastadion: u.a. mit Gro Swantje Kolhoff © Julian Baumann

An den Münchner Kammerspielen endet mit Toshiki Okadas "Opening Ceremony" im alten Olympiastadion die kurze, aber zunehmend eindrucksvolle Ära von Intendant Matthias Lilienthal: Auf den letzten Metern heimste das Haus gleich zwei Mal den Titel "Theater des Jahres" ein.

Mit Peter Maertens stirbt ein weiter Großer, der über sechzig Jahre hinweg und bis zuletzt am Thalia Theater Hamburg aktiv war. Zu einem überraschenden Lese-Hit entwickelt sich Harald Raabs Recherchetext über Aerosole in Theaterräumen – Corona macht's möglich.

 

August

Der August, normalerweise tiefstes Theater-Sommerloch, ist im Corona-Jahr so etwas wie der Monat der leisen Hoffnungen oder zumindest des lauten Wunschdenkens. Es ist warm, die Menschen verteilen ihre Aerosole vor allem im Freien und die Fallzahlen dümpeln im vergessenmachenden Bereich. Von den großen Salzburger Festspielen kommen zum 100jährigen Jubiläum vermeintlich ermutigende Signale für die ganze Branche: Mit einem nies- und hustfesten Hygienekonzept lässt sich auch ein Riesenfestival samt vollbesetzter Orchestergräben infektionssicher über die Bühne bringen. Ein Musterbeispiel, ein Modell für die pandemische Zukunft? Denkste. Der Salzburger Triumph währt nur einen kurzen Sommer lang.

Trotzdem heißt es für viele Theater wegen der verkürzten Spielzeit 2019/2020 schon im August: Back to work. Es gilt, Sitzreihen aus- und neue Belüftungssysteme einzubauen. Geprobt wird auch – für Vorstellungen, die nur von wenigen Glücklichen besucht werden können.

Deutsches Museum Schwarze Unterhatlung 1 560 c Justus GelbergPorträts Schwarzer Stars im "Deutschen Museum für Schwarze Unterhaltung und Black Music" © Justus Gelbe

Aufsehenerregendes ereignet sich dagegen eher auf den theatralen Nebenschauplätzen: Das PENG!Kollektiv etwa entlarvt mit seinem Klingelstreich beim Kapitalismus das wenig gemeinwohlsinnige Geschäftsgebaren deutscher Unternehmen. Und am Mousonturm in Frankfurt entdecken Anta Helena Recke und Kolleg*innen mit ihrem Deutschen Museum für Schwarze Unterhaltung und Black Music die oft vergessenen Geschichten hinter Schwarzen Künstler*innen in der deutschen Pop-Kultur.

Abschied nehmen müssen wir vom großen Schweizer Theatermacher Werner Düggelin. Und wir dürfen an einen viel Vermissten denken: Zum zehnten Mal jährte sich am 21. August der Todestag von Christoph Schlingensief, an den im Sommer zahlreiche Veranstaltungen und Filme erinnern. Er war allzeit krisenfest und fehlt uns unverändert.

 

September

Im September nimmt die neue Spielzeit Fahrt auf, allerdings weiterhin nur für die happy few, die Karten in den radikal dezimierten Zuschauerreihen ergattern können. Auch lang erwartete Highlights wie Karin Beiers Uraufführung des neuen Stücks von Rainald Goetz spielen vor ausgedünnten Auditorien. Über den Goetz berichtet Nachtkritiker Falk Schreiber aus dem Deutschen Schauspielhaus Hamburg: "Das 'Reich des Todes' sind nicht die politischen Intrigen, in denen Krieg ein gutes Geschäft ist und Demokratie ein zu eliminierender Störfaktor. Es sind auch nicht die historischen Verbrechen im Folterknast. Es ist das Unaussprechliche in uns allen."

