Gregor Samsa in Quarantäne

von Matthias Schmidt

Weimar, 4. Februar 2021. "Wie aber", resümiert Gregor Samsa, sich in seinem Käfer-Dasein langsam einfindend, "wenn jetzt alle Ruhe, aller Wohlstand, alle Zufriedenheit ein Ende mit Schrecken nehmen sollte!" Man sitzt, statt im Theater, vor seinem Monitor und denkt sich, schöner als Kafka kann man es nicht sagen. Die Gewissheiten haben ein Ende. Vorübergehend, das ist die Hoffnung. Das dachten Samsas Eltern und seine Schwester allerdings auch …

Böses Erwachen

Juliane Kann stellt die Analogien zu unserem bösen Erwachen nicht aus, und doch ist ihrem kompakten Kafka-Abend anzusehen, warum er so stattfindet, wie er stattfindet. Die wenigen Sätze, die Kann aus der "Verwandlung" auf die Bühne holt, drehen sich vor allem um das Unbehagen aller Beteiligten. Wie umgehen mit der eigentlich nicht hinnehmbaren Veränderung? Erstmal Quarantäne, Gregor darf nicht raus. Schließlich wird die ganze Familie das Haus für Monate nicht verlassen. Zudem scheint ihre Existenzgrundlage verloren, Gregor hat sie schließlich mit seiner Arbeit ernährt. So eine Ausnahmesituation macht natürlich etwas mit Menschen; die Samsas drohen den Verstand zu verlieren. Das alles erfahren wir Zuschauer aus dem Off, auf der Bühne gesprochen wird in den ersten 20 Minuten kein Wort.

Verwandlung1 Thomas Kramer 560 c Candy Welz uIm Lockdown wächst der Volahila: Thomas Kramer © Candy Welz

Drei identisch aussehende Menschen in insektenpanzerartig verzierten Arbeitsanzügen, schlimme Frisur, schlimme Brille, gehen ihrem Tagwerk nach. In und rund um ein Pförtnerhaus spielen sie, stumm wie die Käfer, dass sie arbeiten. Schwer zu sagen, was genau sie da eigentlich tun. Kaffee trinken und abwarten. Sagen wir also, sie pförtnern. Und hören dazu diese Kafka-Sätze aus dem Off. Und Musik. Das ist ein paar Minuten lang stimmungsvoll und originell.

Sie pförtnern

Da sonst nicht viel passiert, kann man die Bühne entdecken. Man könnte natürlich auch, man sitzt ja zuhause in Buchregal-Reichweite, den Text mitlesen. Aber viel ist es eben nicht, was man da zu lesen hätte. Es sind die Ausstattungs-Details, die anfangs Freude machen. Die in einem an der Wand hängenden Schaukasten ausgestellten Käfer. Der Desinfektionsmittelspender neben der Tür. Die zwei Kabelenden mit dem gleichen Stecker, die nicht ineinanderpassen. Irgendwie ist die Welt aus den Fugen. Die Lieferketten sind unterbrochen.

Verwandlung2 MaxLandgrebe ThomasKramer Isabel Tetzner 560 c Candy WelzDie drei Gleichen: Max Landgrebe, Thomas Kramer und Isabel Tetzner © Candy Welz

Fast die komplette Ausstattung ist scheinbar aus Pappe gebastelt: die Computermonitore, die Taschenlampen, die Brotbüchsen, die darin befindlichen Brote. Das ist eine sehr hübsche, originelle Puppenstubenkunstwelt, und gerade in dem Moment, in dem die Pappe zum Geschmack auf der Zunge wird und man sicher ist, jetzt so langsam alles gesehen zu haben, erfüllt Juliane Kann den immer größer werdenden Wunsch, dass der Abend so nicht bleiben möge.

Drei Käfer im Lockdown

Die drei Käfermenschen beginnen zu sprechen. Über das Stück, über Interpretationsansätze. Das sei doch eine Freud-Parodie, die Kafka da geschrieben habe. Immer dieses Psychologisieren! Über die Probleme Gregors und die der Familie. Wie soll man miteinander kommunizieren, man kann doch einen Käfer nicht umarmen! Selbst wenn, er hätte ja auch nichts davon! Steht Gregor Samsa etwa auf seine Schwester? Tut er das nur als Käfer, oder war das schon vorher so?

