Während wir wedeln

von Wolfgang Behrens

16. Februar 2021. Jetzt, da es fast zehn Jahre her ist, schaue ich anders auf diese Szene. Damals erlebte ich sie wie im Rausch, mit einem Mal war es egal, ob ich Kritiker oder Zuschauer war, ein Moment des Dionysischen bemächtigte sich meiner und ich war, ja – ich benutze ein großes Wort: Ich war glücklich. Seitdem habe ich die Situation einige Male geschildert (wenn auch nie in schriftlicher Form), trotzdem ist die Erinnerung an das so unmittelbar und eindringlich Erlebte langsam schwächer geworden. Aber erste heute, um die Erfahrung einer Pandemie reicher – darf man in diesem Zusammenhang von reicher reden? –, erst heute erscheint mir die Szene als eine große Metapher.

17 Kolumne behrens k 3PEs wird gegen Mitternacht oder später gewesen sein – seit 18 Uhr war ich Gast bei einer der mittlerweile legendären zwölfstündigen "John Gabriel Borkman"-Performances von Vegard Vinge und Ida Müller im Prater der Berliner Volksbühne. Der Theaterraum dampfte und schwitzte, man hatte unendlich währende Loops von wilsonesken Handlungen gesehen, zwischendurch aber war immer wieder ein Irrwisch erschienen, unter dessen Maske man Vinge vermutete und der sich wahlweise in den Mund pinkelte, mit seinen Exkrementen spielte oder auf andere Weise das Publikum in Angst und Schrecken versetzte. Die Luft im Saal war zum Schneiden stickig, unverkennbar hing der Geruch von Alkohol, Schweiß und Ausscheidungen in der Luft.

Dann wurde es plötzlich laut. Auf ohrenbetäubende Weise fuhr die Ouvertüre zum "Fliegenden Holländer" auf uns nieder, gleichzeitig erschienen auf der Bühne jede Menge als Skelette kostümierte Gestalten mit Donnerblechen, die sie als große Fächer einsetzten, Windmaschinen wurden in Gang gesetzt, Vorhänge wehten, und auch das Publikum wurde gestisch dazu aufgefordert, mit allem Verfügbaren – Tüchern oder Kleidungsstücken – einen Luftstrom zu erzeugen. Also erhoben wir uns von unseren Bänken und wedelten mit Pullovern und Jacken, und das kaum Vorstellbare geschah: Unter den Klängen Wagners entstand im Saal ein gemeinschaftlich erzeugter Sturm, der alle Ausdünstungen nach draußen zu wirbeln schien und uns ein paar Augenblicke kollektiver Ekstase schenkte.

Die Vertreibung der Aerosole

Diese Szene könnte heute so nicht mehr stattfinden. Ihre dionysische Grundierung setzte die körperliche Nähe von Zuschauern und Performern voraus, das Schwüle und Atemnehmende, das sozusagen Ungelüftete war wesentlicher Teil der Situation. Und doch scheint die Szene ganz wunderbar die jetzige Lage zu illustrieren, denn wir haben damals im Grunde nichts anderes gemacht, als mit einer großen, zugegebenermaßen auch berauschenden Anstrengung Aerosole aus dem Raum zu jagen. Heute könnte über dem Bild von damals stehen: Die Austreibung der Krankheit.

Man könnte mit diesem Bild auch einen guten Teil der derzeitigen Gesellschaft beschreiben: Da stehen überall Leute mit Donnerblechen oder Pullovern, die eine Krankheit namens Corona wegwedeln wollen. Und während wir wedeln (oder still danebensitzen), hoffen wir darauf, dass es danach weitergeht, zum Beispiel mit dem Theater. Was aber wäre, wenn wir damals die Aerosole gar nicht verscheucht, sondern nur im Saal verteilt hätten? Und was wäre, wenn die Zeit nach Corona gar nicht kommt?

In der letzten Ausgabe der "Zeit" standen Sätze, deren zumindest möglichen Realitätsgehalt man nur allzu gerne verdrängen würde: "Was sollen wir sagen, wenn unser Versprechen des Vorübergehenden endgültig zerstieben sollte, wenn es doch noch so kommt, wie man es sich von Anfang an hätte denken können: Das ist keine Pandemie, wie sie die Menschheit immer mal wieder erlebt, sondern der Beginn einer pandemischen Phase, wie sie die Menschheit bisher noch nicht kannte."

Eine schlimme Ahnung

Gestern am Rosenmontag waren sich alle sicher: Im nächsten Jahr kütt de Zoch wieder ganz normal. Und wir im Theater sind uns sicher, dass wir die Zuschauerräume demnächst wieder mit 100 Prozent Auslastung füllen können und ins Spielen kommen: Darauf zielen ja schließlich alle Versprechungen der Politik. Wie aber sollen diese Ziele denn erreicht werden? Momentan dreht sich alles darum, Inzidenzwerte unter 50, 35 oder 20 fallen zu lassen, Virus-Mutationen in Schach zu halten und die Impfungen voranzubringen. Im Grunde ahnen aber alle, dass die Inzidenzen auch wieder steigen werden, dass sich die Mutationen tatsächlich gar nicht in Schach halten lassen und – was am Schlimmsten wäre – dass es in absehbarer Zeit Mutationen geben wird, vor denen die Impfungen nicht schützen. Was dann?

