Willkommen im Zeitalter der seltenen Erden, Ihr Kackbratzen!

von Elena Philipp

Berlin / Online, 12. Februar 2021. Die Schöpfung beginnt auf der Hinterbühne. Ratzfatz geht sie voran, noch bevor der Abend richtig beginnt: Textbuch zwischen die Zähne geklemmt, Handtasche übers Handgelenk, das Chaos gelichtet, die Erde in den Raum gehängt und die Gebirge aufgetürmt: "Stille! Was ist das hier für ein permanentes Hintergrundgemurmel?", raunzt Katja Gaudard als Gott in die letzten Handgriffe vor Vorstellungsbeginn. "Ich versuche etwas zu erschaffen." Goldenes Zeitalter, bam! Zeugung des Menschen – zack! Und schon stürzen die Spieler*innen durch eine Schwingtür auf die Vorderbühne: Das Spiel nimmt seinen Lauf.

Im Separée der Erzählerinnen-Götter

Als episches Tanz-Musik-Theater mit sieben Spieler*innen und drei Musikern bringt Claudia Bauer an der Volksbühne Berlin "Metamorphosen [overcoming mankind]" zur digitalen Premiere. Ovids antikes Mythen-Mash-up bietet die Grundlage für einen narrativen Sturzflug durch die Historie unserer Spezies: Erd-Erschaffung, Goldenes, Silbernes, Ehernes, Eisernes Zeitalter ziehen in einer atemlosen Szenenfolge vorbei, vorlagengemäß geschildert als ein fortschreitender Verfall, in dessen Verlauf sich Homo sapiens von Treu und Redlichkeit ab- und Gier und Gewalt zuwendet.

Auf der Hinterbühne berichtet jeweils ein*e Erzähler*in die Ovid'schen Geschehnisse – unterwegs zwischen Sitzgruppe, Garderobenständer und Kulissenteilen, den Blick direkt in die bewegliche Kamera gerichtet, welche den Sprecher*innen nah zu Leibe rückt. Dieses Bild wird auf einen Screen über der Bühne projiziert. Auf der Vorderbühne agieren derweil die übrigen Spieler*innen das Erzählte choreographisch-pantomimisch aus. Gefilmt wird vorne aus der Totalen und mit zwei zoombaren Kameras von den Seiten. Claudia Bauers "Metamorphosen" sind eine Hybrid-Inszenierung par excellence, die eins zu eins in den Live-Betrieb übernommen werden kann.

Metamorphosen 4 560 JulianRoeder uOvid mal anders: Katja Gaudard steuert den Minotaurus © Julian Röder

Götterwelt und Erdenrund sind dabei klar getrennt. Nur einmal verlässt Katja Gaudard das Separée der Erzählerinnen-Götter, deren Worte die gesichtslos maskierten Figuren auf der Spielfläche steuern. Mit Zigarre, schwarzem Leotard und gestreiften Pumps stöckelt sie die Rampe entlang, den Mythos von Daphne und Apoll herunterschnoddernd. Daphne hackt unterdessen hinter ihr derart auf eine Torpedo-Schreibmaschine aus Pappe ein, dass Apoll, ein Manager im weinroten Zweiteiler, auf seinem Chefsessel zuckt wie von Stromstößen durchpeitscht. Den Rhythmus gibt der Krautpop-Jazz-Ska-Sound vor, mit dem Akkordeonist Valentin Butt, Kontrabassist Andrew Krell und Posaunist Andrej Ugoljew der gesamten Inszenierung Energie verleihen.

Die blutigen Abgründe unserer Narrative

Am narrativen Wegesrand türmen sich derweil die Opfer, so wie in Ovids Proömium die Berge – Daphne, Syrinx, Phaeton, Narziss, you name 'em. Bevor mensch den im Titel versprochenen Versuch der eigenen Überwindung starten kann, schicken Claudia Bauer & Co. ihn*sie noch einmal durch die blutigen Abgründe unserer seit zweitausend Jahren eingeübten Erzählkultur. Philomela wird von ihrem Vergewaltiger, dem Mann ihrer Schwester Procne, verstümmelt; die Schwestern rächen sich, indem sie Tereus seinen eigenen Sohn als Mahl servieren.

Metamorphosen 1 560 JulianRoeder uMacht-Kampf-Tango, in dem die Frauen unterliegen. © Julian Röder

Ob ein Que(e)ren der Genderzuschreibungen die allzu illustrative Verdoppelung der erzählten Gewalt hier vermindert hätte? In der Szene, in der Actaeon Diana nachstellt, wird der junge Jäger von den vier Spielerinnen Katja Gaudard, Amal Keller, Emma Rönnebeck und Teresa Schergaut verkörpert. Sie parodieren den Sexismus der antiken Sage, indem sie an ihren Hosenschlitzen nesteln und die Reißverschlüsse als Rhythmusinstrumente einsetzen, während Malick Bauer in der eigens hereingerollten Dusche die blonde wet-dress-Schönheit spielen muss.

Anders als Daphne behält die Jagdgöttin die Oberhand und verwandelt Actaeon in einen Hirsch, der von seinen eigenen Hunden zerrissen wird. Eine Ausnahme im sonst klaren Machtgefälle: Wer weiblich ist, hat Pech gehabt. Den Mythos von Thetis, die sich selbst als Gestaltwandlerin nicht der Zudringlichkeiten des Peleus erwehren kann, begleitet eine Aufzählung geschändeter Frauen – von A bis Z einmal durchs Alphabet.