FreeSZFEDie besetzte Film- und Theaterkunsthochschule SZFE in Budapest © Máté Fuchs

Für Diskussionen sorgt Kevin Rittbergers Text "Schwarzer Block", den Sebastian Nübling am Maxim Gorki Theater Berlin inszeniert. Wie viel Nähe zum politischen (Links-)Extremismus verträgt ein Theaterstück? Vor dem Berliner Ensemble findet indes eine Kundgebung statt, in Solidarität mit den Studierenden und Mitarbeiter*innen des Budapester Theaterinstituts SZFE, dessen Autonomie von Viktor Orbáns Regierung bedroht wird. Die deutschsprachige Theaterwelt nimmt Abschied von Schauspieler Michael Gwisdek (einer Bühnenlegende der DDR und Filmstar vor wie nach der Wende), die internationale von der beispielgebenden Kuratorin und Festivalleiterin unser Tage: Frie Leysen.

 

Oktober

Die deutsch-deutsche Wiedervereinigung jährt sich in diesem Oktober zum dreißigsten Mal. In einer großen Textreihe spiegeln Theatermacher*innen in Ost und West ihre Erfahrungen mit Wende und Einheit. "Der Osten war Heimat mit seinen Theatern", schreibt Regisseur Atif Husseins am Ende der Serie: "Berlin ist immer noch Heimat. Deutschland – eins? uneins? zerrissen? geeint? – ist es nicht. Mit seinen Theatern? Vielleicht. Irgendwann." Georg Kasch, der die Reihe kuratierte, nennt wichtige Produktionen zum Einheitsjubiläum und resümiert: "Wäre schön, wenn die Theater am Trauma Wiedervereinigung dranblieben, aber dabei auch von denjenigen erzählen würden, deren Geschichten viel zu selten gehört werden."

Geister der Vergangenheit: "Umkämpfte Zone" in Cottbus © Marlies Kroos

Im nachtkritikstream bei "Prometheus Unbound" von den CyberRäubern in Darmstadt kann man derweil eine Vorahnung davon kriegen, wie die text-intelligente Maschine GPT-2 künftig die schreibende Zunft obsolet machen kann. Die auf VR-Arbeiten spezialisierten CyberRäuber starteten einst bei der Konferenz "Theater und Netz" durch. In diesem Jahr fiel diese Konferenz von nachtkritik.de und der Heinrich Böll Stiftung im Mai coronabedingt aus. Dafür kommt im Oktober der gemeinsame Netztheater-Band heraus.

 

November

Der zweite Shutdown ist da: Die Theater in Deutschland und Österreich müssen wieder schließen. Als Freizeiteinrichtungen gelabelt, stehen sie nun in einer Reihe mit Spielhallen, Bordellen, Fitnessstudios. In der Theaterszene, die im März viel zu spät reagierte, formiert sich diesmal umso schneller lauter Protest. Die Stimmen verweisen auf Hygienekonzepte, fordern eine baldige Wiedereröffnung der Theater und Ausnahmeregelungen für die Kultur. Dieter Hallervorden klagt gar gegen die Schließung. Offene Briefe werden verfasst, aber nicht alle unterschreiben. Ob die Schließungen gerechtfertigt sind, spaltet die Theaterszene, und die Diskussion legt sich erst mit den bestürzend steigenden Fallzahlen.

Die gute Nachricht: Die Theater sind diesmal künstlerisch besser gerüstet, haben in Kamera-Ausrüstungen und Know how investiert. Proben dürfen weiter stattfinden, Vorstellungen ohne Zuschauer auch, und die schon im März und April ersehnten Livestream-Premieren, mit der Kamera als einzigem Auge, finden endlich unter großer Aufmerksamkeit statt, wie etwa Sebastian Hartmanns Inzenierung des "Zauberberg" am Deutschen Theater Berlin oder die "Geschichten aus dem Wiener Wald" von Heike M. Goetze am Deutschen Schauspielhaus Hamburg.

"Geschichten aus dem Wiener Wald" am Schauspielhaus Hamburg © Arno Declair

Zeitgleich wird vielerorts über die Zukunft des Theaters in und nach der Pandemie diskutiert, so auf der von nachtkritik.de mitveranstalteten Konferenz zum Postpandemischen Theater. Die ersten Theater bekommen bereits die harte finanzielle Realität zu spüren: Bamberg kürzt den Zuschuss fürs Theater um 2,5 Prozent, für München sind Ende November 6,5 Prozent Einsparung im Gespräch. Harald Raab hat sich am Bamberger Theater umgehört.