Alle warten auf die Zeit nach Corona. Auch alle am Theater warten auf die Zeit nach Corona. Wenn sich das Virus aber nicht einfach wegwedeln ließe, dann müsste man langsam auch darüber nachdenken, was es hieße, mit Corona zu leben. Und mit Corona Theater zu machen. Oder soll man sich darauf verständigen, dass es sich mit dem Theater in der "pandemischen Phase der Menschheit" endgültig erledigt hat?

Ehrlich gesagt, habe ich große Angst davor, dass Erlebnisse wie das oben beschriebene im Theater nicht mehr möglich sein werden. Das Dionysische gehört schließlich nicht nur zur DNS des Theaters, es gehört auch zur Grundverfasstheit des Menschen. Wenn Corona bleiben sollte – und manches deutet darauf hin –, dann sollten wir so schnell wie möglich aus unserer Lockdown-Starre kommen und Konzepte entwickeln, wie der Mensch und Corona koexistieren können. Oder, wem diese Aufgabe für den Anfang zu groß erscheint: wie Theater und Corona koexistieren können. Das wird schwierig genug.

 

Wolfgang Behrens, Jahrgang 1970, ist seit der Spielzeit 2017/18 Dramaturg am Staatstheater Wiesbaden. Zuvor war er Redakteur bei nachtkritik.de. Er studierte Musikwissenschaft, Philosophie und Mathematik in Berlin. Für seine Kolumne "Als ich noch ein Kritiker war" wühlt er unter anderem in seinem reichen Theateranekdotenschatz.

 

In seiner vorherigen Kolumne beschäftigte sich Wolfgang Behrens mit Fantum unter Kritiker*innen.

 

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Kommentare  
Kolumne Behrens: erschreckend
Großartiger, wenn auch erschreckender Artikel! Bereit sein ist alles, um wieder mal Hamlet zu zitieren...
Kolumne Behrens: dringlich
Danke für diesen Text! Es ist an der Zeit, dass die Theater sich grundsätzlich fragen, was sie noch sein können unter veränderten Umständen statt lieblos bloß Legitimationen des letzten Jahrtausends zu wiederholen oder eifrig das nächste Bestentreffen zu organisieren. Die Reaktionsgeschwindigkeiten der Institution ähneln inzwischen der katholischen Kirche.
Kolumne Behrens: Die Politik ist gefragt
Es ist aber nicht nur die Institution Theater gefragt, die schon (jedendfalls einige) eine Menge geleistet hat, um wieder etwas anzubieten. Es ist auch die Politik gefragt, den Theatern Freiräume zu schaffen. Und die Flexibilität der Politik näher sich auch der katholischen Kirche an.
Kolumne Behrens: Einer spricht es aus
Einer spricht es aus: Der Kaiser ist nackt!
Kolumne Behrens: Änderung
bei allen Portalen klicke ich auf die Überschrift und dann der Artikel erscheint. Hier muss man immer den Autor suchen. Könnte/sollte man das nicht ändern?
mit herzlichen Grüßen

Der Behrens-Artikel ist klug und gut!