Dreimal unterbricht Juliane Kann die spärliche Handlung mit diesen Schauspielergesprächen, was gut und richtig ist und vor allem etwas Humor in eine Inszenierung bringt, die ansonsten wortlos und etwas verrätselt versucht, die wenigen, sich teilweise wiederholenden Kafka-Sätze aus dem Off zu bebildern. Was oder wer sind diese drei Personen? Sie wirken ein bisschen wie die knarzigen Bäume, die man früher in Fernseh-Kulturmagazinen abfilmte, wenn es um Lyrik ging. Eine Metapher auf irgendwas. Schicht- Arbeiter, die "da unten"? In "Metropolis" war's klarer. Mag auch sein, die drei Gleichen mit den schlimmen Perücken und Schnauzern sind Häftlinge. Kameras überwachen sie und mehrfach wird zum Einschluss gerufen. Man weiß es nicht, und kafkaesk ist es auch nicht. Eher unfreiwillig komisch.

Verwandlung3 Isabel Tetzner 560 c Candy WelzMit Pin-up-Träumen: Isabel Tetzner im Kafka-Kabuff © Candy Welz

Immerhin ist man nah dran. Filmemacher Christoph Hertel sorgt dafür. Mit Nahaufnahmen, die gelegentlich per Split-Screen nebeneinandergestellt werden. Manchmal schieben sie sich auch gegenseitig aus dem Bild. Einen Film macht das aus dieser "Verwandlung" nicht gleich, was für ein Irrtum, aber es gibt ihr eine Form, die in den heimischen Monitor passt. Fast wie damals, als noch regelmäßig Inszenierungen fürs Fernsehen aufgezeichnet wurden, nur eben hochaufgelöster. Vielleicht sogar 4K. Aber Pixel machen kein Theater.

Kurzum, man ist ein bisschen ratlos. Ganz wie Samsas Familie, die plötzlich einen Käfer zum Sohn hat, haben wir nun das als Theater. Wir haben es immer noch genauso lieb wie zuvor, und wir wünschen uns so sehr, dass es wieder so wird, wie es vorher war. Dass es so nicht bleibt, gefangen in diesem zu kleinen Bildschirm. Trotz der Nahaufnahmen zu weit weg. Trotz der Kürze zu lang. Trotz der vielen guten Ideen, der Radioeinspielung von Ulrich Matthes' toller Kafka-Lesung zum Beispiel, zu monoton. Am Ende sitzen die drei Schauspieler im ansonsten leeren Saal und klatschen. Aufwachen und wieder ein richtiger Theaterzuschauer sein, in einem vollen Theater – das wär's!



Die Verwandlung
nach Motiven von Franz Kafka.
Regie und Dramatisierung: Juliane Kann. Bühne: Marie Gimpel. Kostüme: Josephin Thomas. Kamera und Schnitt. Christoph Hertel. Dramaturgie: Carsten Weber.
Mit: Isabel Tetzner. Thomas Kramer. Max Landgrebe.
Premiere am 4. Februar 2021 online
Dauer: 1 Stunde, keine Pause

www.nationaltheater-weimar.de



Kritikenrundschau

Wolfgang Schilling berichtet im MDR Kultur (5.2.2021, 12:00 Uhr), nicht viel Kafkaeskes in der Kafka-Inszenierung gefunden zu haben und sieht darin  einen Mangel am "Subversiven", was das Stück zu einem "Etiketten-Schwindel" mache. Auch findet er darin eine Problematik der Adaption literarischer Stoffe für die Bühne bestätigt: Sie seien dann nur "Vehikel" für Aktualitätsbezüge. Kostüme und Bühne seien erwähnenswert und definitiv nicht das Ergebnis von Sparzwang - versprächen dabei einen Abend, lustig wie ein Helge Schneider Film. Eine Hoffnung, die sich nicht erfüllt habe. Danken könne er dem Abend aber dafür, den Impuls bekommen zu haben, den "echten" Kafka mal wieder zu lesen.

Stefan Keim im WDR (6.2.2021) hingegen sieht in der neuen Montierung des Textes einen Gewinn: Man bekomme "sehr kunstvoll und unterhaltsam" drei verschiedene Perspektiven auf den bekannten Stoff geliefert. Die Inszenierung, die mit der Auflösung des kanonischen Textes arbeitet, sei interessant und experimentell - und eine Slapstick-Show.

Thilo Sauer vom Deutschlandfunk (6.2.2021) bemerkt, dass der Titel des Stücks auch passend ist zur Transformation von der Bühne zum Digital-Bild, die Inszenierungen dieser Tage durchliefen. Er sieht in Kanns Stück eine gelungene Groteske, die ihren Fokus auf Schauspiel und Humor setzt. Der Kameraführung gelinge es nicht immer, den Blick im Split-Screen zu führen - dafür stelle das Bühnenbild gekonnt ein Gefühl der Surrealität her. Den Abend trage vor allem das Schauspiel, welches zwar in den Diskurs-Einschüben manchmal unangenehm nach Deutsch-Leistungskurs klinge, sonst aber mit gekonnter Übertreibung überzeuge.

 

 

 

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