 

Dezember

Nach der erwarteten Verlängerung des Lockdown in Deutschland und Österreich zieht Mitte Dezember auch die Schweiz nach und macht ihre Kulturinstitutionen wieder dicht. Viele Theater verlängern ihre Schließungszeit freiwillig über den von der Regierung gesetzten Januar-Termin hinaus, manche bis Ende Februar. Dass es in 2021 so schnell wieder losgeht, daran glaubt niemand.

Mit Jutta Lampe verstirbt eine Schauspielerin, die eine Ära geprägt hat und dem Regietheater von Peter Stein seit den 1960ern, zunächst in Bremen, bald an der Berliner Schaubühne, ihren unverwechselbaren Stil mitgegeben hat. Mit Peter Radtke verliert die Theaterwelt einen Vorreiter der Inklusionsbewegung avant la lettre, der, geboren mit der Glasknochenkrankheit, am Burgtheater und an den Münchner Kammerspielen ebenso wie in Günther-Grass-Verfilmungen spielte.

Online bringt der Dezember einiges an Produktionen hervor, von der livegestreamten Premiere vor leerem Zuschauer*innenraum über die Zoom-Performance und das interaktive Abstimmungs-Theater bis zur queeren Christmas-Show.

HolidaySauce TaylorMac 3 560 courtesyPomegranateArts uTaylor Macs glamouröses Weihnachtsfest an den Berliner Festspielen © Courtesy Pomegranate Arts

Apropos Christmas: Im diesjährigen nachtkritik-Adventskalender sprechen und spielen Schauspieler*innen Gedichte, und Mascha Kaléko entpuppt sich als Lieblings-Lyrikerin. Im Kalender dabei sind unter anderen Gina Haller, Camill Jammal, Sven Hönig, Bibiana Beglau, Andreas Döhler und Josefine Israel, hier alle 24 Türchen zum erbaulichen Nachgucken.

Und wenn das noch nicht genug Rückblick war, dann sei der Theaterpodcast von Elena Philipp und Susanne Burkhardt (Deutschlandfunk Kultur) empfohlen, in dem die beiden Host*innen mit etlichen Gästen aufs "Corona-Jahr" zurückblicken.

(Die Redaktion)

 

Hier finden Sie die Liste der meistgelesenen Texte auf nachtkritik.de im Jahr 2020

Wem der Sinn nach einem kurzen spielerischen Jahresrückblick steht, dem sei das Theaterquiz 2020 ans Herz gelegt

Hier gehts zum Horoskop für das Theaterjahr 2021

Hier geht es zum Jahresrückblick 2019

Kommentare  
Jahresrückblick: Guten Morgen, Corona
die überschrift ist nicht zu akzeptieren. corona ist ein lateinisches wort und heißt krone. es gibt eine heilige märtyrerin mit diesem namen. zwei namens- bzw. feiertage im jahr. auch wurden gelegentlich währungen in verschiedenen ländern Corona bzw. Krone genannt. Aber lesen Sie doch einfach mal die Erzählung VAE VICTIS! des Dichters und Selbstmörders Ferdinand von Saar. Hier ein Zitat:
"Guten Morgen, Corona" sagte er herzlich - "oder guten Tag, wie du willst. Ich habe heute schon so zeitig das Haus verlassen, daß ich dich noch gar nicht begrüßen konnte."
Jahresrückblick: Pest-Zeiten
Doch Corona sagen. Corona ist, ist gewesen, und wird hoffentlich nicht
bleiben.
Großer Gott: Auch nicht in dünnen Scheiben.
Es war dieses Corona-Jahr nicht sehr schlimm für mich -
für andere aber schlimm genug.
Schöner, und zugleich furchtbarer Vergleich mit Shakespeares
Pest-Zeiten. So wie seine Stücke sind:
Theatralisch schön und furchtbar.
Es war gewiss ein Gewohnheiten stürzendes Jahr,
und mit Todesängsten gewürztes, im Grunde furchtbares Jahr sogar.
Ganz so wie die Spiele des großen "Bühnen-Erschütterers" sind.
Wir sind alle auch erschüttert.
Ende gut, alles gut - das hoffen wir alle!
Es gibt auch welche, die befürchten einen letzten Vorhang . . .
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