(Danke, wir greifen die Anregung auf. Nur angemerkt: die Fotos führen auch auf den Text wie üblich sind sie verlinkt. nachtkritik-Redaktion / sik)
Kolumne Behrens: Befindlichkeiten
Wie schön, wenn man als Kolumnist einfach mal die eigenen Befindlichkeiten breit ausmalen kann, ohne sich über größere Zusammenhänge oder Konsequenzen kümmern zu müssen. Jenseits dessen, wir befinden uns immer noch in einer Pandemie, Menschen sterben, und die Verantwortlichen müssen die Lage wohl etwas komplexer betrachten.
Kolumne Behrens: Vermiedenes
@6 Christoph
Ich kann mich nicht erinnern, behauptet zu haben, dass wir uns nicht mehr in einer Pandemie befänden. Im Gegenteil: Ich habe sogar auf die Möglichkeit hingewiesen, dass die Pandemie mit den Impfungen nicht vorbei sein könnte. Ob die Verantwortlichen diese Möglichkeit in ihre Überlegungen einbeziehen, vermag ich nicht zu beurteilen; was man aber sagen kann, ist, dass sie es vermeiden, von ihr zu sprechen.
Kolumne Behrens: die Pandemie wird weichen
Einspruch euer Ehren: Der Spuk wird enden, diese Pandemie wird weichen. Das Theater wird zurückkehren. Und mit ihm Nähe, Begegnungen und ja, auch kollektive Ekstase, wenn man die denn sucht. Haltet durch!
Kolumne Behrens: was ist die Idee?
@7 Wolfgang Behrens
Ja, aber was bedeutet das denn nun? Theater einfach wieder aufmachen, weil die Pandemie mit den Impfungen nicht vorbei sein könnte? Konsequenzen ausblenden? Wie sieht denn Ihre Idee aus für ein Theater, das auf Körperausdünstungen nicht verzichten mag, aber unter Pandemie-Bedingungen funktionieren soll? Abseits dieser gefühligen Anekdote, die irgendwie vage ein Plädoyer für Theater trotz allem zu sein scheint, trägt dieser Text leider sehr wenig zur Debatte bei.
Kolumne Behrens: andere Einschätzung
@Wolfgang Behrens: "Und wir im Theater sind uns sicher, dass wir die Zuschauerräume demnächst wieder mit 100 Prozent Auslastung füllen können und ins Spielen kommen". Äh, ich kenne nicht einen vernünftigen Menschen, der davon ausgeht, dass das demnächst möglich sein wird, sorry.
Kolumne Behrens: Todes-Ekstase
Es ist sicher, dass das Virus einmal verschwindet. Der böse Spuk dieser Todesandrohung wird einmal enden und die Pandemie wird weichen! Diese Pandemie ist eine Todes-Ekstase. Menschen sterben, Menschen leben. Können
wir uns an diese pandemische Phase der Menschheit gewöhnen? Alle hoffe, dass sie nicht zu lange dauern möge. Wie wird es damit zukünftig werden?
Der Kummer, der nicht spricht, nagt leise an uns allen. Was wird der Rest sein? - doch nicht Schweigen!
Kolumne Behrens: unterkomplex
Ich sehe das ähnlich wie Christoph (#9). Wohin soll uns die gefühlige Anekdote in Kombination mit ahnungsvoll-pessimistischem Raunen in diesem Artikel führen?
Die Struktur bzw. Argumentation des Artikels ist folgende: 1. Nähe ist absolut essenziell für Theater. 2. Nähe ist in der Pandemie nicht mehr möglich. 3. Die Pandemie geht vermutlich nie mehr vorbei. 4. Überlegt Euch eine Lösung für diese Quadratur des Kreises!
Ich empfinde das leider als einen nicht gerade zielführenden und sehr unterkomplexen Beitrag zur Debatte.
Kolumne Behrens: Kultur ist Lebensrecht
Ich bin dafür, dass die Theater mit klugen und handhabbaren und effektiven Infektionsschutzmaßnahmen eröffnen und offen bleiben. Sofort.

Wer sich nicht infizieren möchte, muss nicht ins Theater gehen! Sie/er darf daheim auf Bildschirme schauen.

Kultur ist Lebensrecht. Begegnung statt Isolation! Statt vor einem Virus habe ich langsam Angst vor der Bundestagswahl.
Kolumne Behrens: Schnelltests
@9 u. 12 Christoph u. Gast
Ich maße mir nicht an, eine Rezeptur für die Quadratur des Kreises zu besitzen. Aber wenn die Möglichkeit besteht, dass die Pandemie nicht so ohne weiteres verschwindet, dann müssen wir dringend aus dem Kreislauf "Lockdown, die Zahlen sinken ==> Lockdown aufgehoben, die Zahlen steigen ==> Lockdown" ausbrechen, denn so lässt sich auf Dauer weder leben noch ins Theater gehen (wobei ich "ins Theater gehen" als echte Teilmenge von "leben" begreife). Dass Herr Spahn nun massenhafte Schnelltests gefordert hat (spät genug!) zeigt, glaube ich, in die richtige Richtung. Wir müssen die Risiken minimieren und Zonen relativer Sicherheit schaffen. Wenn im Theater (oder an anderen öffentlichen Orten) sowohl die Mitwirkenden als auch die Zuschauer*innen auf Schnelltests verpflichtet würden, wäre schon einiges an Sicherheit gewonnen.
Kolumne Behrens: Lebensatem
Kultur ist Lebensatem, und man muss atmen können um zu leben!
Man muss nicht ins Theater gehen (die Angst, die Angst!)
und kann daheim auf dem Bildschirm Theater glotzen!
Kolumne Behrens: Kessel Buntes
Was für eine schreckliche Vorstellung 8h Stunden ein Kessel Buntes von Wagner bis Exkrementen, und dann auch noch gemeinsames wedeln, ich habe Mitmachtheater schon immer gehasst!! Bitte lasst mich doch einfach nur zuschauen, was für ein schöner Vorgang!! Insofern vielen Dank für die Kolumne, sie zeigt mir einen positiven Ausgang der kommenden pandemischen Normalität auf, der Platz, besser noch zwei Plätze neben mir bleiben leer, und ich muss nie mehr wedeln, im Takt klatschen oder ganz schlimm, Schauspieler auf meinem Schoß ositzen lassen, dafür gibt es dann hoffentlich die getesteten „Freiräume“, und die dürfen sich dann auch nicht mehr als Theater verkleiden.
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