Die große Transformation

Für ihre kommentierende Aktualisierung der "Metamorphosen" ziehen Claudia Bauer & Co. etliche Text-Kompliz*innen herbei, darunter Margaret Atwood, John von Düffel und Thomas Köck sowie Wolfram Lotz und Hannes Becker. Auch die Regisseurin und ihr Ensemble steuern Texte bei: Völlig überdrehte Verschwörungstheoretiker*innen erträumen sich ein Neues Goldenes Zeitalter, in dem sie "die große Mission" namens "C:Ovid-19" beenden. Donna Haraways tentakuläres Denken steht in einem Medusa-Monolog von Emma Rönnebeck gedanklich Patin für die große Transformation: Genealogien sind perdu, diese ganzen Abstammungsmythen und Halbgöttereien. Warum das ängstigend Fremde nicht freundlich begrüßen, statt gleich dreinzuschlagen? Anthropozän und Kapitalozän – "Willkommen im Zeitalter der seltenen Erden, Ihr Kackbratzen" – gelte es zu überwinden.

Metamorphosen 3 560 JulianRoeder uGräuel-Geschichten nach Ovid: der Hirsch, zur Zerfleischung freigegeben © Julian Röder

Der Schluss feiert die Katharsis. Nach einer apokalyptischen Sintflutszene öffnet sich das Rund des Bühnenhorizonts, und noch am Bildschirm spürt man den Sog des riesigen Raumes. Ausgelassen tanzt das Ensemble den "Zustand ereignisloser ewiger Euphorie", zwischen sperrhölzernen Cäsaren – den überlebensgroßen Konterfeis von Volksbühnen-Ex-und-in-spe-Intendanten wie Frank Castorf, Chris Dercon oder René Pollesch. "Es ist nicht, wie es ist! Es ist, wie wir wollen, dass es wird!", lautet der im Programmheft mit Wolfram Lotz' "Rede zum unmöglichen Theater" verkündete Giganten-Auftrag: Ein neues Narrativ muss her. Ein zeitgemäßes Sequel zu den "Metamorphosen", die Schöpfung 2.0.

 

Metamorphosen (overcoming mankind)
nach Ovid & Kompliz*innen
Regie: Claudia Bauer, Bühne: Andreas Auerbach, Kostüme: Patricia Talacko, Dramaturgie:, Musikalische Leitung: Hubert Wild, Video: Jan Isaak Voges, Sounddesign: Alexandra Holtsch, Dramaturgie: Daniel Richter, Elif Sözer.
Mit: Malick Bauer, Katja Gaudard, Amal Keller, Mathis Reinhardt, Emma Rönnebeck, Teresa Schergaut, Hubert Wild; Musiker: Valentin Butt, Andrew Krell, Andrej Ugoljew.
Digitale Premiere am 12. Februar 2021
Dauer: 2 Stunden, keine Pause

www.volksbuehne.berlin


Kritikenrundschau

"Klassisch? Eher volksbühnenklassisch. Bauer steckt Ovids Mythensammlung in einen musikalisch durcharrangierten Mix aus Stil-, Gesten- und Bildzitaten, die den Bogen von Herbert Fritsch über Christoph Marthaler und Vegard Vinge bis zu Frank Castorf schlagen", so Doris Meierhenrich in der Berliner Zeitung (13.2.2021). Etwas überraschend sei diese Retrospiel schon, handelt es sich bei der Vorlage doch um den Urtext der Schöpferkraft und der  Wandlungsfähigkeit. Konsequent aber sei es auch.


"Verblüffend ist, dass die Parallelführung zwischen den 'Metamorphosen' von Ovid, die ja doch im weit entferntem Gelände zwischen Menschen, Göttern, Nymphen und Dämonen spielen, und Texten, die auf die zerstörenden Kräfte des Kapitalismus, die Ausbeutung der Ressourcen und auch auf eine unheilvolle Seuche anspielen, kaum aufgesetzt wirkt", schreibt Katrin Bettina Müller in der taz (14.2.2020). Im Text werde "das Humane in den Humus verwandelt und vom tentakulären Zeitalter geredet, in dem die Verwandtschaft zwischen Tier und Mensch nicht mehr hierarchisch angeordnet ist."

"Am Krisenherd unserer Zeit" koche Claudia Bauer "ihren Mytheneintopf", schreibt Christine Dössel in der Süddeutschen Zeitung (28.2.2021). "Klimawandel, Ressourcenausbeutung, Kapitalismus, Geschlechterkrise, Corona: alles verarbeitet in einem toxischen Sud, dessen Grundzutaten Ovids 'Metamorphosen' sind." Bauer greife sich vor allem jene Verwandlungsgeschichten aus dem umfangreichen Werk, die von toxischer Männlichkeit und sexueller Gewalt gegenüber Frauen erzählten. Ihr "Abgesang auf die Menschheit in Form einer grotesk expressiven Nummernrevue" sei auch einer auf die alten Volksbühnen-Götter: "Das ist auch ein bisschen Ikonenschändung und Anti-Geniekult-Satire und kulturelle Appropriation einer endlich mal in diesem Männertheater Regie führenden Frau." So frech der Gestus, so angestrengt und ermüdend sei er aber auch, bemerkt die Kritikerin. "Seine Stärken hat dieses Mythen- und Zitatenkabarett dort, wo es selber etwas zu sagen und zu fragen hat", etwa in den Verschwörungsszenen um "C:Ovid-19" oder um Donna Haraways tentakuläres Denken.

 

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