Erdbeertortenbaum voraus

von Elena Philipp

Leipzig/online, 1. Februar 2021. Klöße, Klöße, nichts als Klöße. Beim gemeinsamen Abendessen aller gullivingischen Einwohner*innen gibt's ausschließlich rund Gekochtes. Seit jeher. War doch der Gründer der Ansiedlung, Lemuel Gulliver, ein Kloßgourmet. Doch mit der Ankunft eines Schwungs Neugullivinger*innen wird die Tradition gleich über Bord gekippt – und in der Vollversammlung dieser "Vollversammlungsdemokratie" über ein ergänzendes Gericht abgestimmt: Wassermelone? Bratwurst? Eis?

Auf großer Fahrt

Gullivingen ist eine Insel, eine schöne kleine fiktive Insel. Wie Lummerland sieht sie aus auf der einzigen Zeichnung, die wir Neugullivinger*innen vom Ort unserer Ankunft kennen. Vorgestellt wurde uns das Reiseziel in der kaum fünfminütigen ersten Folge der animierten Webserie "Gulliver", die das Game-Theater-Kollektiv komplexbrigade gemeinsam mit dem Theater der Jungen Welt Leipzig konzipiert hat. Über zwölf Wochen hinweg soll sich rund um Jonathan Swifts Figur des weltberühmten Reisenden Lemuel Gulliver die Spielfreude der teilnehmenden Zuschauer*innen entspinnen. Während der animierte Gulliver in zwölf Youtube-Folgen auf große Fahrt geht, soll die Insel Gullivingen vor allem in der kollektiven Phantasie all jener existent werden, die ihren Weg auf den gleichnamigen Discord-Server des TdJW finden.

Im mehrkanaligen Chat können wir dort als Schreiber*in die Geschichte des Gründers recherchieren, als Gestalter*in weitere Gebäude bauen oder uns als Forscher*in im "Futurium" des Wissenschaftler-Bots Prof. Dr. Dr. Dr. Silberqueck verrückte Erfindungen einfallen lassen. Besonders phantasievoll zeigen wir Neugullivinger*innen uns erst einmal nicht bei den die Klöße ergänzenden Gerichten. Die Abstimmung gewinnt verdient der einzig kreative Vorschlag, ein "Erdbeertortenbaum". Aus der Kombination von Erdbeertorte, Humus und Gelatine einen Erdbeertortenbaum züchten zu wollen, klingt kompatibel mit den Vorschlägen an Swifts Akademie von Lagado, wo Sonnenlicht aus Gurken extrahiert oder Marmor zur Kissenfüllung erweicht werden soll. Im Futurium wird die bahnbrechende Erfindung von Spieler "SG" sogleich samt Versuchsanordnung und Konstruktionszeichnung für die Entwicklungsphase vorgeschlagen. "SG" hat offenbar Game-Erfahrung, erkennt er doch fix den amüsanten Tick des Silberqueck-Bots, nur zu 'hören', wenn er in Großbuchstaben angeschrie(b)en wird.

Explizite Netiquette

"Interaktives Inselbuilding" nennt die komplexbrigade diesen Teil ihres "Gulliver"-Projekts. Weitmaschig ausgelegt sind die erzählerischen Fährten und Beteiligungsangebote auf Discord. Angenehm moderiert ist der Chat, das fällt auf im Vergleich zu manch anderen Game-Ausflügen von Theaterkollektiven. Die Netiquette ist explizit: Anfangs stimmen alle Neulinge den Serverregeln zu, die Respekt als Grundlage des Spiels verankern und die moderierende Erzähler:in als Instanz benennen, der unerwünschte obszöne, rassistische oder werbliche Inhalte gemeldet werden können.

Gulliver Screenshot 2 560 eph© Screenshot

Bedacht hat die komplexbrigade – deren Mitglieder Caspar Bankert, Hannes Kapsch und Moritz Schwerin allesamt Zeitgenössische Puppenspielkunst an der HfS "Ernst Busch" Berlin studiert haben und daneben Comics zeichnen (Bankert) oder Objekttheater mit Computerspielen verbinden (Kapsch) – auch Anreizsysteme: Mit einem Level-up-System, in dem besonders aktiv Chattende durch Erfahrungspunkten an politischem Einfluss in Gullivingen gewinnen, wird zur Beteiligung gelockt. Am ersten Abend der zwölfwöchigen Spieldauer fällt die Mitwirkung freundlich, aber nicht enthusiastisch aus.

Gemeinsame Phantasie

Als Fährte ausgelegt ist auch die Webserie mit ihren etwas ruckelig, aber dem bewusst holzschnittartigen Zeichenstil entsprechend animierten Figuren. Folge 1, in der Lemuel dem furchteinflößenden Smut-Gorilla begegnet und, in drei auswählbaren Anschlussclips auf Youtube, flieht|sich herausredet|eine ablenkende Kettenreaktion auslöst, endet nach kürzester Dauer abrupt mit einer "nautischen Vollbremsung" von Gullivers Schiff – welche die Zuschauer*innen auf den Discord-Server katapultiert. (Die Anschlussfolge, so viel sei verraten, fällt länger aus.) Nach den ersten Stunden im Chat und nach Folge 1 der Webserie ist "Gulliver" vor allem ein Versprechen: auf einen Raum, der, ähnlich wie die rein imaginäre #wunschvorstellung des Burgtheaters auf Twitter, eine gemeinsame Phantasie befeuert. In diesem Sinne: Erdbeertortenbäume voraus!

 

Gulliver
von komplexbrigade
Konzept; Regie: komplexbrigade (Caspar Bankert, Moritz Schwerin), Dramaturgie: Florian Heller, Josepha Maschke, Theatervermittlung: Veronique Nivelle
Mit: Philipp Zemmrich, Sonia Abril Romero, Clara Fritsche.
Start am 1. Februar 2021
Dauer: 1-2 Stunden bzw. insg. zwölf Wochen

www.theaterderjungenweltleipzig.de

 

 

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