Intime Starschnittphantasien

von Christian Rakow

Bielefeld, 17. Oktober 2008. Bielefeld goes Amerika goes Off-Broadway. Neue Stücke aus der freien Theaterszene New Yorks sind an diesem Wochenende beim Festival "Voices from Underground Zero" im Theater am Alten Markt zu erleben, vornehmlich in szenischen Lesungen und Werkstattschauen. Der Rahmen ist eher klein und familiär. Neben Schauspieldramaturgin Christine Richter-Nilsson zeichnet der Kurator des New Yorker "Undergroundzero Festivals", Independent Theatermacher Paul Bargetto für die Auswahl verantwortlich.

Und Bargetto besorgt selbst die Regie für eines der Zugpferde der Veranstaltung: "Brüchig (Mach mich schwach, Justin Timberlake)", die deutschprachige Erstaufführung der jungen Dramatikern Sheila Callaghan. Allerdings will sich das erfrischende Fringe-Gefühl, überraschende Stoffe in ungekannten Formen zu entdecken, schon mit dem Stücktext nicht einstellen.

Desolate Damenrunde

Einen traumatisierten Frauenhaushalt lässt Callaghan hier aus dem unerschöpflichen Pool der Adoleszenzpoetik entstehen. Janice, 11 Jahre, Außenseiterin mit Hygienedefiziten, hat seit Monaten nicht mehr gelacht und schließt sich bevorzugt in ihrem Zimmer ein. Ihre Mutter, Köchin aus Leidenschaft, lässt sich von Schuldgefühlen annagen. Wo liegt das Problem? Vater ist letzte Weihnachten, beim Versuch einen Engel auf dem Tannenbaum zu begradigen, tödlich verunglückt. Jetzt bastelt Janice heimlich an einer Sprengstoffpuppe, um am nächsten Heiligen Abend sich und ihre Mutter aus der Welt zu schaffen.

Der Anschlag misslingt, was Sühne für den Vater werden sollte, gerät zur Schocktherapie. Im letzten Bild sitzt man einträchtig am Küchentisch, selbst Tante Barbara, eine Jungfer mit Katzentick, ist eingetroffen. Janice fehlt seit der Explosion eine Hand, aber man lacht wieder. Damit dieses eigentümliche Küchendrama, das im Programmheft etwas vage als Allegorie auf die Erschütterung durch 9/11 ausgegeben wird, nicht hausbacken gerät, greift die Autorin in die Trickkiste des Surrealismus.

Die desolate Damenrunde wird umschwänzelt vom personifizierten Ungeist des Wohnraums, der immer wieder seine Renovierung einfordert und damit meint: Man soll ihn endlich mal ordentlich rubbeln, auf dass das Lustprinzip mit dem Putzeimer wieder erweckt werde.

Ranschmeißerische Einlagen

In einer echten Wohnhöhle (von Jürgen Höth) mit Herd, Jugendzimmer und abseits einem Schminktisch für Tantchen (Therese Berger) gönnt Paul Bargetto diesem weiblichen Konsolidierungsstück routinierte zwei Stunden. Verlassen kann er sich dabei auf Isabell Giebeler, eine Studentin von der Hamburger Theaterakademie, die ihre Janice mal mit sturer Stirn, mal mit punktgenauem Kreischanfall behauptet und dann mit ihren Barbiepuppen klar und still auf ihr Pfuschleben blickt. Eine so würdige, durch wenige Striche gezeichnete Vorpubertät hat man lange nicht gesehen.

Beklommen und bedürfnisblind sekundiert Karla Trippels Mutter den töchterlichen Isolationsbestrebungen. Den Wohnraum gibt Stefan Imholz als gruftiger Adliger, der sich seiner besten Jahre als Herrenhaus erinnert, während er zur lüsternen Staubsäule erstarrt. Fatal wirken einzig die ranschmeißerischen Einlagen von John Wesley Zielmann in den Rollen von Justin Timberlake und Harrison Ford. Statt der kühlen Präzision des Popstars wählt er den Appeal eines Schlagergurus und gondelt launig über alle Tiefen und Untiefen der Situation hinweg.

Dabei zeigen sich Tochter und Mutter nirgends so intim wie hier, in ihren Starschnittphantasien. Der kurze Einblick in die New Yorker Off-Szene wirkt so eher ernüchternd, und eine Vitalisierung des deutschen Stadttheaterhandwerks durch die transatlantische Zusammenarbeit ist an diesem Abend auch nicht zu vermelden.

 

Bielefeld – Brüchig (Mach mich schwach, Justin Timberlake)
von Sheila Callaghan
Deutschsprachige Erstaufführung
aus dem Amerikanischen von Christine Richter-Nilsson und Bo Magnus Nilsson
Regie: Paul Bargetto, Bühne und Kostüme: Jürgen Höth, Dramaturgie: Christine Richter-Nilsson. Mit: Therese Berger, Stefan Imholz, Isabell Giebeler, Karla Trippel, John Wesley Zielmann.

ww.sheilacallaghan.com
www.theater-bielefeld.de


Mehr lesen? Sheila Callaghans Stück We are not these Hands war im Juni 2008 beim Düsseldorfer Festival Gimme Shelter zu sehen. Gastspiele internationaler Off-Ensembles waren diesen Sommer auch beim Fringe-Festival im Rahmen der Ruhrfestspiele Recklinghausen zu sehen.

 

Kritikenrundschau

Das Figurenpersonal aus Sheila Callaghans Stück "Brüchig" spräche – so meint Manfred Strecker in der Neuen Westfälischen (20.10.) – "für gediegenes und geschliffenes Konversationstheater. Doch Callaghan fügt ihrem Stück surreale und absurde Elemente ein." Was noch immer kleines Kammerspiel wäre, werde bei der deutschen Erstaufführung in Bielefeld "große Bühne, auf der Jürgen Höth, der Bühnenbildner, ingeniös fünf simultane Schauplätze einrichtet". In der Regie Paul Bargettos, einer "Größe der unabhängigen Theaterszene nicht nur in New York City, sondern international", zeigten alle Schauspieler große Form. Bargettos Inszenierung spiele "mit grellen Lichtern, in denen die Lebensnot der Figuren zu erkennen bleibt".

 

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