Customerzombification 1 / Mein fremder Wille - Theater Vorpommern
Lösch dich!
von Sophie Diesselhorst
Greifswald / online, 19. Januar 2021. Verschwörungstheorien laufen gerade ziemlich gut – sowohl in der politischen Realität als auch auf Netflix. In Filmen und Serien kämpfen androide Held*innen gegen eine übermächtige künstliche Intelligenz, und ihre Menschlichkeit behauptet sich im Untergang. Erschlagend sind diese Sagen, und häufig nicht wirklich auf konstruktives Mitdenken auf Zuschauer*innenseite angelegt.
Hilferuf aus der Parallelwelt
Das Theater-Game "Customerzombification 1 / Mein fremder Wille" von BORGTHEATER, das das Theater Vorpommern als Online-Premiere herausgebracht hat, nährt sich auch von diesem Narrativ, will aber mehr sein als gute Unterhaltung: Aufgabe des Publikums ist es, der Influencerin Alice zu helfen, ihre Schwester aus dem Status des "Customerzombies" zu befreien. Wir befinden uns Alice zufolge im Jahr 2030. Ihre Schwester wurde vom allmächtigen DATA-System downgegradet, und sie versammelt uns nun also als Held*innen-Kollektiv, um dieses böse System zu hacken und am besten nicht nur ihre Schwester, sondern uns alle daraus zu befreien – indem wir ihre, unsere Daten löschen.
Alice spricht in Gestalt der Schauspielerin Christiane Waak zu uns, die sich im YouTube-Stream durch verschiedene Simulationen bewegt und über die App der Game Engine Toto, die wir uns vorher auf unseren Telefonen installieren mussten, mit uns kommuniziert. Entscheidungen werden gemeinsam getroffen, indem wir abstimmen, und dabei geht es sowohl darum, mit welchem Tool wir die nächste Tür öffnen (Schlüssel oder Fernbedienung?), als auch darum, wieviel Aufschluss wir dem System über uns selbst geben – denn natürlich bewegen wir uns nicht unerkannt durch den "Bauch" der KI, sondern werden andauernd gescannt, wobei die uns anfangs zugewiesenen Gesellschaftsschichten (Ober-, Mittel-, Unterschicht) überraschenderweise überhaupt keine Rolle spielen, hier wird ein politischer Konflikt innerhalb der Gruppe nur angetäuscht.
Turing-Test bestanden
Die Theatralität von "Customerzombification" besteht einerseits im etwas naiv wirkenden "Zusammen sind wir stark"-Mantra, mit dem wir hier immerzu dazu aufgefordert werden, zu glauben, dass wir das System austricksen können, und Alice einmal sogar eine "Wärmepille" oder eine Heizdecke gegen die soziale Kälte des Kapitalismus verabreichen müssen (Wir entscheiden uns in progressivem Geist für die Wärmepille). Andererseits wird der reibungslose Ablauf der Story tatsächlich immer wieder dadurch ins Wackeln gebracht, dass wir natürlich keine Hacker sind, sondern unprofessionelle Theaterzuschauer*innen, denen also nichts anderes übrig bleibt, als zu raten und zu zocken und uns in Selbstwidersprüchen zu verheddern. Die häufigste Entscheidung, vor die wir immer wieder ganz grundsätzlich gestellt werden, ist die, ob wir unsere Daten löschen wollen. Und das Ergebnis der Abstimmung ist immer wieder ein anderes. Worauf im Spiel nicht wirklich viel folgt, womit aber immerhin unsere irrende Menschlichkeit bewiesen sein dürfte.
Als unsere etwas clumsy agierende Reiseführerin Alice uns einmal zu oft sehr suggestiv nahegelegt hat, welche pragmatische Möglichkeit wir wählen müssen, um weiterzukommen, bestraft das System sie, indem sie wie ihre Schwester zum Customerzombie downgegradet wird. Ihr Bild verschwimmt, und wir können sie nur dadurch "retten", dass wir in einen Frage-Antwort-Dialog mit ihr treten, der beweist, dass sowohl sie ein Mensch ist, als auch wir Menschen sind. Schnelle emotionale Antworten werden vom System belohnt, und unsere gemeinsame Reise kann weitergehen. Die Rettungsmission gerät allerdings zunehmend diffus, und wie sollte es auch anders sein. Wir kämpfen gegen das System, über dessen Belohnungsmechanismen das Spiel funktioniert. Denn natürlich sind wir vor allem angetrieben von der Neugier darauf, welche Handlungsspielräume unsere Entscheidungen und Antworten uns ermöglichen.
V-Effekt gegen Immersion
Das Game versucht gegen dieses Paradox aufzutrumpfen mit dem ästhetischen Kontrast zwischen den monotonen Räumlichkeiten der Simulation und der unpassenden Lebendigkeit von Alice, die anfangs noch versucht mit einer Alexa-haften Roboterstimme zu uns zu sprechen, aber schnell in einen aufgeregten Influencer*innenton verfällt und sich immer wieder ostentativ fremd fühlt in den Räumen, in die sie versetzt wird ("Wie soll ich denn da oben in den Luftschacht kommen? – Ach ja stimmt, meine 'Wearable' Hose wurde ja gerade upgegradet!"). Als weiteres Gegengift gegen zuviel Immersion werden wir am Übergang zwischen den Levels stets gebeten, unsere "smarten Linsen zu aktivieren" (= unsere Augen zu schließen), bis das Bild umgesprungen ist: "Ah, da sind wir ja!"
Ganz so kindereinfach kann es aber natürlich doch nicht sein, diese KI zu schlagen, und deshalb besteht das letzte Drittel von "Customerzombification" dann auch in der ziemlich umständlichen Vorbereitung einer Auflösung, die den Erkenntniswert insgesamt nicht wirklich steigert – aber für alle, die noch mitspielen wollen, hier trotzdem nicht verraten werden soll.
Customerzombification 1 / Mein fremder Wille
Digitales Game-Theater 2030
Eine Produktion von BORGTHEATER – cyborg performing theater in Koproduktion mit dem Theater Vorpommern
Regie / Stückentwicklung / Game-Design: Rolf Kasteleiner, Dramaturgie: Johanna Hasse, Programmierung / Game-Design: Markus Schubert, Visual Content: Daniel Müller, Operator: Niklas Washausen, Bildmischung: Sophie Loebjinski.
Mit: Christiane Waak.
Premiere am 19. Januar 2021
Dauer: 1 Stunde
www.theater-vorpommern.de
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Und über die Auflösung wollen wir nicht weiter reden, das ist hirnrissig und warum ich vorher 45 Minuten "mitmachen" sollte, ist plötzlich unwichtig. Kurzum: ein langweiliger Möchte-Gern-Digital-Abend, der weit hinter Machina Ex, Dead Centre oder einem bloßen Streaming-Angebote zurückliegt.
Die Systemkritik, die drinsteckt, und die ethische Frage des Handelns oder Nicht-Handelns.
Gestern Abend war ja eine Mitspielerin irgendwann anfangs dagegen, Daten zu löschen.
Und als dann später die Frage kam: Daten löschen auch wenn dabei andere gelöscht werden? - hätte man bei „ja" diese Mitspielerin quasi gelöscht in ihrem Standpunkt.
Das war toll!