Die Ausgrabung - Regiestar Simon Stone philosophiert in einem Netflix-Melodram über die Vergänglichkeit.
Schimmernder Dunst über Sutton Hoo
von Stephanie Drees
10. Februar 2021. Über den Hügeln schwebt der Tod. Mal lauter, mal leiser macht er auf sich aufmerksam, er ist immer da, klopft mit dem Zeigefinger auf die Armbanduhr. Nebelverhangenes, britisches Hinterland. Aus den Radios drängen bedrohliche Nachrichten – der Vorabend des Zweiten Weltkriegs. Die ersten Militärflugzeuge donnern über Sutton Hoo, den Landsitz der wohlhabenden, todkranken Witwe Mrs. Edith Pretty (Carey Mulligan).
Dort befinden sich einige auffällig hohe, grasbewachsene Hügel. Insbesondere bei einem hat die blasse, von ätherischer Schönheit mehr gezeichnete als geschmückte Frau "so ein Gefühl". Sie will wissen, was unter dieser Erde liegt.
Also engagiert sie Basil Brown (Ralph Fiennes) – einen Mann, der sich selbst als "Hobbyarchäologen" bezeichnet, einen Ausgräber, einen gestandenen Zeitgenossen aus der Arbeiterklasse mit ehrlichem Ostküsten-Dialekt, ehrlichem Gesichtsausdruck und ehrlicher Rückenkrümmung. Zwischen der Dame aus der Oberschicht und dem Mann vom Lande knüpft sich ein zartes Band in den ersten Minuten ihrer Begegnung. Doch wie viele Chancen hat die Zartheit in dieser Zeit?
Die liebe Melancholie
Ach, ach. Die liebe Melancholie. "Die Ausgrabung" ist ein Melodram in Reinform, Bilder in Braun- und Ockertönen, sepiagefärbte Vergänglichkeit. Wo die Vergänglichkeit ihren großen Auftritt hat, da wird über sie gesprochen. Oder in Bildern über sie nachgedacht, deren Subtilität kaum zu überbieten ist: Zu Beginn seiner Arbeit wird Basil Brown von einer Erdlawine verschüttet, Mrs. Pretty und ihr Hauspersonal graben ihn mit bloßen Händen wieder aus. Aus der Vogelperspektive filmt die Kamera den Freigelegten in Embryonalhaltung. In einer anderen Szene fällt Licht auf das Gesicht der in Dunkelheit vor sich hin siechenden Witwe, die Dialoge einer vor sich hin siechenden Ehe liegen als Audio-Spur darüber. Basil Brown hat zeitgleich Besuch von seiner Frau. Sie stehen vor dem noch nicht allzu tiefen Erdloch.
Auf diese Weise werden einige Szenen miteinander verschnitten. Das wäre auf handwerklicher Ebene keine schlechte Idee, wenn diese nicht für die immer gleiche Botschaft herhalten müsste: Es gibt kein Entrinnen, allen läuft die Zeit davon – was wir bewahren können, was überdauern kann, ist die Menschlichkeit. Und ihr Ausdruck in der Kultur.
Ein Schatz aus dem 7. Jahrhundert
Der australisch-schweizerische Theater-Regisseur Simon Stone hat den Film für Netflix inszeniert. Er basiert auf einer wahren Begebenheit: Der Fund von Sutton Hoo ist eine der Sensationen der jüngeren Archäologie-Geschichte. Im Sommer 1939 wurde in dem kleinen Ort Suffolk an der britischen Ostküste das Skelett eines Schiffes aus dem siebten Jahrhundert entdeckt. Das Grab eines angelsächsischen Königs, mitsamt Münzen, Silbertellern, Fragmenten eines Prunkhelmes. Heute zählt der Fund zu den großen Attraktionen im British Museum. Stone bezieht sich vor allem auf den Roman des britischen Kulturjournalisten James Preston, Neffe einer an den Ausgrabungen beteiligten Archäologin: Peggy Piggott.
