Derselbe fucking Planet

von Martin Thomas Pesl

München / Online, 7. Februar 2021. Ganz richtig fühlt sie sich noch nicht an, die derzeitige Normalität, in der es möglich ist, in Wien an einer Premiere im Werkraum der Münchner Kammerspiele teilzunehmen. Es ist mind-blowing und verstörend und irgendwie auch Gegenstand jenes Stückes, das hier eigentlich zur Uraufführung kommen sollte, nun aber stattdessen vorerst gestreamt, verfilmt, verlivetheaterfilmt wird: "Flüstern in stehenden Zügen" von Clemens J. Setz handelt von diesen Firmen, die E-Mails mit bedrohlichen Szenarien – Stromabschaltung, Computerviren – und einer Telefonnummer verschicken. Die Nummer führt in ein Callcenter, wo sich jemand als "Ulrich Müller" vorstellt und in gebrochenem Deutsch oder Englisch die Behebung des Problems infolge einer monetären Transaktion verspricht.

Telefonat mit dem menschlichen Bot

Diese Person kann irgendwo auf der Welt sitzen, es spielt keine Rolle. "Auf demselben fucking Planeten" zu sein, wie es im Stück einmal heißt, ist schon nahe genug. Protagonist C arbeitet tagsüber im Computerreparaturladen, die Nächte verbringt er damit, betrügerische Hotlines anzurufen, um den dort Arbeitenden menschliche Regungen abseits des üblichen Skripts zu entlocken – mit erfundenen familiären Unglücken, mit Alltagsbeobachtungen wie dem Leiserwerden der Passagiere, wenn der Zug auf offener Strecke stehenbleibt, oder mit ehrlichem Interesse an der Muttersprache des Gegenübers. Kein Wunder, dass C davon aggressiv wird: Sein Unterfangen ist ungefähr so aussichtsreich wie der Versuch, ein herzliches Gespräch mit Siri oder Alexa zu führen.

Flüstern in stehenden Zügen Katarina Sopcic final 18Isoliert im knallgelben Bühnenbild "Flüstern in stehenden Zügen", mit Bekim Latifi und Leoni Schulz © Katarina Sopčić

Viel mehr passiert nicht. Setz geht es um die Ausführung dieser einen Idee. Eines seiner Bücher ließ er, der Tech-Nerd unter den Prosa-Autoren, von einem Bot verfassen, das neueste handelt von Setz' eigener Plansprachen-Obsession. Dazwischen schreibt er erfreulicherweise Theaterstücke, die thematisch bleeding edge, formal aber ziemlich old-school sind: Setz' Figuren – hier laut Stücktext mindestens 20, die meisten davon übers Telefon nur zu hören – befinden sich in konkreten Situationen und sprechen wie echte Menschen. Die Einheit von Handlung, Zeit und (digitalem) Raum ist gegeben, die praktische Umsetzbarkeit dem Autor erfrischend egal.

Zwischen Vollbild und Insta-Stories

Die Münchner Kammerspiele übertrugen die Regie dem Filmemacher Visar Morina, und das, nicht zuletzt aufgrund des erzwungenen Mediums Live-Stream, mit Gewinn. Die Kamera wechselt zwischen Vollbild und Instagram-Stories-Hochformat mit schwarzen Balken links und rechts.

Erst spät, aber doch erlaubt sich Morina eine Totale und macht den Theaterraum als solchen sichtbar. Bis dahin bietet der scharfe Kontrast der Ausstattung kunstvolle Videobilder: Das knallgelbe Bühnenbild wird gerne mal abgefahren wie ein großflächiges Gemälde. Als krasse Provokation suhlt sich darin das hellrote Kostüm von Bekim Latifi als C.

Flüstern in stehenden Zügen Katarina Sopcic final 7Menschen, Verkabelungen und eine Kamera: "Flüstern in stehenden Zügen" in der Inszenierung von Visar Morina © Katarina Sopčić

Im Wesentlichen ist "Flüstern in stehenden Zügen" ein von zahlreichen Stichworten gestützter Monolog – im Original zu ausführlich und redundant, hier wirkungsvoll eingestrichen, auch durch das Wiederholen von Textstellen ins Abstrakte gerettet. Das erleichtert Bekim Latifi den Spagat zwischen Bühnenwucht und Close-up-Natürlichkeit..

