Etwas ist faul am Status Quo

von Georg Kasch

Leipzig / Online, 5. Februar 2021. Kategorien, Einordnungen, Schubladen? Helfen kaum weiter, wenn es um Menschen geht. Und doch labeln wir alle, jeden Tag: unterscheiden zwischen Mann und Frau, groß und klein, hässlich und schön. Nach eigener Erfahrung, Prägung, Bauchgefühl. Und dann passiert es, dass wir zum Beispiel Menschen mit Behinderung entweder als unzulänglich entwerten oder als Helden mystifizieren. Weil sie im Rollstuhl sitzen. Weil ihr Körper nicht der Norm entspricht. Und weil sie "trotzdem" ihr Leben leben.

Fünfzig kleine Zoomfenster

Damit spielt Jana Zöll in ihrer Lecture Performance "Ich bin". Der Abend für Jugendliche ab 16 entstand am Leipziger Theater der Jungen Welt in der neuen Reihe Challenge Accepted: Jede Spielzeit stellt sich ein:e Gastkünstler:in nach einer Woche Probenzeit in vier verschiedenen Aufführungen dem Publikum. Zöll, Performerin, Schauspielerin, Tänzerin, Autorin und Inklusionsberaterin, ist jetzt die erste.

Jana Zöll 600 Steven Solbrig uWeiblich, ledig, hetero? Jana Zöll © Steven Solbrig

Vor Jahren machte sie als Napoleon in Sebastian Hartmanns Krieg und Frieden Furore, ging später fest ans Staatstheater Darmstadt, wurde dort aber nie richtig glücklich. Jetzt arbeitet sie frei, hat am Tanzlabor Leipzig das Kollektiv Polymora Inc. mitgegründet und leitet am TdJW den inklusiven Kids Club mit an. Seit einigen Monaten per Kamera von ihrer Leipziger Wohnung aus, wegen Corona: Zöll ist Risikopatientin.

In ihrem Zimmer spielt jetzt auch "Ich bin". Vom Raum sehen wir nur Ausschnitte, von ihr selbst lange nichts. Während in fünfzig kleinen Zoom-Fenstern Zuschauer:innen sitzen, hört man Zölls Stimme, sieht ihre Perspektive. Sie setzt sich mit Post-Its selbst zusammen, als weiß, europäisch, mit Abitur und Schauspielausbildung, als weiblich, ledig, hetero. Sie berichtet davon, wie sie von ihrer Umwelt schon früh aufgeteilt wurde: in einen defizitären Körper und einen Kopf, auf den sie sich, weil klug und "einigermaßen hübsch", konzentrieren sollte. Sie berichtet davon, dass sie sich Weiblichkeit, Körperlichkeit, Erotik erst erarbeiten musste.

Fragen pfeifen um die Ohren

Über allem aber schwebte immer ein Trotzdem: Trotz ihrer Behinderung habe sie das und jenes erreicht, so das Narrativ. Womit das vermeintliche Defizit immer präsent blieb. Warum ist das so? Warum leiten wir aus visuell-körperlichen Faktoren Eigenschaften ab? Warum wird Nichtbehinderung als selbstverständliche Norm vorausgesetzt? Warum ist Behinderung, also ein "beeinträchtigter Körper" (so Zöll) in einer nichtbarrierefreien Umgebung, nicht längst ein überflüssiges Wort, weil die Barrieren längst beseitigt wurden? Und warum sollen Kategorien wie Geschlecht, Hautfarbe und Behinderung aussagekräftiger sein über das Wesen eines Menschen als beispielsweise Sternzeichen?

Jana Zöll hoch 280 Steven Solbrig uEine selbstbewußte Frau: Jana Zöll © Steven SolbrigZöll ist in "Ich bin" Performerin und Inklusionsexpertin zugleich. Das schlägt sich im leicht provozierenden, ironiescharfen Ton nieder, in all den Fragen, die einem um die Ohren pfeifen, am zeigenden Gestus. Interaktionsangebote gibt's auch, die allerdings beim überwiegend erwachsenen Publikum nicht so richtig aufgehen. Anfangs sollen wir uns selbst Kategorien zuordnen, später Zöll Eigenschaften zuschreiben (die natürlich alle sehr freundlich ausfallen), schließlich einander in Zweier-Breakout-Rooms schweigend anschauen.

Stereotype Zuschreibungen

Dafür gewinnt Zölls Beweisführung zunehmend an Fahrt. Spannend wird es immer dann, wenn sie die Kategorien, die sie auf selbstgeschriebenen Listen und Grafiken im Zimmer aufgehängt hat, zum Tanzen bringt. Einmal zeigt sie, wie merkwürdig viele Überschneidungen die stereotypen Zuschreibungen von männlich und nichtbehindert sowie behindert und weiblich besitzen: stark, aktiv, unabhängig, mutig hier, hilfsbedürftig, schwach, kindlich, unselbstständig dort. Zufall? Kaum. Muss wohl irgendwas mit dieser ominösen Norm zu tun haben. Ein, zwei weitere dieser Ausflüge ins Intersektionale hätte der kurze Abend noch gut vertragen können.

Es gibt noch viel zu erklären

Lange verweigert Zöll den direkten Blick auf ihren von uns allen überdeterminierten Körper, legt nur Spuren: eine Gipsform ihres kopflosen Körpers, Fotos von früher; hin und wieder geraten ihre Füße ins Bild der Handkamera. Erst gegen Ende setzt sie sich selbst ins Bild: eine selbstbewusste Frau, die Fragen stellt. Und Kategorisierungen den Kampf ansagt.

Das Problem mit Normen ist ja, dass es keine weitergehenden Folgen hat, wenn man sie für ungültig erklärt, so wie Zöll es am Ende tut. Dazu braucht es ein neues Bewusstsein der Mehrheit. Die muss allerdings erst mal auf den Gedanken kommen, dass was faul ist am Status quo. Vielleicht braucht "Ich bin" deshalb diesen leicht didaktischen Ton: weil noch so wahnsinnig viel zu erklären ist.

 

Challenge Accepted! – Ich bin
von Jana Zöll
Regie: Jana Zöll, Dramaturgie: Anna Weyrosta.
Mit: Jana Zöll.
Dauer: 50 Minuten, keine Pause
Premiere am 5. Februar 2021

www.theaterderjungenweltleipzig.de

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