Simon Stone ist wohl das, was man ohne große Übertreibung einen Theaterregiestar nennen kann. Ein smarter, mit Preisen überhäufter Mittdreißiger, der gerne große, teils mythische Stoffe verdampft – mit viel Verve und einem Meta-Realismus, der das spätkapitalistische, reale Gesellschaftstheater karikiert. "Überschrieben" werden dann die Dialoge zum Beispiel bei Tschechows Drei Schwestern. Mit Texten aus der Jetztzeit, während der Proben am Theater Basel gemeinsam mit dem Ensemble entwickelt. Keine depressiven Figuren, die vor sich hin schwadronieren. Sprache wird hin und her geworfen, teils rau, gleichermaßen suchend und verloren.
Very britische Zurückhaltung
Das sind Aktualisierungen, die oft gelingen und auf den Handlungsinseln mächtiger Bühnenbilder ihre Wirkung erzielen: das große, gläserne Ferienhaus bei Tschechow, ein überdimensioniertes Puppenheim bei Hotel Strindberg am Burgtheater Wien, 2019 zum Berliner Theatertreffen eingeladen. Stoffe gegenwärtig machen, Schalen von Werken knacken, wirkungsstarkes Schauspieler-Theater bauen, das Kunst ist und gleichzeitig gut konsumierbar – das sind die großen Stärken von Stone.
Interessanterweise konnte der Regisseur für die "Die Ausgrabung" fast alle dieser Qualitäten ignorieren. Für die Netflix-Produktion hat er eine geplante Premiere am Residenztheater in München verschoben, da gab's etwas Ärger. Gut, es winkte die Arbeit mit einem Ralph Fiennes, einer Carey Mulligan. Beide benutzen ihr schauspielerisches Können. Blicke, Gesten, very britische Zurückhaltung. Erzählen mit dem Körper. In gewisser Weise rettet dieses Können "Die Ausgrabung" vor der Kitsch-Totalversenkung.
Pandemie-Synapsen-Wärmer
Stiltisch ist hier vieles bemerkenswert anachronistisch: britische Landschaftspanoramen, dramatische Klaviermusik im Hintergrund, Starkregen, verwehte Haare, verwehte Träume. Stellenweise wirkt das wie eine filmische Reise zu Historienfilmen der neunziger Jahre. Zugutehalten muss man diesem Pandemie-Synapsen-Wärmer, dass er den einfachsten Weg der Wege dramaturgisch nicht geht: Mrs. Pretty und der wackere Ausgräber vereinen sich nur in keuscher Kulturliebe. Das Bett bleibt kalt. Problem dabei: Sieht man sich den Nettoertrag der Story an, müsste der Film halb so lang sein, was insbesondere das letzte Drittel arg ausdehnt.
Neben einigem Hickhack mit hochnäsigen Dudes vom British Museum, die den ausgegrabenen Schatz für sich beanspruchen und Browns Leistung schmälern wollen, muss sie also doch noch kommen, die leicht klebrige Liebesgeschichte. Wenn auch zur Verfügung gestellt von zwei anderen Figuren. Praktischerweise sind die aber auch ungestümer und haben leidenschaftlichen Outdoor-Sex. Was soll man auch anderes tun?
Über den Hügeln schimmert der Dunst von Memento Mori.
Die Ausgrabung
Originaltitel: The Dig
nach dem gleichnamigen Roman von James Preston
Regie: Simon Stone, Drehbuch: Moira Buffini, Produktion: Gabrielle Tana, Carolyn Marks Blackwood, JMurray Ferguson, Ellie Wood, Musik: Stefan Gregory, Kamera: Mike Eley, Schnitt: Jon Harris
Mit: Carey Mulligan, Ralph Fiennes, Lily James, Johnny Flynn, Ben Chaplin, Ken Stott, Archie Barnes, Monica Dolan, Stephen Worrall, Robert Wilfort, Joe Hurst, Paul Ready
Produktionsländer: Vereinigtes Königreich, Vereinigte Staaten
Originalsprache: Englisch Erscheinungsjahr: 2021
Dauer: 1 Stunden 52 Minuten
www.netflix.com
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