Macht die Türen zu!

von Michael Wolf

19. Januar 2021. Theater versteht und legitimiert sich gerne als offener Raum des Austauschs, der gesellschaftlichen Teilhabe und des demokratischen Miteinanders. Diese soziale Dimension des Theaters halte ich für völlig überschätzt, nur selten sage ich mehr als "Guten Abend" zu meinem Sitznachbarn. Auch die politische Wirksamkeit des Theaters zweifle ich an, mehr noch aber diese paradoxe Vorstellung eines offenen Raums. Denn muss so ein richtiger Raum nicht schon aus geometrischen Gründen begrenzt sein? Und wenn nicht, wie sieht ein offener Raum dann aus? Wie viele Wände müssen da eingerissen werden? Ist es nur die vierte Wand, oder sind es zwei, um Begegnungen von beiden Seiten zu ermöglichen? Oder, um niemanden auszuschließen, sogar gleich alle?

Tempel des Quatsches

kolumne wolfAls avanciert gilt, den Raum projektweise komplett mit Boden und Decke zu demontieren und in die Mitte der Gesellschaft zu tragen. Man holt ab, lädt ein, erkundet die Stadt, geht auf sie zu. Ohne diese Versprechen erhält hierzulande niemand einen Intendantenposten. Den Theaterraum kann man aber auch verlassen und sich dabei zugleich komfortabel vor Regen schützen, etwa indem man seine Stoffe dem politischen Zeitgeist unterwirft, sie nur als Folien verwendet, um an Diskursen teilzunehmen, Denkanstöße zu geben, Didaktik und Politik zu betreiben. Dieses Theater will seine eigenen ästhetischen Grenzen und Bedingungen überwinden, findet das eigentlich Interessante doch vermeintlich immer woanders statt. Anstatt zu spielen, denke ich oft, könnten diese Häuser genauso gut eine Zeitschrift herausgeben, ein Institut oder eine Kita gründen. Dieses Theater füllt seinen Raum nicht mit all seinem Problembewusstsein, es entleert ihn, entledigt sich all der fantastischen Möglichkeiten, die in ihm Platz fänden.

Die bleierne Wirklichkeit bedrängt Menschen den ganzen Tag, man muss sie nicht auch noch mit ihr belästigen, wenn sie am Abend vor einer Bühne Platz nehmen. Ein ganz anderes Theater hingegen könnte auch noch nach der Pandemie Trost spenden: ein Theater der Zerstreuung, der Gedankenwanderung, ein Tempel des Quatsches, der Emotion, des Spinnens, der Geschichten, ein Startpunkt unendlich vieler Auswege und Ausflüchte. Ein Theater, das nicht woanders sein will, das sein eigenes Thema ist, ein Spiel, das seine eigene Regeln erfindet.

Ein solches Theater ist nicht offen

Denn der kraftvollste Moment ist der, in dem das Einlasspersonal die Türen schließt. Mit ihm wird alles Folgende möglich und alles Mögliche kann folgen. Es ist der Moment, in dem die Welt auf Distanz gebracht wird, damit sie auf der Bühne eine andere entstehen lassen können, eine kleine Utopie, ein Traumland als gallisches Dorf. Ein solches Theater ist nicht offen, es will die Welt da draußen nicht verdoppeln oder verändern, es unterbreitet ein besseres Angebot. In dieses Theater würde ich gerne bald zurückkehren, in einen Raum ohne Fenster, einen Raum, in dem ich überall sein kann.

 

Michael Wolf, Jahrgang 1988, ist Redakteur bei nachtkritik.de. Er mag Theater am liebsten, wenn es schön ist. Es muss nicht auch noch wahr und gut sein. 

 

Zuletzt wünschte sich Michael Wolf mehr Philosophie im Theater.

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Kommentare  
Kolumne Wolf: Lob
Großartig. Danke.
Kolumne Wolf: aus dem Herzen
Ja, genau, danke. Der Autor hat auch mir aus dem Herzen gesprochen. Allerdings sehe ich keinen Weg zurück.
Kolumne Wolf: Poesie
merci, merci.... michael wolf versteht meine sehnsucht nach poesie und sich dadurch öffnende welten, freiräume, unbekanntes... hoffentlich jenseits schlichter mich einengender positionskämpfe um politische haltungen moralisierender köpfe... merci
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