Er agiert nicht wie im Film, doch sieht man ihm anders zu als im Theater. Die Zähne des Sprechenden, die in kurzen Hosen steckenden Beine des Turnenden, sie unterliegen von der Kamera gelenkt einem fast unheimlich genauen Blick. Einerseits getrieben von der unlösbaren Aufgabe des C kommt andererseits auch die selbstverschuldete innere Leere dieser faszinierend sperrigen Bühnenfigur zum Ausdruck.

Befreiung als Happyend

Latifi hält natürlich zu keinem Zeitpunkt ein Telefon in der Hand. Stattdessen windet er sich akrobatisch durch ein dreieckiges Sportgerät, rollt über den Boden oder schaut mit trainierter Freundlichkeit direkt in die Kamera. Die Gesprächspartner*innen mimt er entweder selbst oder man kann sich ihre Repliken einfach denken.

Fluestern 560 Patrick Orth u Nähe und Distanz: Bekim Latifi als Protagonist C © Patrick Orth

Oder Leoni Schulz übernimmt den Part. Schulz hängt die längste Zeit in einem hautfarbenen Ganzkörperanzug zwischen zwei transparente Folien geklebt von der Decke. Wie das Hologramm einer künstlichen Intelligenz befolgt sie auf der Metaebene Regieanweisungen ihres Kollegen ("Sag's mit Akzent! – Schlechter!"), bevor sie sich am Ende befreit und ein ungeahntes, fast rühriges Happyend ermöglicht: Denn da passiert es in dieser kühlen Tech-Welt doch tatsächlich, dass ein Mensch redet und einer anderer zuhört. Dass es egal ist, wo, ist dann fast schon wieder okay.

 

Flüstern in stehenden Zügen
nach Clemens J. Setz
Uraufführung des Theater-Live-Films
Regie: Visar Morina, Bühne und Kostüme: Aleksandra Pavlović, Bildgestaltung und Kamera: Patrick Orth, Kamera: Florian Strandl, Dramaturgie: Harald Wolff.
Mit: Bekim Latifi, Leoni Schulz.
Premiere am 7. Februar 2021
Dauer: 1 Stunde, keine Pause

www.muenchner-kammerspiele.de

 

Kritikenrundschau

Christine Dössel von der Süddeutschen Zeitung (9.2.2021) macht einige "Satzperlen" aus, "die den allzu redundanten, gottlob gut eingekürzten Text dann doch manchmal in eine andere Dimension erheben". Oft drohe das Stück gleichwohl in der Telefonschleife stecken zu bleiben. "Man schaut trotzdem gerne zu, ist ja nur eine Stunde, und der junge Schauspieler Bekim Latifi ist stark und keck genug, das Stück zu tragen."

Es sei dankenswerterweise spürbar, dass Visar Morina als Kinoregisseur genau wisse, wie mit den filmischen Mitteln umzugehen sei und dass er mit Patrick Orth einen ebenso erfahrenen Kameramann an Bord geholt habe, schreibt Michael Stadler in der Abendzeitung (8.2.2021). Recht redundant reihe Clemens J. Setz die zahlreichen Dialoge mit ausländischen Telefonagenten aneinander. Und der Schauspieler? "Mit exakt gesetzten Stimmungswechseln verkörpert Bekim Latifi diesen C. als einen zwischen Mitleid erregender Bedürftigkeit und gefährlicher Impulsivität pendelnden Nerd."

Margarete Affenzeller vom Standard (9.2.2021) lobt die filmische Expertise dieser Produktion und schreibt: "Morina hat den Text radikal und zu seinem eigenen Vorteil gekürzt, hat dieser im Original doch Redundanzen und steckt voller Ausschmückungen, die es nicht braucht. Das Bühnensetting (Aleksandra Pavlović) dieser mikrokosmischen Isolationsstudie tut da mehr Wirkung als weitere Worte."

 

 

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